Von Jujuy bis Ushuaia – die Avenidas “9 de Julio”

Die deutschen Fotografinnen Lucia Tollens und Nina Gschlößl stellen im Teatro de la Ribera aus

Von Mirka Borchardt

Die Avenida 9 de Julio in Buenos Aires ist, so behaupten zumindest die Argentinier, die größte Straße der Welt. Ob das stimmt oder bloßes Produkt der argentinischen Tendenz zur Megalomanie ist – die Straße fasziniert. Sie führt mitten durch das Zentrum der Hauptstadt, man braucht mindestens zwei Ampelphasen, um sie zu Fuß zu überqueren, und sie verbindet solche unterschiedlichen Welten wie das Teatro Colón und das Viertel Constitución. Ganz Buenos Aires in einem Straßenzug.

Lucia Tollens und Nina Gschlößl inspirierte die Straße zu einem Projekt, für das sie am Ende tausende von Kilometern zurücklegten, mehr als ein Dutzend Städte besuchten und mehrere tausend Fotos aufnahmen. Die beiden sind Fotografiestudentinnen von der Folkwang Universität der Künste Essen, im letzten Jahr studierten sie an der Escuela Argentina de Fotografía in Buenos Aires. “Die 9 de Julio in Buenos Aires hat uns von Anfang an angezogen”, sagt Nina. “Deswegen haben wir angefangen, zu recherchieren und uns fiel auf, dass es fast in jeder Stadt, in jedem Dorf in Argentinien eine Straße oder Avenida 9 de Julio gibt.” So entstand die Idee für ein gemeinsames Fotoprojekt über die Straßen Argentiniens, die nach dem nationalen Unabhängigkeitstag benannt sind.

Die beiden machten sich auf die Reise, zuerst in den Süden, von El Calafate bis nach Ushuaia, dann in den Norden: La Rioja, Salta, Jujuy. In Córdoba fotografierten sie zwei volle Tage lang, ohne das Ende der kilometerlangen Straße zu erreichen. In Tucumán fanden sie sich auf der Suche nach der “9 de Julio” plötzlich in einer Villa Miseria, in einem der Armenviertel wieder. In La Rioja wurde Lucia gleich von fünf Straßenpolizisten zu ihrer Arbeit befragt. Von ihren Erlebnissen auf der Reise könnten sie ein Buch schreiben.

“Am spannendsten war es, die Unterschiede zu sehen, vor allem zwischen dem Süden und dem Norden”, sagt Lucia. “Speziell, was die Architektur und die Farben betrifft.” Doch geht es bei der Arbeit ganz und gar nicht darum, eine Aussage über die Wirklichkeit zu treffen. “Es ist ein Vergleich”, sagt Nina, “aber ohne dass wir behaupten, dass die Stadt so ist, wie sie auf dem Foto erscheint. Das, was man sieht, entspricht unserem ganz subjektiven Blick.” Sie habe versucht, vor dem Fotografieren auf Null zu schalten, um nicht mit Erwartungen und Stereotypen an die Arbeit zu gehen, ergänzt Lucia. “Was nach 15 Städten dann irgendwann schwierig wird”, gibt sie zu.

Der Balanceakt, einerseits nicht zu sehr auf Klischees hereinzufallen und andererseits Stereotypen nicht zu gewollt zu vermeiden, ist ihnen gelungen. Das Buch, das sie schließlich präsentierten – ein erstes Ergebnis ihrer Arbeit – lässt keine verallgemeinernden Aussagen zu. Es ist eine Zusammenstellung von Eindrücken, kein fotografischer Reiseführer. Ohne Bildunterschriften verführt es nicht dazu, die Städte erraten zu wollen, es ist kein “Abhaken”, wie Nina es treffend beschreibt.

In ihrer Ausstellung, die momentan im EspacioFotográfico im Teatro de la Ribera im Stadtviertel La Boca in Buenos Aires zu sehen ist, ist das zwar anders – hier steht unter jedem Foto die Ortsangabe -, doch tut das dem Ganzen keinen Abbruch. Denn man merkt sofort: Hier geht es nicht darum, festzustellen, dass die Häuser von El Calafate reicher ausschauen als die in Cafayate (Salta). Hier geht es um einen kleinen lila Fleck aus Blütenblättern vor einer großen Wand aus grüner Hecke, hier geht es um Kabel, die die Bilder in geometrische Formen teilen, hier geht es um einen kleinen schwarzen Punkt (Hund) auf grauer Fläche (Straße).

Die wissenschaftliche Herangehensweise, die komparatistische Methode – man nehme sich ein Kriterium, das vielen verschiedenen Entitäten gemeinsam ist und untersuche es auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede – ist hier bloß ein Gerüst, ist bloß Mittel, nicht Zweck. Zweck ist die – per definitionem zwecklose – Kunst. Den haben Nina und Lucia erfüllt.

Die Ausstellung ist noch voraussichtlich bis Ende November zu sehen im EspacioFotográfico des Teatro de la Ribera (Av. Pedro de Mendoza 1821, La Boca, Buenos Aires), dienstags bis sonntags 10-20 Uhr, montags 10-17 Uhr.

Foto:
Jujuy oder Salta? Um diese Frage geht es nicht.

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