“Ich repräsentiere die äußerste Grenze”

Der Roman “Scherbengericht” des Austro-Argentiniers Germán Kratochwil steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2012

Von Susanne Franz

Sein literarisches Debüt gab er im Argentinischen Tageblatt: Hier erschienen im Jahr 1958 die Kurzgeschichten “Pessimystiker” und “Tick, Tack und Sylvia” von – damals noch – Hermann Kratochwil. Der junge Schriftsteller war Leser des Tageblattes und hatte die Geschichten eines Tages einfach eingesandt. Wie es dann kam, dass sie veröffentlicht wurden – “keine Ahnung!”, sagt Germán Kratochwil heute und zeigt mit einem verschmitzten Lächeln auf die vergilbten Zeitungsausschnitte. “Da muss ich wohl ins Sommerloch hineingeraten sein”, fügt er bescheiden hinzu. Nun ist “Scherbengericht”, der erste große Roman des promovierten Sozialwissenschaftlers, der in den letzten Jahren hauptsächlich berufsspezifische Bücher auf Spanisch verfasste, in die engere Wahl für den Deutschen Buchpreis 2012 gekommen. Aus 162 Titeln, die die diesjährige Jury in den letzten fünf Monaten gesichtet hat, ist Kratochwils Roman unter die ersten 20 gewählt worden, auf die sogenannte “Longlist”.

Von dieser erlesenen Liste wird schließlich eine engere Auswahl von sechs Titeln getroffen; diese sogenannte “Shortlist” gibt die Jury am 12. September bekannt. Der Träger des Deutschen Buchpreises wird erst am Abend der Preisverleihung, am 8. Oktober 2012, zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse verkündet. Die fünf Finalisten erhalten 2500 Euro, der Erwählte 25.000 Euro Preisgeld.

“Am Dienstagabend hat mich der Verleger (des PICUS-Verlages, in dem “Scherbengericht” erschienen ist) angerufen, er war selbst überrascht”, erzählt Germán Kratochwil. Er sei bei dem Anruf am Vorabend der Bekanntgabe der Longlist am 15. August aus allen Wolken gefallen. Warum sein Roman ausgewählt wurde, könne man vielleicht den Worten des Jurysprechers Andreas Isenschmid (NZZ am Sonntag) entnehmen, der gesagt habe: “Am verblüffendsten an unserer Longlist ist wohl ihre Welthaltigkeit (…)”. “In dieser Welthaltigkeit repräsentiere ich die äußerste Grenze!”, schmunzelt Kratochwil, der in Buenos Aires und Patagonien lebt.

“Scherbengericht” handelt von vertriebenen und ausgewanderten Deutschen und Österreichern in Patagonien und der Last, die sie aus ihrer Vergangenheit mitschleppen. Der Roman wird aus vielen verschiedenen Perspektiven und mit zahlreichen Rückblenden erzählt – eine scharfe Beobachtungsgabe kommt hier zutage, die der Autor der eigenen Einwanderergeschichte zu verdanken hat.

Kratochwil wurde 1938 in Österreich geboren und erlebte die Schrecken des Krieges. “Eine Kindheit hatte ich nicht”, sagt er in Erinnerung an Nächte im Bombenkeller, die Flucht in die Schweiz und schließlich die Ankunft in Buenos Aires, als er 10 Jahre alt war, noch vollkommen offen, Teil der Neuen Welt zu werden. Sein Elternhaus blieb dabei österreichisch geprägt, es wurde Deutsch gesprochen. “Bei mir fand eine echte Vermischung der beiden Kulturkreise statt”, sagt der Schriftsteller, das sei für ihn eine große Bereicherung gewesen. Sein Roman spiegele diese Integration wider.

“Man schnuppert, man schaut sich um, man stellt Fragen”, beschreibt Kratochwil die Überlebensstrategie als junger Einwanderer in Argentinien. “Um klarzukommen, entwickelt man eine enorme Beobachtungsfähigkeit.” Dies sei die Grundlage für sein schriftstellerisches Schaffen, reflektiert der Autor, “ständig voll in der Realität drin” zu sein.

Chancen, auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises zu kommen, rechnet sich Germán Kratochwil nicht aus. Die Konkurrenz sei riesig, auf der Liste seien einige hervorragende, anerkannte Schriftsteller und auch junge Talente. “Wenn es passieren sollte, dann habe ich ein großes Problem!”, lacht er. “Ich bin doch ein Außenseiter im Literaturbetrieb.” Wesentlich für ihn im Moment ist die Arbeit an seinem zweiten Roman, einem “patagonischen Western”. Dieser spielt im Jahr 2000 und ist eine “Prequel” von “Scherbengericht”, der 2003 spielt. Als Abschluss der Trilogie, die Kratochwil vorschwebt, möchte er einen dritten Roman in der Gegenwart ansiedeln, der sich auch kritisch mit aktuellen politischen Themen auseinandersetzen soll.

“Scherbengericht” wird übrigens im Fischer-Verlag demnächst als Taschenbuch erscheinen.

(Foto des Autors von Daniel Karp.)

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