Mit Musik gegen den “Paco”

Die Musikschule der Gemeinde Caacupé kämpft gegen das Drogenproblem in den “Villas Miserias”

Von Mirka Borchardt


Camila und Miriam singen sich für ihren Gesangsunterricht warm. Es ist Freitag Nachmittag, über der Villa 21-24 hängt blauer Dunst und es riecht nach Grill. Von draußen dringen Cumbiaklänge in das Klassenzimmer, nebenan üben drei Kinder die Tonleiter auf einem Keyboard. Camila und Miriam sind Schülerinnen der Musikschule der Gemeinde Caacupé. Camila möchte Sängerin werden, vielleicht mal eine eigene Band gründen. Vor kurzem ist sie 15 Jahre alt geworden. Deswegen übt sie heute mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Miriam für einen besonderen Anlass: ihre Geburtstagsparty. Das wird ein ganz großes Fest, in einem Pavillon auf einem extra dafür angemieteten Grundstück, erzählt sie freudestrahlend. Selbst ihr Bruder wird kommen. Seit einem Jahr wohnt er nicht mehr in Buenos Aires, genauso lange, wie die Familie nicht mehr in der Villa wohnt. Vor einem Jahr, im Morgengrauen, bekam die Familie Besuch von ein paar bewaffneten Schlägertypen, die ihnen mit Konsequenzen drohten, sollte der Bruder tatsächlich aussteigen. Aussteigen aus dem Drogenhandel, das war damit gemeint. Von einem Tag auf den anderen zog Camilas Familie um.

Santiago, der Lehrer kommt zurück, die Gesangsstunde geht weiter. Begleitet von einem leicht verstimmten Klavier üben die beiden Schwestern die schwierigsten Parts der Songs wieder und wieder. Es ist kühl im Klassenzimmer, es gibt keine Heizung. Während die Sonne untergeht, belebt sich die Straße draußen, die Cumbia-Klänge werden lauter. Ein Auto fährt vorbei, ein schwarzer, glänzender Mercedes, der hier in diesem Viertel wie von einem anderen Stern wirkt. Doch die Villeros gucken dem Auto nicht einmal hinterher. Die Mafia gehört zum Alltag.

Der Paco ist eines der drängendsten Probleme in den Villas. Seit der Wirtschaftskrise ist der Konsum um ein Vielfaches gestiegen. Ungefähr die Hälfte der Jugendlichen in den Villas raucht den giftigen Stoff, wird geschätzt. Weil er billig ist, nur ein paar Pesos kostet der Trip. Weil die Mafia vor ein paar Jahren ihre Produktionsstätten unter anderem nach Argentinien verlegt hat; nun sind die Vertriebswege kürzer. Und weil der Rausch immer noch am meisten hilft gegen das Gefühl der Perspektivlosigkeit. Hier ist der Punkt, wo Padre Toto, Santiago und andere Freiwillige der Gemeinde Caacupé ansetzen. Gegen die Mafia können sie nichts ausrichten, und sie können auch nichts ändern an den Lebensbedingungen der jungen Menschen. Aber sie können ihnen vielleicht neue Perspektiven geben. Durch Bildungsangebote zum Beispiel, durch Sportgruppen, Freizeitaktivitäten – und mit Hilfe der Musik.

Bei der kleine Kapelle “Jesus vive” sind die Straßen eng und vom letzten Regen verschlammt, und viel dunkler als beim großen, hell erleuchteten Gemeindehaus Caacupé. Trotzdem spielen ein Dutzend Jungs Fußball, Erwachsene sitzen vor ihren Häusern und unterhalten sich. “Als wir hier anfingen, war es noch viel schlimmer”, erzählt Santiago. “Viel marginalisierter, und gefährlicher.” Vor ein paar Jahren gründete er in der Kapelle einen kleinen Chor, der sehr schnell größer wurde. Jugendliche kamen, weil das Singen die Langeweile vertrieb, und sie brachten ihre kleinen Geschwister mit, damit die Mutter zu Hause ihre Ruhe habe. Deswegen zog der Chor irgendwann in das Gemeindehaus um, dort war mehr Platz. Nach und nach fand Santiago Lehrer, und bald konnte er auch Klavier- und Gitarrenunterricht anbieten, Trommeln und Blasinstrumente. Auch eine Band gibt es.

Eine der Lehrerinnen ist Jazmín. Sie unterrichtet Klavier, ist 25 Jahre alt und kommt aus La Boca, einem anderen “marginalisierten” Stadtteil von Buenos Aires. Sie kennt die Welt ihrer Schüler. “Das Musikstudium hat mir Spaß gemacht, aber mich nicht ausgefüllt”, sagt sie. “Die Arbeit hier, die schafft das.” Wie die meisten der acht Lehrer, die außer Santiago alle nicht viel älter sind als sie, arbeitet sie ehrenamtlich in Caacupé. Santiago würde sie gerne bezahlen, aber das geht momentan nicht. Die Musikschule finanziert sich allein aus privaten Spenden, jedes Jahr aufs Neue muss er kämpfen, um die Mittel zusammenzubekommen. Auch dieses Jahr ist es wieder eng.

Padre Toto ist der Priester der Gemeinde Caacupé. Mit Jeans und Turnschuhen sitzt er in seinem Büro, das auf den Hof hinausgeht, auf dem ein paar Jungen Volleyball spielen. “Wären sie jetzt nicht hier, würden sie Paco rauchen”, stellt Padre Toto fest. Er sagt es ohne Bitterkeit. An der Wand hängt neben dem Kreuz eine Karikatur von von ihm als Fußballspieler, gegenüber ein bunter Sombrero. Er bietet Mate an, während er über seine Arbeit berichtet, über die Versuche, die Jugendlichen von der Straße und damit aus den Armen des Paco zu holen: das Colegio Secundario, eine Berufsschule, Fußballgruppen, Gemeinschaftskantinen, Nachhilfeunterricht, eine Pfadfindergruppe – und die Musikschule. Gerade die sei wichtig im Drogenpräventionsprogramm, denn: “Musik hat heilende Kräfte.” Etwa 1000 Jugendliche, meint er, könnten sie mit all diesen Initiativen erreichen. Doch wie viel diese Prävention bringt, das sei schwer zu sagen: “Es gibt kein Vorher-Nachher-Foto.”

Die heilenden Kräfte der Musik, nirgendwo sind sie nötiger als hier. “Letztes Jahr”, erzählt Jazmín, “sahen wir aus dem Haus gegenüber eine Frau auf die Straße laufen, vermutlich eine Prostituierte, mit durchgeschnittener Kehle. Sie blutete wie ein Schwein. Doch da kam kein Krankenwagen, die trauen sich hier nicht rein. Höchstens mit einer Eskorte von vier Streifenwagen, aber wenn grad keine verfügbar sind, dann kommen sie eben nicht.” Sie erzählt von einem Schüler, dessen Vater mit neun Schüssen im Körper tot in seinem Wagen gefunden wurde. Von dem Mädchen, das von ihrem Vater missbraucht wird, und der Mutter, die nichts dagegen tun kann. Dann sagt sie erschrocken: “Ich höre mich ziemlich abgeklärt an, oder?” Und fügt entschuldigend hinzu: “Man gewöhnt sich daran, irgendwie.” Jazmín hat angefangen, Soziologie zu studieren, damit sie ein Werkzeug hat, mit dem sie diesen heftigen Geschichten begegnen kann.

Doch besteht die Arbeit an der Musikschule nicht nur aus verstörenden Erlebnissen. “Es gibt dir auch ganz viel”, sagt Santiago. “Wenn die Schüler langsam Vertrauen zu dir entwickeln, wenn sie anfangen, dich zu mögen, dann bekommst du das alles zurück.” Die Musikschule ist kein Pflichtprogramm für die etwa 60 Schüler zwischen fünf und 24 Jahren. Da ist keine ehrgeizige Mutter dahinter, die meint, es würde ihrem Sprössling gut tun, ein Instrument zu lernen. Die Schüler kommen freiwillig. Und manchmal auch auf eigene Faust. So wie die zehnjährige Bianca, die mit ihrer gelben Puppe im Arm plötzlich die Tür zum Klassenzimmer aufmacht und sich neben Santiago auf die Klavierbank setzt. Später wechselt sie in den Keyboardunterricht nebenan, zu Jazmín. Die redet hinterher begeistert auf Santiago ein, er solle die Mutter dazu bewegen, Bianca regelmäßig zu bringen, sie habe ein erstaunliches Talent. Ob das was nützen wird, ist fraglich. Bianca ist allein hier, stellt sich heraus. Santiago muss sie nach dem Unterricht nach Hause fahren, damit sie nicht allein durch die dunklen Gassen läuft. Die Eltern scheinen sich nicht zu kümmern. “Drogenhändler, bestimmt”, sagt er, auf Deutsch, damit sie es nicht versteht. Er hat zwei Jahre Musik in Karlsruhe studiert.

Während die Musiklehrer auf Santiago warten, der oben noch die letzten Instrumente wegschließt, beendet Padre Toto nebenan in der Kapelle die tägliche Messe. Seine weiße Soutane hat er schon ausgezogen, als er herauskommt. Nun trägt er wieder Jeans und T-Shirt. “Alles gut, Schwester?”, fragt er, und gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. “Ja”, sage ich. Aber das Lächeln will mir nicht so richtig gelingen.

Falls Sie die Musikschule und das Drogenpräventionsprogramm von Caacupé unterstützen möchten, haben Sie hier die Möglichkeit dazu.

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