Die Energie der Kartoffel

Hommage-Ausstellung für Víctor Grippo im Malba

Von Philip Norten

Anlässlich des zehnten Todestages von Víctor Grippo (1936-2002) widmet das Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires – Fundación Costantini (Malba) dem Künstler, der mit Teilnahmen an Großausstellungen wie der Documenta 11 zu den international bekanntesten argentinischen Vertretern seiner Zunft gehört, erneut eine Ausstellung.

Grippo wurde 1936 in Junín, in der Provinz Buenos Aires geboren und ging zum Studium der Pharmazie und Chemie nach La Plata, bevor er sich schließlich für Kunst einschrieb. Der Wechsel von der Naturwissenschaft zur Kunst bedeutete für ihn dabei keinen radikalen Bruch, denn die sensible Kunst von Grippo versteht sich nicht als autistische Fortschreibung einer traditionellen Kunstgeschichte, sondern verbindet – auf damals neuartige Weise – Elemente aus Kunst, Technik und Natur.

In das Universum seiner Kunst geben nun 20 Werke einen Einblick, die Marcelo E. Pacheco, Chefkurator des Malba, in einem Raum im Obergeschoss des Museums zusammengestellt hat. Im räumlichen und inhaltlichen Zentrum der Ausstellung stehen dabei Grippos Installationen, in denen das Verhältnis von Natur und Elektrizität thematisiert wird. So zum Beispiel die Arbeit “Naturalizar al hombre, humanizar a la naturaleza” (1977): auf einem galerieweißen länglichen Esstisch sind Hunderte Kartoffeln ausgebreitet. Mit Elektroden verbunden leiten sie Elektrizität weiter, die an einem angeschlossenen Voltmeter abgelesen werden kann.

Die naturwissenschaftliche Erklärung ist denkbar einfach: Kartoffeln können kleine Mengen an Strom weiterleiten und können, wenn Elektroden angeschlossen werden, als rudimentäre Batterien funktionieren. Auch andere Obst- und Gemüsesorten haben diese Eigenschaft, doch Grippo wählte bewusst die Kartoffel, wodurch sich eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten anbietet. Durch die Verbindung der Kartoffel – scheinbar primitives Nahrungsmittel – mit Apparaturen der Elektrizitätsgewinnung schafft Grippo ein Bild für seinen Gesellschaftsentwurf: Parallele Prozesse in Natur und Technik werden sichtbar, die scheinbar entgegengesetzten Welten überbrückt und die moderne Technikgesellschaft so an ihre Ursprünge rückgekoppelt.

Dass Grippo dafür bewusst die amerikanische Frucht der Kartoffel ausgesucht hat und diese durch die gewählte Präsentationsform ästhetisiert und fast sakral erhöht – der saubere weiße Esstisch mit Decke erinnert durchaus an einen Altar – kann auch als politischer Hinweis verstanden werden. Auch eine Deutung als Beitrag zur Debatte über neue Energieformen bietet sich an, die zeigt, wie aktuell das Werk noch heute ist.

Grippo hat seine Ideen durchaus als politischen Vorschlag verstanden und sich als Agent eines sozialen Wandels gesehen. Parallelen zu anderen Kunstbewegungen der Zeit sind dabei unverkennbar. Der Einsatz von ‘einfachen’ Materialien und sein anthropologisches Weltbild rücken ihn in die Nähe zu Künstlern der Arte Povera. Auch eine Parallele zu Joseph Beuys’ “Capri-Batterie” (1985) ist mehr als rein formaler Natur: auch bei diesem Werk steht die Verbindung von Natur und Energie für ein alternatives Gesellschaftsbild.

Dies mag ein Grund sein, warum Marcelo E. Pacheco Grippos Kunst im Katalog zur großen Ausstellung von 2004 auch als “conceptualismo caliente” beschrieben hat. Konzeptkunst, da er wie andere Künstler der Zeit von den traditionellen Kunstformen Malerei und Bildhauerei abrückte, aber sinnlichere Formen entwickelte und andere Ideen vertrat als die angelsächsischen Vertreter dieser Kunstrichtung.

Die weiteren Werke der Schau bestätigen den Eindruck, den die zentrale Installation hinterlassen hat. “Vida, Muerte, Resurrección” (1980) beispielsweise besteht aus vier Paaren geometrischer Bleikörper, von denen die Hälfte mit Bohnen gefüllt wurde, wobei die keimenden Bohnen die gefüllten Metallkörper langsam sprengten. Das Werk kann – gerade mit Berücksichtigung seiner Entstehungszeit – als Allegorie auf die Kraft der Natur und Menschlichkeit gesehen werden, die die kalten technischen Formen – mögliches Bild für die damalige Diktatur – überwinden können. Oder auch ‘nur’ als weiteres Beispiel für Grippos “conceptualismo caliente”.

  • Bis zum 22.10. im Malba.
  • Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.
  • Am 6. August findet die Konferenz “Huella y Memoria en la obra de Víctor Grippo: muerte y vida del objeto” statt.

Foto:
Víctor Grippo, ca. 1971.

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