Argentinische Campesinos in deutschen Kinos
Der Film “Sachamanta” dokumentiert den Kampf der Kleinbauern
Von Nils Witte
Halbnackte Männerkörper winden sich unter den Schlagstöcken von schwarz gekleideten Polizisten in voller Kampfmontur. Mit erschreckender Regelmäßigkeit zeigt die Presse diese Bilder vom Kampf der Landlosen in Brasilien. Doch was ist mit den Landlosen und Kleinbauern in Argentinien?
Vor fast einem Jahr, am 16. November 2011, erschossen Unbekannte den Kleinbauern Cristian Ferreyra.[1] Das Interesse für den Vorfall in der Region um Santiago del Estero war groß. Ein Jahr später spricht niemand mehr von den Kleinbauern. Doch es gibt sie. Es gibt ihren Kampf. Und es gibt ihre Radiosender. Das Radio ist unverzichtbar für die tägliche politische Arbeit des “Movimiento Campesino de Santiago del Estero – Via Campesina”, kurz MOCASE-VC. Der Dokumentarfilm “Sachamanta” zeigt die stete politische Arbeit von MOCASE: Mutlose Mitstreiter motivieren, überregionale Treffen organisieren und illegal errichtete Stacheldrahtzäune niederreißen.
Seit September wird der Film der Regisseurin Viviana Uriona in Deutschland gezeigt. Den ältesten Radiosender von MOCASE – FM del Monte – gibt es seit fast 10 Jahren. Hier wird nicht nur Musik gespielt. Hier organisiert sich der Widerstand. Und den muss es auch dann geben, wenn gerade niemand nach Santiago schaut.
Urionas Film dokumentiert den täglichen Kampf der Bauern um ihre Lebensgrundlage. Nicht für ein Privileg streiten sie, sondern um das Land, das ihre Familien seit Jahrzehnten bewirtschaften. Nach dem argentinischen Gesetz gehört ihnen dieses Land ohnehin. Nur gibt es niemanden, der ihnen dieses Recht auch garantiert. Deshalb kämpfen sie selbst darum. Jeden Tag. Auch wenn gerade niemand ermordet wird.
Wie kamst Du auf die Idee, einen Film über die Kleinbauern in Santiago del Estero zu drehen?
Viviana Uriona: “Ich bin 2009 wegen meiner Doktorarbeit über freie Radiosender nach Argentinien gefahren. Ich wollte Interviews und Recherchen durchführen. In einem der Interviews fragte mich jemand, ob ich schon MOCASE kenne. Auch sie würden freie Radiosender betreiben. Also bin ich dort hingefahren, um sie kennenzulernen und habe direkt die ersten drei Stunden Filmaufnahmen gemacht. Ein Jahr später bin ich wieder hingefahren. Diesmal mit der Unterstützung eines Kameramanns. Bei diesem Besuch haben wir auch die partizipative Kameraführung eingeführt.”
Was genau bedeutet das?
Uriona: “Die Teilnehmer haben sich gegenseitig gefilmt. Wir haben sie mit der Technik vertraut gemacht und dann konnten sie selbst Interviews führen und aufnehmen.”
Eine Szene zeigt die Bauern beim Feiern und Tanzen. In den letzten Jahren forderte der Kampf der argentinischen Landlosen wiederholt Tote. Zeichnet der Film ein zu romantisches Bild des Protests?
Uriona: “Ein schwieriges Thema. Einerseits haben sich die Ereignisse, die Sie erwähnen, nach meinem Besuch zugetragen. Ich weiß nicht, ob ich heute noch dieselben Bilder bekommen würde. Andererseits muss man sagen, dass die Kleinbauern trotz aller Schwierigkeiten den Mut nicht verlieren. Die Bewegung ist nicht geprägt von Trauer, sondern von Lebensfreude. Der Film widerlegt das Klischee des bemitleidenswerten “tercer mundista”. Uns geht es nicht um die Frage, wie wir Europäer den unterentwickelten Kleinbauern helfen sollen. Ich will auch nicht den moralischen Zeigefinger erheben, von wegen ‘denen geht es schlecht, weil es uns hier gut geht’. Natürlich gibt es diese Zusammenhänge. Aber die Haltung schafft Fronten. Hier wir reichen Europäer und dort die ausgebeuteten Latinos. Das hilft niemandem. Wir müssen uns auf Augenhöhe begegnen und uns gegenseitig auf Augenhöhe helfen.”
Wodurch genau werden die Rechte der Bauern verletzt?
Uriona: “Grundsätzlich geht es darum, dass die Besitzverhältnisse ungeklärt sind. Viele der Familien leben schon seit Generationen vor Ort. Nur fehlen ihnen Besitzurkunden. Dann wird das Land verkauft, aber man überprüft nicht, ob es bewohnt ist. Das gilt insbesondere für die Provinz Santiago del Estero. Aus Sicht der Kleinbauern müsste in diesen Fällen das “derecho veinteañal” des Bürgerlichen Gesetzbuches greifen. Demzufolge gehen die Besitzrechte nach 20 Jahren auf diejenigen über, die das Land in der Zeit besiedelt und bewirtschaftet haben. Leider wissen viele nicht, dass sie das Recht beurkunden lassen müssen. Neue Besitzer schaffen Tatsachen, indem sie unbemerkt Zäune hochziehen. Wenn ein Gebiet über ein Jahr eingezäunt bleibt, erlischt der Besitzanspruch der Kleinbauern. So sieht es Artikel 2456 des Código Civil vor. Das ist deshalb problematisch, weil die Kleinbauern oft gar nicht bemerken, wenn ein Zaun errichtet wurde. Sie bemerken es zum Beispiel dann, wenn ihr Vieh nicht mehr genügend trinkt. Geht man der Sache nach, stellt man fest, dass ein Zaun den Weg zur Trinkstelle versperrt. Die Besitzer, die den Zaun aufstellen, und die Behörden, die ihn genehmigen, gehen einfach davon aus, dass das Land unbesiedelt ist. Nach 20 Jahren Kampf der Kleinbauern ist diese Ignoranz nicht mehr nachvollziehbar.”
Das bringt uns zu einer starken Szene im Film. Sie zeigt, wie die Kleinbauern geschlossen losziehen und einen der Zäune mit Äxten und Steinen zerstören. Wie kam es dazu?
Uriona: “Das war eine Aktion, die ich nur per Zufall mitbekommen habe. Bei einem Treffen in Ojo de Agua gab es mehrere Workshops. Wahrscheinlich ist hier die Idee entstanden, einige der Zäune im Süden des Landes zu beseitigen. Das kann ich nicht genau sagen. Man wusste nicht, wie lang die Zäune schon standen und wollte zur Tat schreiten, bevor das kritische Jahr abgelaufen wäre. Ein Glücksfall für den Film.”
Seit Anfang September bist Du mit dem Film auf Deutschlandtour. Nach den Aufführungen diskutierst Du mit den Zuschauern. Wie sind die Reaktionen in Deutschland?
Uriona: “Ich hatte mich vorher mit Freunden beraten, die mehr Filmerfahrung hatten. Sie haben mich gewarnt. Das Thema sei zu fremd und zu fern. Das Gegenteil ist der Fall. Bei jeder Aufführung waren die Besucher gerührt und interessiert. Sie stellen viele Fragen in den Publikumsgesprächen. Ich kann oft gar nicht alles beantworten, so vielseitig sind die Fragen. Ich bin völlig überrascht von dem tollen Feedback.”
Wie soll es nach dieser Tour weitergehen?
Uriona: “Im Oktober zeigen wir den Film an weiteren Orten in Deutschland. Natürlich wollen wir den Film auch nach Argentinien bringen. Die nötigen Mittel werben wir gerade ein. Erst wenn wir den Film der Bewegung gezeigt haben, werden wir ihn weltweit zugänglich machen. Deutschland war gewissermaßen der Lackmustest für den Film. Schließlich ist Sachamanta eine argentinisch-deutsche Produktion. Schon jetzt gibt es allerdings Anfragen aus der ganzen Welt. Wenn alles gut geht, sind wir Anfang 2013 in Argentinien.”
Was möchtest Du mit dem Film erreichen?
Uriona: “Er soll Mut machen. Mut ist wie Licht in der Dunkelheit. Der Film ist so ein Licht. Er zeigt, dass es sich lohnt, für seine Rechte zu kämpfen. Er zeigt, dass der organisierte Protest erfolgreich sein kann. Und dass er auch fröhlich sein darf.”
Warum ist Dir die Fröhlichkeit im Protest so wichtig?
Uriona: “Es ist in Deutschland schwer, ein Thema auf die politische Agenda zu bringen, dass nicht voller Trauer und Ernst ist. Ich wünsche mir mehr Frohsinn und Zuversicht im politischen Protest. Kulturalistische Rechtfertigungen finde ich übrigens unangemessen. Hier ernste deutsche, dort lachende Latinos. Das ist mir zu einfach. Es geht vielleicht eher um einen Habitus, den mensch sich angewöhnen und auch wieder abgewöhnen kann.”
Was wünscht Du Dir für die Landlosenbewegung in Argentinien?
Uriona: “Ich wünsche mir, dass wir überall auf der Welt erkennen, dass wir globale Gerechtigkeit brauchen. Dafür müssen wir auch die wirtschaftlichen Zusammenhänge verstehen. Solange wir in einem System von Gewinn durch Ausbeutung leben, wird sich nichts verändern. Deshalb wünsche ich mir, dass die Kleinbauern weiterkämpfen und sich durchsetzen können. Dass sie sich ihre Freude und ihren Mut erhalten. Auch weil sie damit andere – zum Beispiel in Deutschland – inspirieren.”
- “Sachamanta”
- Argentinien/Deutschland 2011/12
- Regie: Viviana Uriona
- Dokumentarfilm
- 50 Min., OmU
- Informationen zum Film
[1] Nach Redaktionsschluss für diesen Artikel – am 10. Oktober 2012 – töteten Unbekannte im Landkonflikt den Kleinbauern Miguel Galván.
Infos auch bei “Blickpunkt Lateinamerika” und im Blog von Misereor.
Wer kämpft um wessen Land? Kleinbauern – Landlose – Indigene
In den Ländern Südamerikas ist der Landbesitz extrem ungleich verteilt. Keine Neuigkeit. Heute sind allerdings auch viele Besitzverhältnisse ungeklärt. Was passiert, wenn es keine Besitzurkunden für das Land gibt? Wem gehört das Land, wenn es die Großgrundbesitzer vor Jahrzehnten verlassen haben und nun plötzlich die Besitzurkunden verkaufen? Und was geschieht, wenn die Besitzurkunden nicht mehr gültig sind?
In Argentinien gilt das “derecho veinteañal” des Zivilen Gesetzbuches: Wer ein Stück Land mindestens 20 Jahre besiedelt und bestellt hat, der gewinnt das Besitzrecht an diesem Land. Dem steht allerdings ein anderer Artikel des Código Civil entgegen. Wenn das Land ein Jahr lang eingezäunt bleibt, verfällt für das eingezäunte Land der Besitzanspruch. Auch die Landrechte indigener Bewohner sind in Argentinien festgeschrieben (ILO-Konvention 169, Gesetz 26.160 zur Aussetzung der Räumungen, Art. 75 der Verfassung).
Rechtlich ist also alles klar. Die Gerichte müssen nur prüfen, wer der rechtmäßige Besitzer eines Landes ist, und das Besitzrecht entsprechend durchsetzen. Warum kommt es trotzdem immer wieder zu Konflikten? Zum einen bleibt der aus dem “derecho veinteañal” resultierende Besitzanspruch oftmals unverbrieft. Außerdem werden aber immer wieder Fälle bekannt, in denen die Staatsgewalt entweder passiv ist, oder sich gegen die Kleinbauern wendet. Letztere können sich nicht auf die Gerichte verlassen, wenn es um die Durchsetzung ihrer Rechte geht. Für die betroffenen Familien geht es um ihre Existenz.
Aber welches Interesse verfolgen die Angreifer? Es sind meist argentinische Firmen oder multinationale Konzerne, die die Ländereien für sich beanspruchen. Häufig wollen sie großflächige Monokulturen wie Soja anpflanzen. Argentinien ist weltweit der drittgrößte Sojaexporteur und Weltmarktführer beim Export von Sojaprodukten und Biokraftstoffen. Deshalb kämpfen die Protestbewegungen nicht nur für ihren Landbesitz, sondern auch gegen die exportorientierte Agrarindustrie. In Abgrenzung zu Agrarkonzernen wie Monsanto bezeichnen sie sich selbst als Kleinbauern. Zu Landlosen werden sie erst, wenn andere Parteien ihren Besitzanspruch am von Kleinbauern besiedelten Land durchsetzen.
Viviana Uriona
Viviana Uriona, geboren 1973 in Pergamino, Provinz Buenos Aires, lebt seit 15 Jahren in Deutschland. Sie studierte Politikwissenschaften an der Universität Köln und der Freien Universität Berlin. Derzeit promoviert sie an der Universität Potsdam zu sozialen Bewegungen und freien Radios in Lateinamerika. Außerdem erarbeitet sie Radiofeatures, vorzugsweise für freie Radiosender. Sachamanta ist ihr erstes Filmprojekt.
(Foto: Mark Wagner)
9/9/15 a las 9/09/2015
Lieber Nils Witte, Liebe Redaktion,
der hier von euch besprochene Film “Sachamanta” hat einen Nachfolger mit dem Titel “Sin prisa pero sin pausa”. Auch dieser neue Film von Viviana Uriona und den Kameradisten läuft wieder in deutschen Kinos und alle Informationen (Trailer, Rezensionen, Termine) finden sich hier: http://www.kameradisten.org/ohne-rast-ohne-eile/
Herzliche Grüße, Mark (Kamera)
27/7/17 a las 27/07/2017
Der Film ist inzwischen online frei verfügbar.
https://www.kameradisten.org/sachamanta-ansehen/