Über Faulheit
Sind wir auf dem Weg in die Hirnlosigkeit?
Von Friedbert W. Böhm
Die Faulheit ist eine große evolutionäre Errungenschaft. Faulheit ist der umgangssprachliche Ausdruck für effiziente Energienutzung. Ein Grasfresser auf einer saftigen Wiese, der ständig umherrennt, um eine noch saftigere zu finden, verbraucht mehr Energie als er aufnimmt und fällt vom Fleisch. Gleiches gilt für ein Raubtier, das jedem potenziellen Beutetier nachjagt, statt sich auf die langsamen, kranken und alten zu konzentrieren. Im Kampf ums Dasein haben Energiesparer Vorteile gegenüber Verschwendern.
Allerdings reicht Faulheit allein für den Erfolg nicht aus. Bei Dürre müssen die Grasfresser weit wandern, um etwas Fressbares zu finden, und sie müssen wissen, wohin. Und die Raubtiere müssen ihnen folgen, neue Taktiken für die Jagd entwickeln oder sich von Rehen auf Mäuse umstellen. Die Ergänzung der Faulheit ist Kreativität, Leistungsbereitschaft, Erfahrung. Man kann auch Intelligenz dazu sagen. Deshalb sind junge Tiere nicht faul. Wenn sie nicht schlafen oder fressen, tollen sie herum, spielen, ringen. Sie üben Körper und Hirn in Fertigkeiten, die sie später in Zeiten widriger Lebensumstände brauchen werden.
Wenn Intelligenz die mühsam eingeübte zeitweilige Überwindung von Faulheit ist, dann zeugt die Abwesenheit solcher Überwindung notwendigerweise von – Dummheit. Dumme Tiere überleben nicht. Sie verhungern oder werden gefressen.
Wir Menschen sind Meister in der Umgehung oder Verringerung widriger Lebensumstände. Wenn es kalt ist, bekleiden wir uns und machen Feuer. Wenn es regnet, gehen wir unters Dach. Um nicht mühsam wilde Körner und Knollen zu suchen oder einen Braten zu erjagen, haben wir Ackerbau und Viehzucht erfunden. Reitpferd und Ochsenpflug verdanken wir Faulpelzen. Leute, welche die Arbeit lieben, hätten fortgefahren, zu laufen und mit dem Grabstock zu schwitzen. Seit Zug, Auto und Waschmaschine könnten wir uns im Grunde jedes körperliche Training ersparen. Wir überleben auch so; ein Triumph der körperlichen Faulheit.
Dass es uns trotzdem noch gibt, haben wir unserem Hirntraining zu verdanken. All die Vorrichtungen und Methoden, die unsere Muskeln entlasten, sind Ergebnisse scharfer Beobachtung, konzentrierten Nachdenkens und einer langen Kette von Versuchen und Misserfolgen. Es versteht sich von selbst, dass dieses Hirntraining bei Erfindern, Entwicklern, Produzenten, Verteilern erheblich intensiver war und ist als beim Rest von uns.
Immerhin waren die Produkte und Methoden zur Lebenserleichterung bisher so unvollkommen, dass es für unser Normalhirn noch allerlei zu leisten gab. Manche der Produkte waren zu teuer, manche der Methoden zu kompliziert, um ihren Nutzen zu rechtfertigen. Oft war etwas zu reparieren oder zur Reparatur zu tragen. Viele Arbeits- und Lebensbereiche waren nicht systematisiert oder automatisiert, so dass man, wenn man intelligent war, seinem Hirn eigene Lösungen abringen musste. Das klappte, wenn das Hirn trainiert, also nicht von Faulheit infiziert war.
Neuerdings jedoch befreit uns die Technik täglich von neuen Anforderungen ans Hirn. Artefakte werden nicht mehr repariert, sondern ausgetauscht. Auswahl und Einkauf erfolgen online. Am Arbeitsplatz sind wir der Mühe enthoben, Probleme zu analysieren und zu lösen. Wir brauchen nur noch im System die passende vorgefertigte Lösung zu suchen und auszudrucken. In den USA verkehren bereits Autos, die ohne Fahrer auskommen (oder mit einem, der mit dem Beifahrer Karten spielt und Bier trinkt). Die Elektronikindustrie zeigt stolz den Zukunftshaushalt, in dem man einem Sensor mündlich den Auftrag erteilt, die Temperatur zu verändern, diese oder jene Leuchte an- oder auszuschalten oder dem Roboter zu befehlen, die Küche zu wischen. Spielen findet immer seltener im Garten, auf der Straße oder am Bach statt, sondern an der Spielkonsole.
Wir bilden uns ein, intelligent zu sein, wenn wir die Handhabung des neuesten iPhones schnell begreifen. Dabei vergessen wir, dass dies nur eine winzige Fortentwicklung unserer jahrealten Routine im Umgang mit elektronischen Spielzeugen ist. Darauf sollten wir uns genau so wenig einbilden wie ein auf der faulen Haut liegender Hund es darf, der den neuen Postboten genauso anbellt wie dessen Vorgänger.
Wir bekommen immer weniger gelehrt, noch werden wir angehalten zu lernen, wie mit unvorhergesehenen Situationen umzugehen sei. Unser Hirntraining beschränkt sich zunehmend darauf, wie jene immer neuen, von Anderen vorgesehenen, Problemlösungen umzusetzen sind. In der Entwicklung unserer Intelligenz sind wir derart auf vorgegebene technische Dinge fokussiert, dass wir den wesentlichen Veränderungen in unserer Umwelt, die unser künftiges Leben und das unserer Nachkommen betreffen, kaum noch Aufmerksamkeit schenken. Die Politik verstehen wir nicht mehr oder verachten sie. Bevölkerungsexplosion, Klimawandel und Artensterben empfinden wir als bedrohlich, halten uns jedoch für außerstande, etwas zur Besserung beizutragen.
Das Symbol der körperlichen Faulheit ist die verbreitete Fettleibigkeit. Wollen wir wirklich, dass es demnächst durch das Symbol der massiven Magerhirnigkeit ergänzt wird?