Farbenfrohes Spektakel voller Herzblut und Rhythmus

In Gualeguaychú hat die Karnevalssaison begonnen – und begeistert die Zuschauer

Von Michael Krämer


Gualeguaychú. Um 22.30 Uhr bebt es am Samstag in Gualeguaychú. Begleitet von Tänzerinnen und gefolgt von einem blau schimmernden Krokodil schiebt sich eine überdimensionale Skulptur durch das Corsodromo. Das Publikum tanzt und kreischt im größten Karnevalsstadion Argentiniens, die rhythmischen Bewegungen der rund 28.000 Zuschauer lassen die Tribünen vibrieren. Vier Stunden lang sorgen phantasievolle Skulpturen und farbenfrohe Kostüme für Begeisterung, bevor sich die Party auf die Straßen verlagert.

Es ist ein imposanter Auftakt in der Hauptstadt des argentinischen Karnevals, die ein paar Tage zuvor noch so verschlafen daherkam wie die übrigen Orte der Pampa im Nordosten von Buenos Aires. Große Betriebsamkeit herrschte in den vergangenen neun Monaten nur versteckt in den großen Hallen Gualeguaychús, in denen Hunderte Menschen die Parade vorbereiteten. Eine gewaltige Aufgabe – die Kostüme der 700 Teilnehmer bestehen jeweils aus bis zu 500.000 Pailletten. So hat der Karneval in der Region ein vielfältiges Arbeitsangebot geschaffen. Maler, Schneider, Friseure, Schmiede und Dekorateure leben vom Karneval, insgesamt Hunderte Familien. Der Beginn der Saison erweckt aber auch die Orte jenseits der großen Fertigungshallen zum Leben.

Campingplätze und Hotels am Río Uruguay sind gut besucht und das Flussufer noch Stunden nach dem Spektakel von Touristen bevölkert. Besonders aus dem nur knapp 250 Kilometer entfernten Buenos Aires kommen viele Besucher nach Gualeguaychú. Auch der deutsche Oliver Krause hat seinen Aufenthalt in der Hauptstadt für einen Wochenendtrip unterbrochen – und hat es nicht bereut. “Es war ein unglaubliches Erlebnis. Alles ist eine Spur emotionaler, farbenfroher und intensiver als in Deutschland”, sagt der 28-jährige Rheinländer. Vor allem die Bewegungskünste haben den Jugendtrainer von Arminia Bielefeld beeindruckt: “Da können sich meine Spieler aber wohl auch die Funkenmariechen noch einiges abgucken.”

Für die Einwohner Gualeguaychús wird sich der Ansturm nun wöchentlich wiederholen. Bis zum 2. März lockt der Karneval samstags Besucher in die Provinz Entre Ríos. Unmut darüber gibt es kaum, die Einnahmen aus der Karnevalszeit entsprechen den jährlichen Umsätzen einer gesamten Kommune. Zudem hat die erstmalige Aufführung im Jahr 1997 Gualeguaychú auf die touristische Landkarte gespült. Außerhalb der mondänen Metropole Buenos Aires mit den typischen Exportschlagern Fußball und Tango zählt der Karneval in Gualeguaychú zu den Attraktionen Argentiniens. Einem Land, dessen Besonderheiten vor allem naturelle Schauspiele wie die Gletscher von El Calafate oder die Wasserfälle von Iguazú sind.

Der Stolz über den plötzlichen Ruhm lässt sich in der Namensgebung der turbulenten Zeit zum Jahresbeginn ablesen. Den Titel “Carnaval del País” – Karneval des Landes – haben sich selbst die ebenfalls nicht unbedingt unter fehlendem Selbstvertrauen leidenden Hochburgen Köln und Düsseldorf verliehen. Gualeguaychú ignoriert die landesinterne Konkurrenz aber und bezeichnet sich vielmehr weltweit auf Augenhöhe mit “den Besten aus Rio de Janeiro und Venedig”. Der argentinische Karneval vereine “die Besonderheiten brasilianischen Rhythmus’ und die Kraft der uruguayischen Murga”, doch – und da legen die Veranstalter großen Wert drauf – sei die wichtigste Zutat natürlich eine der Heimat entstammende: “Im Grunde ist es das Blut aus Gualeguaychú, mit dessen Kraft diese formidable, starke und unverwechselbare Show organisiert wird.”

Obwohl der deutsche Karneval in Südamerika weitgehend unbekannt ist, verfügen die argentinischen Feierlichkeiten vielleicht sogar über deutsche Wurzeln. Gualeguaychú galt im 19. Jahrhundert als Gebiet “massiver deutscher Immigration”, womit einige Reiseführer die “Vielzahl wunderschöner blonder Frauen” erklären. Und doch unterscheidet sich der deutsche Karneval grundlegend vom bunten Treiben in Gualeguaychú. Süßigkeiten spielen in Südamerika keine Rolle, die Hitze fördert vielmehr einen Körperkult – Kostüme beschränken sich eher auf die Regionen oberhalb des Kopfes, der Blick auf die Körper der Tänzerinnen und Tänzer bleibt bis auf die pikantesten Stellen weitestgehend uneingeschränkt.

Dennoch basiert der argentinische Karneval ebenfalls auf einem Protestgedanken. Soziale und kulturelle Hindernisse sollen überwunden und die Strukturen der modernen Gesellschaft durchbrochen werden. “Es ist beachtlich, welche Begeisterung und Leidenschaft der Karneval auslöst. Es passt zur argentinischen Mentalität, die Freuden des Augenblicks genießen zu können, ohne sich den Moment durch Sorgen vor der Zukunft beeinträchtigen zu lassen. Auch im Karneval spürt man das bewundernswerte südamerikanische Lebensgefühl”, sagt Krause. In diesem Jahr steht die Session im Zeichen der Umwelt. Gigantische Tierkreationen und Fabelwesen werden auf dem 510 Meter langen Laufsteg präsentiert und appellieren, die Kraft der Natur nicht zu unterschätzen.

Dass der Karneval nicht gerade ein klassischer Appell an die Vernunft der Menschen ist, mindert die Wertigkeit der Botschaft nicht. Dabei ist die politische Ebene nur ein Aspekt der vielschichtigen Bedeutung für die Teilnehmer. Karneval ist Ausdruck der Lebensfreude und zugleich ein wichtiger sportlicher Wettkampf. Es geht um nicht weniger als den Titel des “Königs des Karnevals”, um den die drei teilnehmenden “Comparsas” kämpfen. Jede einzelne Gruppe besteht dabei aus rund 700 Tänzern, fünf Bühnen, einem Trommel-Emsemble und einer Live-Band. Bewertet werden am Ende der Session die Phantasie in der Kostümgestaltung, die Synchronität der Choreographien und die Showelemente auf den Bühnen. Vielleicht ist das die größte Parallele zum deutschen Karneval. Auf diesem Niveau eine der Gruppen über die anderen zu stellen, erscheint eigentlich unmöglich.

Fotos von oben nach unten:

In diesem Jahr steht die Session im Zeichen der Umwelt.

Die Kostüme beschränken sich zumeist auf die Regionen oberhalb des Kopfes.
(Fotos: Michael Krämer)

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