Malerei als Versuchsanordnung

Gerhard Richters große Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin

Von Nicole Büsing und Heiko Klaas


Titan, Olympionik, Ausnahmekünstler, Picasso des 21. Jahrhunderts, Malergenie, wichtigster deutscher Künstler der Gegenwart. Die nationale und internationale Presse überschlagen sich in diesen Tagen mit immer neuen Etiketten und Lobpreisungen für den Kölner Maler Gerhard Richter, der am 9. Februar seinen 80. Geburtstag feierte und noch bis zum 13. Mai mit einer großen Retrospektive in der Berliner Neuen Nationalgalerie geehrt wird. Die Ausstellung “Panorama” versammelt 130 Gemälde und fünf Skulpturen aus fünf Jahrzehnten seines Schaffens. Darunter berühmte Bilder wie das auf der letzten Documenta gezeigte Porträt seiner Tochter “Betty” und sein wohl populärstes Werk, die 1988 entstandene “Kerze”.

Richter selbst kann mit all den Ehrungen und Attributen eigentlich nur wenig anfangen. Und auch die astronomischen Preise, für die seine Bilder heute verkauft und versteigert werden, empfindet er längst als “absurd”. Worum es ihm eigentlich geht, das hat er in den wenigen längeren Interviews, auf die er sich überhaupt eingelassen hat, immer wieder betont. Zum Beispiel im Frühjahr 2011 gegenüber Sir Nicholas Serota, dem Direktor der Londoner Tate Gallery: “Das Malen ist mein Beruf, weil ich die meiste Lust dazu hatte und habe.” Und weiter: “Der Versuch, der Unfähigkeit und dem Elend eine Form zu geben, also ein Bild davon zu machen.” Richter, das wurde auch auf der Pressekonferenz zu seiner Berliner Ausstellung deutlich, liebt einfache, klare Sätze wie diese. Mögen andere in seine Bilder hineininterpretieren, was sie wollen, für ihn sind sie “ein Mittel von vielen, diese Welt zu überstehen, genau wie Brot und Liebe”. Anders als öffentlichkeitsaffine Malerfürsten wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz oder der verstorbene Jörg Immendorff hat Richter sein Tun immer wieder kritisch reflektiert und in Frage gestellt. Für ihn, den zurückgezogen arbeitenden Zweifler, ist sein künstlerisches Handeln der “Versuch, die Möglichkeit zu erproben, was Malerei überhaupt noch kann und darf”.

Aus dieser Grundfrage heraus lässt sich dann auch die stilistische Vielfalt seiner Bilder erklären: verwischt wirkende Gemälde nach Fotovorlagen, Wolkenbilder, fotorealistische Landschaften, Familienporträts, altmeisterlich anmutende Vanitasgemälde, abstrakte Farbexperimente, Experimente im Umgang mit monochromen Farbflächen, konzeptuelle Farbkompositionen, Streifenbilder oder auch expressiv-komplexe Abstraktionen. Die Berliner Ausstellung wirkt beim ersten Betreten, als wäre sie nach dem Zufallsprinzip vollkommen wild durcheinander gehängt worden. Abstraktes wechselt sich mit Figurativem ab, großformatige Bilder hängen neben ganz kleinen, Farbe trifft auf graue Monochromie. Was die Kuratoren Udo Kittelmann und Dorothée Brill, die die Ausstellung in enger Abstimmung mit Richter eingerichtet haben, mit dieser etwas verwirrenden Art der Präsentation unterstreichen wollen, ist die auffällige Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Richters Werk. Die Botschaft: Es gibt bei Gerhard Richter keine abstrakte Phase, die dann irgendwann das figurative Werk ablöst. Alles geschieht parallel. Der Betrachter kann das ganz einfach nachprüfen. Die Schau ist streng chronologisch geordnet. Und so hängen plötzlich Bilder nebeneinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Zum Beispiel das 2005 entstandene Gemälde “September”, das mit hohem Abstraktionsgrad, aber dennoch sofort erkennbar, die verheerenden Anschläge auf das World Trade Center am 11.9.2001 thematisiert, neben einem geradezu kontemplativen Landschaftsgemälde von 2004, das den Titel “Waldhaus” trägt und damit auf den Rückzugsort des Künstlers, das gleichnamige Hotel im schweizerischen Sils-Maria, anspielt.

Die Ausstellung hat im sonst eigentlich als Foyer dienenden Erdgeschoss der von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Neuen Nationalgalerie ihren angemessenen Ort gefunden. Die eigens eingebaute Ausstellungsarchitektur kann von den Besuchern komplett umrundet werden. Die Außenwände sind mit der aus 196 Tafeln bestehenden Arbeit “4900 Farben” behängt, die im Zusammenhang mit den Entwürfen für ein von Richter gestaltetes Kirchenfenster des Kölner Doms entstand. Die aus jeweils 25 lackierten Quadratflächen bestehenden Tafeln korrespondieren aufs Vortrefflichste mit der modernistischen Gitterstruktur des Museumsbaus.

Und wie kommt Gerhard Richter, ein Künstler, der lieber reflektierend aus dem Hintergrund heraus agiert, als sich ins Blitzlichtgewitter zu verirren, mit der schon zu Lebzeiten einsetzenden Mythologisierung und dem medialen Hype, der zur Zeit rund um seine Person veranstaltet wird, klar? Seine Antwort fällt überraschend altersmilde und versöhnlich aus: “Missachtet zu werden, wäre auf jeden Fall viel schlimmer.”

  • Ausstellung: Gerhard Richter: Panorama
  • Ort: Neue Nationalgalerie, Berlin
  • Zeit: 12. Februar bis 13. Mai 2012
  • Katalog: Prestel Verlag, 304 S., 305 Farbabb., 30 S/W Abbildungen, 29 Euro (Museum), 39,95 (Buchhandel)
  • Internet
  • Der Zyklus “18. Oktober 1977” (RAF-Zyklus) ist während der Ausstellungsdauer in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel zu sehen.
  • Weitere Ausstellung zu Gerhard Richter in Berlin: Gerhard Richter-Editionen 1965-2011, 12. Februar bis 13. Mai 2012, me Collectors Room Berlin

Fotos von oben nach unten:

Gerhard Richter, “Lesende”, 1994, 72 x 102 cm, Öl auf Leinwand, San Francisco Museum of Modern Art.
© Gerhard Richter, 2012

Gerhard Richter, “Betty”, 1977, 30 x 40 cm, Öl auf Holz, Museum Ludwig, Köln / Privatsammlung.
© Gerhard Richter, 2012

Gerhard Richter, “Kerze”, 1982, 100 x 100 cm, Öl auf Leinwand, Museum Frieder Burda, Baden-Baden.
© Gerhard Richter, 2012

Gerhard Richter, “4096 Farben”, 1974, 254 x 254 cm, Lackfarbe auf Leinwand, Privatsammlung.
© Gerhard Richter, 2012

Gerhard Richter, “Jugendbildnis”, 1988, 67 x 62 cm, Öl auf Leinwand, The Museum of Modern Art, New York.
© Gerhard Richter, 2012

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