Überleben im Dschungel

Gebrauchsanweisung für das Leben in einem Land wie Argentinien

Von Friedbert W. Böhm


Sie kommen aus einem einigermaßen vernünftig verwalteten mitteleuropäischen Rechtsstaat?

Dann sind Sie daran gewöhnt, dass die Menschen auf der Straße den Verkehr möglichst nicht behindern, keinen Abfall hinterlassen, dass Sie vom Verkäufer oder Taxifahrer richtiges Wechselgeld erhalten, dass Absprachen mehr oder weniger eingehalten werden, dass es Ihren Geschäftspartnern oder Ihrem Arbeitgeber außer um ihren Gewinn auch um einen guten Ruf zu tun ist, dass die Polizei sich bemüht, für Ihre Sicherheit zu sorgen und die Pensionskasse für Ihr Alter, dass die Leute in den Behörden zwar etwas umständlich und nicht immer sehr freundlich sind, sich aber letzten Endes doch bemühen, Ihr Problem zu lösen, dass Sie widrigenfalls eine gewisse Aussicht haben, Ihr Recht im Instanzenweg durchzusetzen, dass der von Ihnen gewählte Abgeordnete oder seine Partei in irgend einer Weise doch versucht, Ihre Interessen zu vertreten, dass die Gewaltenteilung im Staat eine angemessene Kontrolle seiner Organe gewährleistet und dass Politiker verschwinden, die in begründetem Korruptionsverdacht stehen.

Das alles sollten Sie vergessen, wenn Sie in ein Land wie Argentinien kommen.

Aber das ist doch eine alte Demokratie mit einer ordentlich gewählten Regierung, mit hundertjährigen Parteien, ein Land nahezu ohne Analphabeten, voller Universitäten, eine Gesellschaft mit vorbildlicher Sozialgesetzgebung, ein Vorreiter der Menschenrechte, Quelle vielfältiger Talente, die in internationalen Organisationen und Unternehmen ihren Mann stehen, darüber hinaus eines der von der Globalisierung begünstigten Schwellenländer mit beneidenswerten wirtschaftlichen Wachstumsraten!

Gewiss, aber es ist auch eine Hochburg der Scheinheiligkeit.

Glauben Sie nie dem Etikett! Aufschriften sind in einem solchen Land Wegweiser in die Verirrung, gleich der Bezeichnung Deutsche Demokratische Republik. Eine Zufahrt zur Autobahn kann durchaus auf einen Feldweg führen, und auch auf gesperrten Straßen kann man sich meist irgendwie durchwursteln. Gesetze sind Empfehlungen, gelten nur für Arme und Naive. Nicht einmal die Regierung hält sich daran. Wie bei Gericht, hat auch auf der Straße nur der Schnellere Vorfahrt oder der besser Gepanzerte.

Die Institutionen eines solchen Landes entbehren der gesellschaftlichen Bedeutung. Sie sind Einkommensquellen für die Freunde der Machthaber. Niemand kümmert sich um das Gesamtinteresse der Bürger.

Zahlreiche Generationen populistischer Regierungen haben das Land in die Struktur primitiver Gesellschaften zurückversetzt, wie sie vielleicht noch im Amazonasbecken oder auf Neuguinea zu studieren sind. Dort herrschen Familien, Clans, Stämme. Hier herrschen Familien, Freundschaftskreise, Parteiklüngel, Gewerkschaftsklüngel, gewisse OHGs, gewisse Unternehmen und Unternehmensverbände, unterstützt von den jeweiligen Medien. Werkzeuge der Auseinandersetzung sind nicht mehr Blasrohr und Machete, es sind Drohungen, Ehrabschneidungen, Bestechungen, unlauterer Wettbewerb, Streiks, Straßensperren und Vandalismus. Ohne derlei Erpressungen sind Gruppeninteressen nicht durchsetzbar.

Wenn Sie in einem solchen Land Erfolg haben wollen, müssen Sie einer Gruppe angehören. Die Auswahl sollten Sie sich sehr gut überlegen. Ihr Risiko ist nämlich, mit dem Erfolg die Denkungsart und Vorgehensweise der Gruppe zu übernehmen, und diese stünden eventuell in krassem Gegensatz zu den mitgebrachten.

Glücklicherweise gibt es in einem solchen Land immer noch Menschen, welche die heute so genannten Sekundärtugenden hochhalten – Unternehmer, Mitarbeiter, Anwälte, Verwalter, Berater, Ärzte, Künstler, Journalisten. Wenn Sie es schaffen, sich mit solchen Menschen zu umgeben, werden Sie auch im Dschungel mit einigermaßen reinem Gewissen erfolgreich sein können.

Foto:
Davonlaufen hilft auch nichts.
(Quelle: Drehort Buenos Aires.)

Escriba un comentario