Ethik und Ästhetik der Produktion

Click aquí para leer la versión en castellano.

Ana Lía Wertheins Ausstellung “Hacia una poética de la producción” im Centro Cultural Recoleta

Von Susanne Franz

Hat sich schon mal einer gefragt, was die riesigen weißen Säcke zu bedeuten haben, die auf dem Land am Rand der Felder liegen? Die wie regungslose Albino-Lindwürmer aussehenden Monstren heißen “silobolsas” – Silosäcke – und sind die kreative Antwort auf die Überschwemmungskatastrophe, die die argentinischen Bauern im Jahr 2007 heimsuchte. Ein gewisser Zacarías Klas hatte sie schon Jahre zuvor erfunden, jetzt erwies sich ihre Nützlichkeit, als keine Lastwagen durchkamen, um die Ernte wegzuschaffen. Tonnen und Tonnen wertvolles Getreide konnten in den dicht schließenden, temperaturbeständigen Säcken gerettet und über einen langen Zeitraum gelagert werden. Mittlerweile betreibt Herr Klas ein gutgehendes Unternehmen mit seinen “silobolsas”.

Jetzt kann man ein Exemplar dieser Riesen-Schläuche von ganz Nahem betrachten: Die argentinische Künstlerin Ana Lía Werthein hat das Monstrum im Centro Cultural Recoleta zum Herzstück ihrer Ausstellung “Hacia una poética de la producción” (Annäherung an eine Poetik der Produktion) gemacht. Majestätisch liegt der meterlange, ca. 1.50 m hohe weiße Schlauch, den mehrere Helfer mit Styropor gefüllt haben, mitten im Ausstellungssaal “C”. Das ultra-reißfeste Plastik hat Ana Lía Werthein mit Siebdruck interveniert. Mit stilisierten Bildern von landwirtschaftlichen Flächen aus der Vogelperspektive, Traktoren und anderen Landmaschinen, Klimasatelliten und Computerausdrucken weist Werthein auf die technologischen Neuerungen hin, die die Landwirtschaft im letzten Jahrzehnt revolutioniert haben. Aber auch der kleine Gaucho auf dem Pferd fehlt auf ihren Bildern nicht. Bei aller Präzision und Geistesklarheit der ausgebildeten Kunsthistorikerin und Psychoanalytikerin spürt man immer auch die Wärme und Leidenschaft, die die Argentinierin für die Landwirtschaft empfindet – sie führt selbst einen Betrieb. Und, wie der Gaucho beweist, Humor hat sie auch.

Die Ausstellung umfasst neben der künstlerisch bearbeiteten “silobolsa” Gemälde, Fotografien, Skulpturen, Schrift-Kunst und ein Video des Multitalents Werthein. Am stärksten beeindrucken den Betrachter, der das Werk der renommierten Künstlerin schon lange kennt, die neuen Gemälde aus dem Jahr 2012 – die Serie “Traslados” (Transport), die für Werthein “eine Hommage an die moderne Logistik in der Landwirtschaft” darstellt. Hier porträtiert sie neben alten Lastern und Zügen u.a. auch moderne Siloanlagen, oder auch die Arbeiter, oft ohne Gesichtszüge. “Ich will kein Individuum zeigen, sondern einen Menschen, der für Tausende andere, für jeden einzelnen von uns steht”, erklärt die Künstlerin.

Die Bilder beruhen auf von ihr selbst geschossenen Fotografien, die sie auf eine Leinwand projiziert. Dann zeichnet sie die Umrisse z.B. des Lastwagens und erreicht dann durch die Farbgebung, dass das Bild wie eine Mischung aus einem “Farbnegativ” und einem Gemälde von De Chirico wirkt. “Die Künstlichkeit meines Werkes soll ganz klar herausgestellt werden”, sagt Werthein. Auch in ihren Fotografien soll auf Anhieb deutlich werden, dass es Konstruktionen sind, die sie am Computer erschafft und mit Photoshop bearbeitet. In der Serie “Realismo mágico” mischt die Künstlerin auf beunruhigende Weise Elemente aus eigenen Gemälden und eigenen Fotos und gibt den Werken umwerfende Farben, bei denen kaum noch gesagt werden kann, wo die Natur aufhört und die Technik beginnt. Sind diese Werke “schön” oder “schrecklich”? Werthein lacht: “So ist die Natur: wunderschön und doch auch gnadenlos.”

Ebenso wie sie den Entstehungsprozess ihrer Werke offenlegt, will sie auch zeigen, wie die moderne Landwirtschaft funktioniert. Ihre Werke sollen eine Hommage sein an die technologische Revolution, die auf dem unendlichen Erfindungsreichtum des Menschen beruht. Und eine Hommage an alle diejenigen, die in der Landwirtschaft arbeiten – an den Schöpfungswillen, der dieser Arbeit zugrunde liegt, die viel mehr ist als nur ein Geschäft: Nämlich die Grundlage für die Ernährung der Weltbevölkerung.

Ana Lía Werthein, die Farmerin, die Künstlerin, will dem ländlichen Produktionsprozess Würde und Wertschätzung zurückgeben, die sie von den Regierenden im eigenen Land nicht erfährt (siehe unten, “Die Bauern und die Regierung”). Mit ihrem künstlerischen Beitrag hebt sie Ethik und Ästhetik in der landwirtschaftlichen Produktion auf besondere Weise hervor. Ihre Ausstellung im schönen Kulturzentrum Recoleta ist ein Muss in diesem Sommer!

  • Ana Lía Werthein, “Hacia una poética de la producción”.
  • Kurator: Rodrigo Alonso.
  • Centro Cultural Recoleta, Saal “C”, Junín 1930, Buenos Aires.
  • Di-Fr 14-21, Sa, So und feiertags 12-21 Uhr.
  • 30.11.-10.2.

Die Künstlerin

Ana Lía Werthein, Kunsthistorikerin und Psychoanalytikerin mit UBA-Abschlüssen, hat ihren Werdegang als Künstlerin u.a. unter der Anleitung von Lehrmeistern wie Dávila, Noé, Stupía oder Demirjian vollzogen. Fest im argentinischen Kunstbetrieb etabliert, zeigt sie ihre Werke seit 13 Jahren ununterbrochen auf der renommiertesten Kunstmesse Argentiniens, “arteBA”. Versiert in den verschiedensten Techniken der künstlerischen Produktion, ist sie mit ihren Fotos seit Jahren auf der Messe “Buenos Aires Photo” vertreten. Sie hatte bedeutende Individualausstellungen in Galerien und Kulturzentren in Argentinien sowie in Europa, den USA und Asien. Ihre Werke befinden sich im Besitz von Kunstsammlern auf der ganzen Welt.

Die Bauern und die Regierung

In Argentinien, der Kornkammer der Welt, ist die Regierung seit 2003 auf radikalem Kollisionskurs mit den Bauern. Im laufenden Jahr könnte sich der Konflikt sogar noch verschärfen. So kündigte der Präsident des argentinischen Bauernverbandes “Sociedad Rural Argentina”, Luis Miguel Etchevehere, vergangenen Sonntag an, das Jahr 2013 werde für die Bauern wegen des Regierungskurses “ein schwieriges Jahr” werden. “Die Eingriffe der Regierung in den freien Markt, die uns daran hindern, unsere Produkte normal zu verkaufen, werden durch die Handelsbilanzkrise weiter verschärft”, sagt Etchevehere. Am 8. Januar sei bei einem Treffen ein drohender Streik abgewendet worden, sagte der SRA-Chef. Das könne sich wegen der “unhaltbaren Zustände” jedoch schnell ändern. Nach den Schätzungen Etcheveheres sind seit Einführung der Beschränkungen im Jahr 2003 60.000 landwirtschaftliche Betriebe zugrunde gegangen. Gleichzeitig habe die Regierung in dem Zeitraum 60 Milliarden US-Dollar an Steuern auf die Exporte eingenommen.
(Quelle: Buenos Aires Herald)

Escriba un comentario