Viele Stimmen, ein Klang

Weltpremiere des Theaterstücks “Las Multitudes” von Federico León in La Plata

Von Susanne Franz


Er hat Husten, als wir am Dienstagvormittag in einem alten Café an einer Straßenecke im Stadtviertel Abasto sitzen. “Hoffentlich ist das bis Freitag weg!”, meint er besorgt. “Ich will um nichts in der Welt die Premiere verpassen!” Seit einem Jahr bereitet der junge argentinische Theaterregisseur Federico León die Uraufführung seines neuesten Werks “Las Multitudes” vor. Jetzt ist fast alles perfekt. Anfang Juli hat er mit seinem 120-köpfigen Ensemble die Proben von Buenos Aires nach La Plata verlegt, denn hier findet am 20. Juli die Weltpremiere statt – im TACEC, das dem Teatro Argentino de La Plata angeschlossene experimentelle Werkstatt-Theater.

Das TACEC hat das Stück in Zusammenarbeit mit dem Festival Berliner Festspiele/Foreign Affairs und der Siemens Stiftung produziert. Die Premiere von “Las Multitudes” und die fünf weiteren Vorstellungen bis zum 29. Juli finden im Rahmen der dritten internationalen Theater-Akademie “Panorama Sur” statt, die am 16. Juli begann und drei Wochen lang Workshops renommierter Künstler, Meisterklassen und Theatervorstellungen aus Brasilien, den USA und Europa an den Río de La Plata bringt.

Ende September wird “Las Multitudes” dann dreimal auf dem Festival “Foreign Affairs” in Berlin gezeigt. Federico León hat auch seine früheren Stücke – darunter “El adolescente”, “Mil quinientos metros sobre el nivel de Jack” und “Yo en el futuro” – sowie seine beiden Kinofilme in der deutschen Hauptstadt gezeigt und ist dort schon lange kein Unbekannter mehr. Im “Haus Berliner Festspiele” gastiert sein 120-köpfiges Ensemble – eine Mischung aus Argentiniern der Originalbesetzung und deutschen Schauspielern – in einem für 1200 Zuschauer konzipierten Haus, ein gewaltiger Unterschied zu dem intimen TACEC mit seinen 140 Plätzen.

Nach dem Gastspiel in Berlin wird “Las Multitudes” auch in Buenos Aires gezeigt, im Saal A/B des Centro Cultural San Martín.

Proben mit 120 Schauspielern


Jede Probe mit 120 Leuten ist ein wahres logistisches Kunststück. Die Darsteller kommen aus allen Altersgruppen, es sind Kinder dabei, Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Jeder von ihnen hat seinen Alltag, ob Kindergarten, Schule oder Arbeit, dazu kommen die unterschiedlichsten Verpflichtungen jedes einzelnen. Wie es möglich ist, die vielen Interessen unter einen Hut zu kriegen, kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Aber es funktioniert, alle sind mit Begeisterung dabei, weil keiner ersetzbar ist und selbst die, die keine Sprechrolle haben, das Projekt aktiv mitgestalten. “So viele Menschen, und alle spielen dieselbe Partitur”, sagt Federico León. “Dieses Stück ist ein Ort, an dem wir alle aufgehoben sind.”

Denn “Las Multitudes” ist viel mehr als “nur” ein Theaterstück, in dem aus einzelnen Szenen ein Ganzes zusammengesetzt wird – es ist wie ein Organismus, der nur dann funktioniert, wenn jede einzelne Zelle an ihrem Platz ist.

Der Text, den er vor zwei Jahren geschrieben hat, habe lediglich als Grundlage gedient, sagt Federico León. “Er hat sich während der Proben mit den Schauspielern verändert.” Ihn fasziniert diese Transformation von dem, was er sich vorgestellt hat – “das, was ich einbringe” – in das, “was dann mit den Körpern tatsächlich geschieht”.

Das Leben, ein Traum

Auch am 30. Juni findet eine Probe in einer ehemaligen Fabrikhalle in Villa Urquiza statt. Bevor es losgeht, machen die Schauspieler Yoga, um ihre innere Konzentration zu finden. Sie tragen helle, bequeme Kleidung, sitzen auf dem Boden – Alte, Junge und Kinder durcheinander – und folgen den Instruktionen der Yoga-Lehrerin. Ein kleines Mädchen schläft dabei tatsächlich ein und ist auch in der Folge nicht wachzukriegen. Die anderen sind alle hoch motiviert bei der Sache.

Es ist schon beinahe wie bei der Generalprobe, ganz selten nur greift Federico León noch korrigierend ein. “Hier brauchst du keine Wut mehr in deine Stimme zu legen”, sagt er etwa zu Julián, oder hat noch einen Ratschlag zu Diegos schüchternem Lachen bereit. Auch die Choreographin gibt nur ab und zu noch Tipps – “die Mädchen sollten hier etwas enger zusammen stehen”, “die Jungs laufen von links auf die Bühne und dort wieder nach draußen”. In die Menschenmenge soll System gebracht werden.

Es klappt schon hervorragend. Bald erkennt man die einzelnen Gruppen, in die sich die Menschenmenge aufgliedert, und was sie antreibt. Die jugendlichen Männer sind in die gleichaltrigen Mädchen verliebt, aber die interessieren sich für die schon etwas älteren jungen Männer. Die sind nicht abgeneigt, aber sie sind schon mit den jungen Frauen ihres Alters fest liiert. Das gibt Ärger.

Die alten Männer geben den Jugendlichen Tipps, wie sie die Mädchen erobern können. Dabei haben sie selbst ihr Leben nicht im Griff, sie sind mit ihren Frauen zerstritten. Das wird am Beispiel von Roberto und Beatriz deutlich, die sich noch lieben, aber eines alten Grolls wegen nicht mehr miteinander sprechen.

Andere Gruppen, wie etwa die “Familien” oder die Kinder, haben mit dem Drama der Liebe nur am Rande zu tun, sie erscheinen eher als Zuschauer, beantworten ab und zu Fragen oder geben Kommentare ab.

Der Einzelne findet Schutz in seiner Gruppe, aber sie verbietet ihm auch oft, frei seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Wirkliche Veränderungen finden nur statt, wenn einer sich – wenn auch vorübergehend – aus seiner Gruppe löst.

Nur eine Einzelperson sticht in “Las Multitudes” hervor: Julián, ein Kind, aber eigentlich der heimliche “Regisseur” der Geschichte. Federico León sagt über Julián – eine Figur, die in seinem Skript nicht vorkam und erst während der Proben auftauchte -, er sei möglicherweise “derjenige, der das ganze Geschehen träumt”.

Jenseits von Zeit und Raum


Die Bühne ist ein dunkler, leerer Raum ohne Grenzen. Es ist weder Tag noch Nacht. Gestern, Heute, Morgen haben keine Bedeutung. Die Menschengruppen tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden wieder – wohin, ist nicht wichtig. Sie könnten aus irgendeinem Land der Erde stammen. Wo sie wohnen, was sie tun, bleibt unbekannt.

Sie bewegen sich innerhalb ihrer Altersgruppen, in jeder gibt es zwei Vertreter, die Namen haben. Sie sprechen, singen oder kämpfen, der Rest der Gruppe bleibt anonym, steht hinter dem Protagonisten, stärkt ihm den Rücken, spiegelt ihn.

Wie in einem Shakespeare’schen Universum werden auf der Bühne Pläne gemacht, Informationen weitergegeben und Ränke geschmiedet. Wie können Diego und Julieta zusammengebracht werden? Beim Auftritt der Rockband – das wäre die Gelegenheit, glaubt man zunächst. Dort finden sich alle zusammen, um zu feiern und zu tanzen. Aber Diego hat erst eine Chance, als es Julián gelingt, Julieta von ihrer Clique wegzulocken.

Im Stück gibt es immer wieder intime Szenen einzelner, bei denen sie von den Mitgliedern ihrer eigenen oder den anderen Gruppen beobachtet werden. “Das ist wie im Theater selbst, wo das Publikum Zeuge des Geschehens auf der Bühne wird”, sagt Federico León. Besonders in der Szene des Rockkonzerts, wo fast die ganze Besetzung von “Las Multitudes” auf der Bühne ist, um als “Publikum” dem Konzert zuzuschauen, und dabei vom “wirklichen” Publikum beobachtet wird, wird diese Spiegelung deutlich: es gibt hier (mindestens) zwei Menschenmengen, die zu einer einzigen werden. Der Theaterbesucher wird hier und auch in anderen Szenen des Stücks Teil des Geschehens.

Eine entscheidende Rolle als verbindendes Element in “Las Multitudes” spielt auch die Musik. Federico León hat erstmals mit einem Musiker – Diego Vainer – zusammengearbeitet, der neben den Originalkompositionen auch viele Anregungen zum Klangkonzept gegeben hat. Herausgekommen ist ein stimmiger, magischer Sound, der den Zauber der Inszenierung aufs Beste unterstreicht, sei es in den ruhigen Momenten oder in denen voller Energie und Partystimmung.

Das Publikum, das das Privileg hat, Federico Leóns meisterhaftes Werk zu sehen, erfährt sich als Bestandteil einer anonymen “Masse”, der eine andere “Masse” gegenübersteht, die sich aber ab und zu öffnet und in die man hineingezogen wird. Gleichzeitig bleibt jeder ein Individuum, das wiederum bestimmten Gruppen zugehörig ist oder war, und das an sich schon einen komplizierten Organismus darstellt. Jeder Einzelne erhält in der Polyphonie des Werkes eine eigene Stimme, mag sie nach außen oder nach innen klingen.


“Las Multitudes” wird nach der Premiere am 20. Juli noch am 21., 22., 26. und 29. Juli um 21.30 Uhr und am 28. Juli um 17 Uhr gezeigt, im TACEC (Centro de Experimentación y Creación del Teatro Argentino de La Plata), 51. Straße zwischen 9. und 10., La Plata, Tel.: (0221) 429-1700. Karten zu 20 Pesos kann man online oder an der Kasse des Teatro Argentino de La Plata erwerben. Infos findet man auch auf der auf der Webseite des Theaters.

Informationen zu “Panorama Sur” hier.

Der Regisseur Federico León

Der Autor, Theaterregisseur und Filmemacher Federico León wurde 1975 in Buenos Aires geboren. Zu seinen wichtigsten Werken im Theater (Dramaturgie und Regie) zählen “Cachetazo de campo”, “Museo Miguel Angel Boezzio”, “Ex Antuán”, “Mil quinientos metros sobre el nivel de Jack”, “El adolescente” und “Yo en el futuro”. Seine Werke wurden in Theatern und auf Festivals in Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark, Schottland, Kanada, Brasilien, den USA und Australien gezeigt.

Im Jahr 2001 entstand der Film “Todo juntos”, für den León das Drehbuch schrieb, Regie führte und als Schauspieler wirkte. “Todo juntos” lief auf den Filmfestivals von Locarno, Havanna, Toulouse und Buenos Aires. Weitere Kinofilme Leóns sind “Estrellas” (mit Marcos Martínez) und “Entrenamiento Elemental para Actores” (mit Martín Rejtman).

Federico Leóns Arbeit wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter der Konex-Theaterpreis (2004) und der Erste Preis (Dramaturgie) des Instituto Nacional de Teatro. Als einer der Gewinner der Künstlerstipendienreihe “The Rolex Mentor and Protegé Arts Initiative” (2002) arbeitete Federico León ein Jahr lang mit Robert Wilson zusammen.

Einige seiner Texte, Beschreibungen seiner Arbeitsprozesse sowie Interviews und Kritiken sind in dem Buch “Registros – Teatro reunido y otros textos” (Verlag Adriana Hidalgo) zusammengefasst.
(Quelle: Alternativa Teatral)

Fotos von oben nach unten:

Auf dem Rockkonzert ist die Hölle los.
(Foto: Sebastián Arpesella)

Die Runde der Frauen – hier schleicht sich Julián ein.
(Foto: Sebastián Arpesella)

Versuchsanordnung zu “Las Multitudes” mit Spielfiguren

Kräftemessen zwischen Diego (rechts) und seinem Rivalen um Julietas Gunst.
(Foto: Sebastián Arpesella)

Federico León.

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