Bafici-Nachlese: Andreas Dresen über seinen Film “Halt auf freier Strecke”

Kurz bevor er mit seinem Krebsdrama die wichtigsten deutschen Filmpreise 2012 abräumte, sprach Erfolgsregisseur Dresen im Rahmen des Bafici in Buenos Aires über das Filmemachen

Von Mirka Borchardt

Einen seiner ersten Preise gewann Andreas Dresen in Argentinien. 1985 wurde sein Kurzfilm “Der kleine Clown” beim Filmfestival in Mar de Plata ausgezeichnet, doch damals durfte er den Preis nicht persönlich entgegennehmen: die Mauer stand noch. Erst 21 Jahre und eine ganze Filmkarriere später kam er her: 2006 war er mit seinem Erfolgsfilm “Sommer vorm Balkon” beim Bafici (Festival des Unabhängigen Films Buenos Aires) dabei. Dieses Jahr ist er zum zweiten Mal da, eingeladen zum Nachwuchsförderungsprogramm Talent Campus, das – unterstützt vom Goethe-Institut – von der Berlinale organisiert wird und mittlerweile in fünf weiteren Städten der Welt Ableger hat. Aus ganz Lateinamerika wurden junge Nachwuchstalente aus der Filmbranche nach Buenos Aires eingeladen, um vier Tage lang zu diskutieren, zu “networken” und erfahrene Filmemacher kennenzulernen. Zum Beispiel Andreas Dresen.

2006, erzählt der, sei er tagelang durch die Stadt gelaufen. Dieses Mal dauerte es keine zehn Minuten, da war er ausgeraubt: der alte Trick mit der Flüssigkeit auf der Schulter und dem hilfsbereiten Dieb. Es sei komplizierter geworden, die Kontraste insbesondere in Buenos Aires seien härter geworden, meint er; es gebe mehr Kriminalität, “und das ist ja immer ein Zeichen dafür, dass es Menschen sehr schlecht geht”.

Offensichtlich hat sich der Regisseur gut erholt von dem Zwischenfall, er ist guter Dinge, während er im Café der Filmhochschule der “Universidad del Cine” in San Telmo sitzt und über den Einfluss des Herkunftslandes auf das eigene Schaffen redet. Das Café im überdachten Patio des schönen alten Gebäudes ist seltsam ruhig, die Talent Campus-Teilnehmer schauen sich gerade nebenan im Vorführungsraum “Halt auf freier Strecke” an, Dresens neuestes Werk. “Was mich am argentinischen Kino interessiert, ist die Aufarbeitung der Militärdiktatur, das hat sicher auch mit meiner DDR-Herkunft zu tun”, sagt er. “Gerade Zeiten, in denen der Verrat so nahe liegt, sind interessant für das Kino.”

Andreas Dresen wurde 1963 in eine Theaterfamilie hinein geboren. Schon früh drehte er Amateurfilme, seit er 16 Jahre alt war, wusste er, dass er Filmemacher werden wollte. Während die Sowjetunion in ihren allerletzten Zügen lag, schloss Dresen sein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen “Konrad Wolf” Potsdam Babelsberg ab. “Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich andere Filme gemacht”, sagt er. “Die Sprache, die im Osten gewählt wurde, war eine andere als die heutige. In Zeiten der Diktatur kann man nicht ohne Weiteres die Wahrheit sagen, man muss andere Wege finden. Das Publikum war ein anderes, zum einen las es Filme oder Theater ganz anders, zum anderen war da ein Hunger: Die Menschen waren so bedürftig danach, dass jemand die Dinge ausspricht, deswegen rannten sie ins Theater oder ins Kino, das war ihr Fenster zur Welt. Jetzt leben wir in einer Welt, in der jeder alles sagen kann, wo jeder Zugriff hat auf eine unüberschaubare Menge an Informationen, was die einzelne Info aber auch entwertet. Es ist viel schwieriger, mit einem Buch oder einem Film Gehör zu finden. Da frage ich mich manchmal schon: ‘Warum muss ich jetzt auch noch einen Film machen, es gibt doch schon so viele, die keiner gesehen hat!'”

“Halt auf freier Strecke”

Glücklicherweise hat ihn das bisher nicht abgehalten. Vielleicht hat es ihm sogar geholfen, sich vor Banalität und Langeweile zu schützen. “‘Gibt es diesen Film schon?’, das ist die Frage, die ich ich mir zum Beispiel vor ‘Halt auf freier Strecke’ gestellt habe. Es fing damit an, dass ich das Gefühl hatte, dass der Tod zwar allgegenwärtig ist im Kino, aber bloß als stilistisches Mittel. So viele Menschen sterben im Kino, aber niemand fragt danach, was das eigentlich bedeutet. Dann habe ich mir eine Unmenge an Filmen über das Sterben angeschaut, aber ich habe keinen gefunden, der mich zufriedengestellt hätte. Also musste ich ihn selbst machen.”

Das Ergebnis ist ein Film, der erschlägt. Ohne Kitsch und Gefühlsduselei erzählt er den Tod eines Mannes, vom Moment der Diagnose des Gehirntumors bis zum Eintreten des Todes, erzählt davon, was der Tod eines Familienmitglieds bedeutet für das fragile Gleichgewicht in einer Familie. In Cannes gewann er in der Sektion “Un certain regard”, andere Filmkritiker fanden ihn “so Scheiße, dass er einen gar nicht erst berührt”.

Für Andreas Dresen ist das in Ordnung: “Es geht nicht darum, dass alle meine Filme mögen, mein Grundantrieb hinter dem Filmemachen war immer die Hoffnung, Diskussion in die Gesellschaft zu tragen.” Auch hier in Buenos Aires schafft er das: Nach dem Film belagern die angehenden Filmemacher den deutschen Regisseur: Wie er darauf gekommen sei, solch einen Film zu machen, wie das Drehbuch entwickelt worden sei, was der letzte Satz im Film zu bedeuten habe. Ein Filmstudent aus Ecuador wundert sich darüber, dass ein solcher Film über das Sterben ausgerechnet von einem deutschen Filmemacher stamme. Der extreme Realismus des Films, meint eine andere Studentin, führe zu so absurden Situationen, dass man sich an britischen Humor erinnert fühle. Dresen beantwortet geduldig alle Fragen, erzählt, wie er ein Jahr lang für den Film recherchiert, mit Angehörigen und Betroffenen, Ärzten, Hospizmitarbeitern und Psychologen gesprochen habe. Erklärt, dass es gar kein Drehbuch gegeben habe, dass die Dialoge von den Schauspielern improvisiert sind, dass das Krankenhauspersonal und die Heimpflegerin gar keine Schauspieler waren, sondern tatsächlich Ärzte und Krankenpfleger. Am Ende müssen die Organisatoren die kleine Versammlung mit sanfter Gewalt auflösen, damit die nächste Veranstaltung beginnen kann.

Später, bei Bier und Erdnüssen, erklärt er, wie er zu dieser Art des Filmemachens gekommen ist. Wir sitzen draußen vor einem Eckcafé im Herzen San Telmos, der Abend ist noch sommerlich warm, obwohl der Herbst schon längst begonnen hat Sein erster Spielfilm, “Stilles Land” (1992), sei von vorne bis hinten durchgeplant gewesen, er habe vorher jede Szene, jedes Bild genau im Kopf gehabt. “Das Schlimme war: Er sah auch genauso aus”, sagt er lachend. Später dann sei er mutiger geworden, nicht zuletzt auch dank der Erfahrungen durch seine Theaterproduktionen.

Am liebsten von seinen eigenen Filmen hat er “Halbe Treppe” (2002): “Hier habe ich den größten Sprung gemacht und mich viel getraut: Mit eigenem Geld einen voll improvisierten Film zu drehen, ohne Drehbuch, mit so viel Anarchie und Frechheit. Er ist an vielen Stellen auch nicht rund, aber das macht nichts.” Eigentlich sei er gar kein so mutiger Mensch, sagt er zwischen zwei Schlucken Bier, und es koste ihn sehr viel, die Kontrolle abzugeben. Auf dem Weg zum Drehort in Frankfurt an der Oder habe er den VW-Bus am Straßenrand angehalten und geheult, weil er so nervös und angespannt war. Bis heute habe er jedes Mal vor Drehbeginn Angst und sei so aufgeregt, dass er nicht schlafen könne. “Ich habe dann das Gefühl, dass ich gar kein richtiger Regisseur bin.” Man möchte ihn umarmen. Sein Erfolg hat ihm nichts anhaben können, hat ihn kein bisschen prätentiös gemacht. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner, nichts muss man ihm aus der Nase ziehen in gemeiner Journalistenmanier. Der Abend wird immer länger, irgendwann schließt das Café und wir verziehen uns in die nächste Bar, die mit ihren altehrbaren Kellnern und den beiden Schachspielern am Nebentisch den Charme des Argentiniens der dreißiger Jahre versprüht. Dresen sagt, dass ein guter Filmemacher vor allem eines brauche: “Mut zum Risiko! Man sollte beim Film nie auf Nummer sicher gehen. Natürlich hat man Ängste, auch weil man mit viel fremdem Geld arbeitet. Aber Angst ist der schlechteste Ratgeber, wenn man sich von ihr leiten lässt, dann hat man schon verloren. Wenn ich nicht mit jedem Film einen Schritt weiter gehe, lande ich in Routine und Langeweile, und dann kann ich aufhören.”

Am nächsten Tag findet die offizielle Gesprächsrunde zwischen den Teilnehmern des Talent Campus und dem deutschen Regisseur statt. Dresen erzählt von den Dreharbeiten, davon, wie er erst am allerletzten Tag vor Drehbeginn den Arzt gefunden hat, der bereit war, mitzumachen. Von den Vorteilen des kleinen Drehteams, das aus nur sieben Personen bestand: “Man muss sich das vorstellen wie eine kleine italienische Familie, die einen Film zusammen macht.” Wäre die Crew größer gewesen, meint er, hätten die Szenen viel von ihrer Intimität verloren.

Dann geht es um seinen dokumentarischen Ansatz und um die Grenze zwischen Fiktion und Doku. Von einem deutschen Journalisten ist er einmal gefragt worden, warum er nicht gleich einen Doku-Film über das Sterben gemacht hätte. “Dann wäre es ein ganz anderer Film geworden”, wiederholt er seine Antwort nun. “Es gibt in dem Film so viele Szenen, bei denen ich hinausgegangen wäre, aus Scham oder Respekt. Es gibt eine klare Grenze zwischen Spielfilm und Doku.”

Dann könne man also mit den Mitteln des fiktionalen Films die Wirklichkeit manchmal besser zeigen als mit den Mitteln des dokumentarischen Films? Dresen lächelt. “Manchmal habe ich tatsächlich das Gefühl, ich verführe die Zuschauer, dass sie wirklich glauben, was sie da sehen auf der Leinwand. Dann denke ich an Brechts Satz ‘Glotzt nicht so romantisch!'” Ob es nun ein Doku- oder ein Spielfilm ist, letztlich sei beides vom höchst subjektiven Wahrheitsempfinden der Menschen vor und hinter der Kamera bestimmt, in beiden Formen könne man lügen. “Für mich”, sagt Dresen, “hat Realismus etwas mit Wahrheit sagen zu tun. Da ist keine Wirklichkeit auf der Leinwand, aber vielleicht ein Stück Wahrheit.”

Nach der Runde geht es mit einigen Studenten in die nächste Bar. Die Diskussion wird wohl noch den ganzen Abend weitergehen.

Bild:
Entspannt in einem Straßencafé in Buenos Aires: Andreas Dresen.
(Foto: Mirka Borchardt)

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