Mehr als bunte Fassaden

Die Conventillos – Ein besonderes Stück Architektur von Buenos Aires

Von Philip Norten


Der Stadtteil La Boca erfreut sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit bei den zahlreichen ausländischen Touristen, die nach Buenos Aires kommen. Menschenmassen aus Europa, den USA und Brasilien drängen sich über den Caminito an Restaurants und Souvenirhändlern vorbei, so dass es schwerfällt, die wirklichen Besonderheiten des Viertels zu erkennen.

Zu diesen gehört zweifelsohne der Bautyp des Conventillo. Obwohl der Name auf den kirchlichen Bautypus des Koventes verweist, ist das Conventillo aus Buenos Aires eng mit der argentinischen Geschichte verbunden: Das Ende des 19. Jahrhunderts markierte den Höhepunkt der Immigrationswelle nach Argentinien, zwischen 1880 und 1910 kamen ca. 4 Millionen Menschen aus Europa nach Argentinien. Die ursprüngliche Intention der nationalen Regierungen war es, diese neuen Bürger auf dem Land anzusiedeln und dieses nach US-amerikanischem Vorbild zu kolonisieren. Aufgrund der fehlenden Ausbildung der Neuankömmlinge und mangelnder Unterstützung durch den Staat schlug dieser Plan jedoch fehl, und die große Mehrheit der Immigranten blieb in Buenos Aires, wo der Bedarf nach günstigem Wohnraum daher stark anstieg. Da die liberalen Regierungen dieser Jahre keine aktive Stadtplanung oder Wohnungsbaupolitik betrieben, entstanden durch private Planung neue architektonische Lösungen für das Problem der rasch wachsenden Bevölkerung, deren bekannteste das conventillo ist.

Die ersten conventillos entstanden im Süden der Stadt in den Vierteln La Boca, San Telmo und Barracas. Da die Oberschicht von Buenos Aires aufgrund des Gelbfiebers von 1871 in die nördlichen Stadtviertel gezogen war, gab es hier Freiräume, die von den armen Neuankömmlingen genutzt wurden. So bestanden diese ersten conventillos aus aufgegebenen Residenzen, die ihrer neuen Funktion entsprechend umgewandelt wurden. Die um einen Hof angeordneten unterschiedlichen Wohnräume wurden nun an einzelne Familien vermietet, so dass in einem einzigen Haus mehrere Großfamilien auf engstem Raum lebten. Meist waren auch die sanitären Bedingungen sehr problematisch, da es nur eine Küche und Toilette für das ganze Haus gab. Später wurde dieser Haustypus – mehrere kleine Mietwohnungen, die um einen Hof gruppiert waren – auch in Neubauten angewandt. Den Familien standen dabei oft nur Wohnräume von 3×3 m zur Verfügung. Trotzdem lebten zum Ende des 19. Jahrhunderts ca. 25% der Einwohner von Buenos Aires – und hauptsächlich die Immigranten aus Europa – in conventillos.

In La Boca entstanden besonders viele dieser conventillos, da das Viertel mit seinem Hafen und der damals dort existierenden Kleinindustrie viele Arbeiter anzog. Aus Kostengründen wurden die conventillos aus Holz gebaut und ab 1890 zusätzlich mit Wellblech, das besser gegen Regen schützt, verkleidet. Die heute bei Touristen so beliebte Farbgebung der conventillos stammt ebenfalls aus dieser Zeit, als Farbreste aus dem Hafenbetrieb zum Streichen der Häuser verwendet wurden. Als Vorteil der conventillos erwies sich zudem, dass diese flexibel erweitert werden konnten, indem ein Obergeschoss hinzugefügt wurde.

Ab den 1910er Jahren wurden keine neuen conventillos mehr gebaut. Es waren u.a. Sozialproteste, die dafür sorgten, dass neue Formen für den sozialen Wohnungsbau gefunden wurden. Heute bietet das conventillo, abseits von den bunten Fassaden, einen interessanten Einblick in die argentinische Architektur- und Sozialgeschichte. So waren die conventillos und das mit ihnen verbundene enge Zusammenleben der Immigranten verantwortlich für die Herausbildung einer neuen gemeinsamen Identität der Neuankömmlinge aus Europa, die sich konkret z.B. in der Entwicklung des Lunfardo, des Dialekts von Buenos Aires, zeigte. Es lohnt sich also – bei gebotener Vorsicht – durch die Straßen Lamadrid, Garibaldi oder Magallanes in La Boca zu streifen, wo sich immer noch viele Beispiele dieser besonderen historischen Bauform finden lassen.

Fotos:
Conventillos in La Boca.
(Fotograf: Juan Pablo Pekarek)

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