Erinnerung, Kunst – und Tourismus
Im “Parque de la Memoria” in Buenos Aires am Ufer des Río de la Plata wird auf dem Weg über die Kunst der Opfer der Militärdiktatur gedacht
Von Susanne Franz
Die Bäumchen, die vor 10 Jahren im “Parque de la Memoria” gepflanzt wurden, sind noch klein und spenden keinen Schatten. Die Sonne knallt unbarmherzig auf den Besucher nieder, der sich dem “Monumento a las Víctimas del Terrorismo de Estado” nähert, der Gedenkstätte, die an die Verschwundenen der letzten argentinischen Militärdiktatur erinnert. Es handelt sich um vier Stelen-Mauern, die in einem Zickzack angeordnet sind. Die Architektur soll an eine klaffende Wunde erinnern, so wie die Geschehnisse des Staatsterrors für das Land immer noch eine offene Verletzung darstellen. Dieses Mahnmal ist bewusst unbequem, dem Besucher wird es nicht leicht gemacht, sich in ihm und an seinen Mauern entlang über den gleißenden Asphalt der Rampen zu bewegen. Das Monument will kein angenehmes Erinnern ermöglichen, sondern verkörpert den Horror, auf den es aufmerksam macht. Es zieht den Besucher hinein ins Geschehen.
Die vier ca. 2 Meter hohen Mauern bestehen aus 30.000 übereinander und nebeneinander angeordneten Steinplatten, jede etwa 40 cm breit und 7 cm hoch. 30.000 ist eine hochgerechnete Zahl der während der Militärdiktatur Verschwundenen, konkret sind in dem Mahnmal bisher fast 9000 Namen von Menschen verewigt, über deren Verschwinden es Zeugnisse gibt. Es kommen Schritt für Schritt neue hinzu, das Monument ist ein lebendiges, in Bewegung begriffenes Mahnmal, wie auch der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gesellschaft nur sehr langsam vonstatten geht. Die Namen der Opfer des Staatsterrors sind in die einzelnen, aus Pórfido-Stein bestehenden Platten eingraviert – mit dem Pórfido wurde bewusst ein aus Argentinien stammendes Gestein ausgesucht. Die Gravur ist als Relief gearbeitet, so dass man den Namenszug berühren kann. Es gibt keinen Namen, der so hoch läge, als dass ein ca. 1,60 m großer Mensch ihn nicht mit ausgestrecktem Arm erreichen könnte.
Viele Kinder und Jugendliche kommen während des Schuljahres mit ihren Klassen in den Park, um das Monument zu besuchen, für sie ist es besonders schockierend zu sehen, dass viele der Verschleppten und Ermordeten gerade mal so alt waren wie sie – dass das Alter 14, 15 oder 16 neben einem der Namen steht, ist keine Seltenheit. Auf schwangere Frauen wird extra hingewiesen, neben ihren Namen und ihrem Alter steht “embarazada”.
Die erste Stelen-Mauer umfasst die Jahre 1969-1976, die Namen sind alphabetisch angeordnet. Auch diejenigen mit einzubeziehen, die gewaltbereit und bewaffnet gegen den Staat kämpften, ist bei vielen umstritten, doch auch sie wurden wie alle anderen ohne Prozess Opfer der Willkür der Machthaber. Aus den Jahren 1976 und 1977 stammen die meisten Verschwundenen, Hunderte und Tausende – ihre Vielzahl, die sich über die nächsten drei Mauern hinzieht, ist geradezu erdrückend. Die Jahre 1978 bis 1983 nehmen nur einen kleinen Teil der vierten und letzten Mauer ein.
Hier und da stecken Besucher Blumen zwischen die Steine. “Diese spontanen Äußerungen von Angehörigen lassen wir unangetastet”, sagt Florencia Battiti, seit 10 Jahren Kuratorin des Parque de la Memoria. Die letzte Mauer des Monuments endet kurz vor dem Río de la Plata, an dessen Ufer der “Parque de la Memoria” liegt. In diesen Fluss wurden viele Opfer der Militärdiktatur aus Flugzeugen geworfen, so dass seine bräunlichen Fluten und der Flugverkehr vom und zum nahe gelegenen Stadtflughafen Aeroparque die Wirkung des Mahnmals noch einmal unterstreichen.
Im Moment entsteht eine Datenbank zu den Opfern, neben Eckdaten wie Geburtstag und Datum des Verschwindens gehören dazu auch persönliche Dokumente, die von den Angehörigen zur Verfügung gestellt wurden. So wird jedem der Opfer, die der Staatsterror auslöschen wollte, in der Erinnerung ein Teil seiner Menschenwürde zurückgegeben. Nach ihrer Fertigstellung soll die Datenbank von allen Bürgern und Besuchern des Parks eingesehen werden können.
Der wachsende Skulpturen-Park
Der “Parque de la Memoria” enthält nicht nur das Mahnmal. In dem 14 Hektar großen Gebiet gleich neben der zur UBA gehörenden Ciudad Universitaria entsteht auch ein Skulpturenpark. So ist entlang der Uferpromenade eine Installation der argentinischen Künstlerinnengruppe “Grupo de Arte Callejero” zu sehen – eine Aneinanderreihung von Straßenschildern, auf denen in prägnanter Form auf Stationen der Militärdiktatur hingewiesen wird. Für diejenigen, die sich in argentinischer Geschichte nicht so gut auskennen, sind an den Pfosten Erklärungsschildchen angebracht.
Vor etwa zehn Jahren, als der Park auf einem Gebiet entstand, um das die Universität und die Stadt Buenos Aires sich vor Gericht stritten und das sie schließlich gemeinschaftlich für den Zweck des “Parque de la Memoria” zur Verfügung stellten, wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. 10 Bildhauer wurden ausgewählt, deren meist monumentale Projekte nach und nach im Park verwirklicht werden. “Wir errichten eine neue Skulptur erst dann, wenn wir das Geld dafür haben – sowohl für den Bau als auch für die Erhaltung und Pflege”, sagt Florencia Battiti und weist auf die Roststellen an der sanierungsbedürftigen Skulptur “Monumento al Escape” von Dennis Oppenheim hin. Der US-amerikanische Bildhauer hat eine Konstruktion aus Inhaftierungszellen erdacht, deren anarchische Anordnung die Idee des Ausbrechens und Aufbegehrens vermittelt. Diese Skulptur sei vor allem bei Schulkindern sehr beliebt, erzählt Battiti.
Die aus Beton bestehende Skulptur des US-Künstlers William Tucker “Victoria” (Sieg) wurde im Boden gegossen (die Umrisse des Gieß-Prozesses sind sichtbarer Teil des Kunstwerks) und dann aufgerichtet, ein einfaches, aber wirkungsvolles Symbol für den Kampf für Gerechtigkeit und den Mut, nach einer Niederlage weiterzumachen und “aufzustehen”.
Die drei geometrischen Figuren des argentinischen Künstlers Roberto Aizenberg, ein Viereck und zwei unterschiedliche Dreiecke mit “Köpfen”, versinnbildlichen José, Martín und Valeria Beláustegui, die drei 1977 verschwundenen Kinder seiner Lebensgefährtin Matilde Herrera (Valeria war zu dem Zeitpunkt ihrer Entführung schwanger). Die Umrisse der drei abstrakten Körper sind weithin sichtbar, während der leere “Innenraum” für ihre Abwesenheit steht.
Während die großformatige Skulptur “Pensar es un hecho revolucionario” (Das Denken ist ein revolutionärer Akt) von Marie Orensanz nicht ganz an die allgemein vorherrschende Qualität der Werke im Park heranreicht, ist das monumentale Werk “30.000” des in New York lebenden argentinischen Künstlers Nicolás Guagnini sehr beeindruckend: Er hat 25 Stahl-Säulen errichtet und so angeordnet, dass eine schräg auf sie projizierte Schwarz-Weiß-Fotografie seines (verschwundenen) Vaters – das Foto, das seine Großmutter auf die Kundgebungen der Mütter mitnahm – in einer optischen Illusion vor der Kulisse des Río de Plata erst auftaucht und dann wieder “verschwindet”.
Die Skulptur von Pablo Míguez
Die argentinische Bildhauerin Claudia Fontes (geb. 1964) geht von einem konkreten Fall aus: Pablo Míguez war 14 Jahre alt, als er am 12. Mai 1977 um 3 Uhr morgens zusammen mit seiner Mutter abgeholt wurde. Eie ältere Freundin der Mutter, eine politische Aktivistin, die ebenfalls entführt, später aber freigelassen wurde, sah die beiden in einem der Gefangenen-Zentren. Pablo und seine Mutter blieben verschwunden. Auf der Grundlage von Fotos schuf Fontes ein “mögliches Abbild” von Pablo Míguez – die Gestalt eines 14-jährigen Jungen – aus rostfreiem, poliertem Stahl. Die Statue ist vom Park aus zu sehen, sie steht im Río de la Plata, man sieht sie von hinten, das Gesicht ist abgewandt. Der Fluss spiegelt sich auf der Oberfläche der Skulptur. Hier scheint das Kind für ewig festgebannt, zwischen Leben und Tod. An seinem erschütternden Beispiel wird exemplarisch der Zustand eines “Verschwundenen” deutlich: die Uumöglichkeit, von einem Zustand in den anderen überzugehen. “Man hat Pablo Míguez seine Freiheit und seine Zukunft geraubt”, sagt Claudia Fontes. “(Mit meiner Skulptur) steht wenigstens die unverrückbare Wahrheit aufrecht da: Diese ungeheuerliche Ungerechtigkeit ist tatsächlich passiert.”
Der Park als touristisches Ziel
Wenn die Beschilderung endlich angebracht sein wird, der Haupteingang einem Eingang gleicht und nicht wie jetzt einer improvisierten Baustelle, und die beiden Nebeneingänge geöffnet sein werden (einer Richtung Ciudad Universitaria und der andere Richtung Flughafen), könnte der Park zu einem der meist besuchten touristischen Ziele der Hauptstadt werden. Neben seiner Funktion als Erinnerungsstätte ist er nämlich fast ein kleines Naherholungsgebiet, und das will er auch sein: Man kann die Strandpromenade entlang spazieren und die Nähe des Flusses genießen, die Grünflächen laden zum Verweilen ein. Da es bislang noch beschwerlich ist, zum Park zu gelangen – nur mit dem Auto oder einigen wenigen Buslinien kommt man hin – und es auch schwer ist, ihn überhaupt zu finden, würde es sich empfehlen, wenn die Stadt Buenos Aires einen Kombi-Dienst von Plaza Italia einrichten würde, mit Abfahrtszeiten alle paar Stunden. Dieser Dienst könnte in Touristenführern oder auf der Webseite der Stadt angekündigt werden, es würde sicher stark in Anspruch genommen. Manchmal fragt man sich, warum im Landesinneren Argentiniens ähnliche touristische Unternehmen hervorragend funktionieren, während das in der Stadt Buenos Aires unmöglich zu sein scheint.
- Av. Costanera Norte, Rafael Obligado 6745 (neben Ciudad Universitaria)
- Tel.: 4787-0999/6937
- Webseite
Fotos von oben nach unten:
Blumen in einer der Stelen-Mauern.
Roberto Aizenbergs Skulptur.
Nicolás Guagninis monumentales Werk vor der Kulisse des Río de la Plata.
Die “Figur von Pablo Míguez” von Claudia Fontes.
(Fotos: Parque de la Memoria)