Der Teufelskreis

Gibt es einen Ausweg?

Von Friedbert W. Böhm

Jenes Land war eines der fortschrittlichsten und wohlhabendsten gewesen. Fortschrittlich nicht nur im technischen Sinne, nein, auch was seine gesellschaftlichen Regeln anbetraf, hatte es eher als andere die Weichen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gestellt. Seine Verfassung war vorbildlich und als andernorts noch Frauen, Andersgläubige, Andersfarbige und Arme vom politischen Geschäft ausgeschlossen waren, galt dort bereits das Allgemeine Wahlrecht.

Eine vollkommene Demokratie war damit allerdings nicht erreicht. Die einfachen Leute nämlich, von denen es sehr viele gab, ließen sich von der patriarchalischen Elite oft bei den Wahlen vertreten, so dass sie auf die Ergebnisse recht wenig Einfluss hatten. Wenn die Eliten auch im Allgemeinen recht vernünftig und wohlmeinend waren, etwa ein vorbildliches Erziehungssystem und ein recht ansehnliches Gesundheitswesen schufen, waren die einfachen Leute nicht ganz zufrieden. Sie mussten zwar weniger arbeiten als in vielen anderen Gegenden und lebten trotzdem besser als dort; es änderte sich aber wenig an den traditionell sehr hohen Unterschieden in Besitz und Einkommen.

Dagegen, wurde den Leuten gesagt, ließe sich etwas tun. Es ginge doch nicht an, dass Einige tausendmal mehr besaßen und verdienten als die Anderen. Die so sprachen, waren wortmächtige, aus anderen Ländern zugereiste Gebildete, aus Ländern übrigens, in denen wesentlich mehr gearbeitet und weniger verdient wurde als in diesem. Umverteilung täte not, sagten sie. Das gefiel den einfachen Leuten. Es entstanden neue, “linke” genannte, Parteien und Bewegungen mit begeisterten Anhängern und durchsetzungsfähigen Führern. Sie wetterten gegen den “ausbeuterischen Kapitalismus des Auslands”, gewannen immer mehr Einfluss in der Volksvertretung und stellten schließlich die Regierung.

Der traditionellen Elite gefiel dies natürlich nicht. Sie stänkerte, wo sie konnte, gegen die neuen Machthaber und angesichts der zu erwartenden Umverteilungsmaßnahmen wurde ihre Bereitschaft, etwas vom Wohlstand an die Gesellschaft abzugeben, zusehends geringer. Schließlich fühlte sie sich derart bedroht, dass sie die gewählte Regierung durch einen Militärputsch absetzte.

Aber schließlich merkten auch die Militärs, dass sie nicht gegen den Volkswillen regieren konnten. Einer aus ihren Reihen setzte sich an die Spitze der Umverteiler, errang die Macht und drangsalierte die Wohlhabenden nach Strich und Faden. Dieser Oberst, dann General und seine Nachfolger wurden gelegentlich wieder von einer demokratischen Regierung abgelöst, welche wiederum… So lösten sich Militär- und gewählte Regierungen einige Generationen hindurch gegenseitig ab.

Gleich blieb nur eine nachhaltige Tendenz zur Umverteilung. Sie war sozusagen zur Mode geworden. Natürlich gab es mit der Zeit immer weniger zum Umverteilen, weil immer größere Teile der Gesellschaft mit der Zuteilung der Umverteilungsscheibchen beschäftigt oder an deren Empfang gewöhnt wurden, so dass der Volksteil, der Wohlstand schaffte, immer kleiner wurde. Wir wollen diesen Teil “die Schaffer” nennen.

Die Schaffer hatten irgendwann nur noch sehr wenig mit der traditionellen Wohlstandselite zu tun, welche durch Umverteilung, Erbteilung und die dem ererbten Reichtum eigene Lässigkeit sich praktisch verflüssigt hatte. Es waren meist Selfmademen, Leute mit Witz, Einfallsreichtum, Initiative, Unternehmer halt. Patrioten wie ein guter Teil der traditionellen Elite waren die Schaffer allerdings nicht. Weshalb soll man auch als Privatmann Gemeinsinn zeigen, wenn die Bestrebungen des Staates prioritär und erklärterweise darauf gerichtet sind, Wohlhabende zu schröpfen und Arme zu beschenken? Da hat man genug damit zu tun, das selbst Erreichte zu schützen und für eine ungewisse Zukunft vorzusorgen!

Solche Überlegungen waren auch den Führern der Umverteilungsgesellschaft nicht fern. Sie sahen keinen Grund, sich selber nicht auch als Umverteilungsbegünstigte zu sehen. Schließlich waren sie es, die einen immerwährenden Kampf gegen die Ungerechtigkeit führten und sich in ihren Ämtern aufrieben für die Benachteiligten! Kurz, sie waren mit der Zeit genauso mit der Wahrung und Mehrung ihres Privatvermögens beschäftigt wie die wirklichen Schaffer.

So ergab es sich, dass die zwiegeteilte Elite des Landes – Schaffer und Umverteiler – in einem gewissen Sinne an einem Strang zogen: Die Guten ins Kröpfchen, die Schlechten ins Töpfchen. Gewinne und Ersparnisse wurden außer Landes gebracht. Verluste und Schulden blieben zu Hause.

Und was die Steuern anbetrifft, fand eine besondere Umverteilung statt. Arme und Umverteiler zahlten sowieso keine oder kaum welche. Die Schaffer versuchten (kann man es ihnen übelnehmen?), der Schraube mit allen möglichen legalen und anderen Mitteln zu entgehen. Das war nicht einmal besonders schwierig, denn die Behörden waren so mit Umverteilen beschäftigt, dass sie die mühsame Steuereintreibung vernachlässigen mussten. Hinterziehung wurde Volkssport. Beinahe die Hälfte des Volkseinkommens wurde “schwarz” erwirtschaftet und ein guter Teil der Arbeiter und Angestellten stand auf keiner Gehaltsliste. So musste die Steuerlast auf immer wenigere Schaffer verteilt werden, diejenigen, die zu sichtbar oder zu dumm oder zu ehrlich oder zu patriotisch waren, sich ihr zu entziehen.

Unter solchen Umständen ging es dem Land nicht mehr besonders gut. Investitionen wurden, wenn überhaupt, nur noch getätigt, wenn sie kurzfristigen Gewinn versprachen. Das galt für die privaten wie für die staatlichen. Die Schaffer mussten ja damit rechnen, dass die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiteten, jederzeit von einem Tag auf den anderen zu ihren Ungunsten geändert werden konnten. Und die Umverteiler konnten kein Interesse an Projekten haben, die ihre Früchte erst abwürfen, wenn sie nicht mehr im Amt sein würden. Ganz im Gegenteil. Ihr Interesse war, die bestehenden Umstände der ungerechten Verteilung – an welchen sich trotz jahrzehntelanger Versprechen nichts geändert hatte – möglichst unverändert zu lassen. Denn wer würde sie denn noch wählen, wenn es nichts mehr umzuverteilen gäbe?

Das Erziehungssystem des Landes wurde also noch mehr vernachlässigt als die übrigen Staatspflichten, nach dem bekannten Prinzip: Bildungsferne schafft Armut. Armut wählt Umverteiler. Umverteiler schaffen Bildungsferne.

Kann es in einer Demokratie eigentlich einen Ausweg aus einem solchem Teufelskreis geben?

Es wäre schon einer vorstellbar. Sein Prinzip ist die Solidarität. Wenn der Begriff “Volk” überhaupt einen Sinn haben, wirkliches Zusammengehörigkeitsbewusstsein sich entwickeln soll, dann darf es keine Schmarotzer geben. Solche wie in jenem Lande, die seit Generationen von der Wohlfahrt leben oder sonstige unverdiente Privilegien genießen, deren Mehrung sie durch Straßensperren, Besetzung von Fabriken und öffentlichen Gebäuden – Schulen eingeschlossen – erpressen. Wer nur nimmt und nie gibt, entwickelt kein Verantwortungsgefühl für seine Mitbürger, nicht einmal für seine Mitschmarotzer. Und da er als Wähler die Geschicke seines Landes mitbestimmen darf, zementiert er Schmarotzertum und Armut.

Der Ausweg aus dem Teufelskreis könnte darin bestehen, alle Wähler zu Steuerzahlern zu machen, die dann ein doppeltes persönliches Interesse hätten: Erstens würden sie kontrollieren wollen, was mit ihren Steuern passiert. Und zweitens wäre ihnen sehr an Erziehung und Bildung ihrer Volksgenossen gelegen. Denn Erziehung und Bildung sind nun einmal Voraussetzung für das Erreichen steuerpflichtiger Einkommen. Und je mehr Steuerzahler es gäbe, desto weniger würde die Last den Einzelnen drücken.

Da Millionen armer, bildungsferner Wähler leider nicht von heute auf morgen in Steuerzahler zu verwandeln sind, wäre der Weg aus dem Teufelskreis ein umgekehrter. Es müssten aus Steuerzahlern exklusive Wähler werden. “Weh…”, hört man den Aufschrei durch alle politischen Klassen gehen, “qualitatives Wahlrecht: Ein Rückschritt in die Zeiten der Oligarchie!”

Formell mag man das so sehen. Man halte sich jedoch vor Augen, dass die heutigen wohlhabenden Wähler ganz wenig gemein haben mit den Großgrundbesitzern, Industriellen und Adeligen, zu deren Einschränkung vor über einem Jahrhundert allgemeine Wahlgesetze erlassen wurden. Heute sind das mittelständige Schaffer. Ihnen liegt es fern, einen Einbruch der Plebejer in ihren Stand zu verhindern. Ganz im Gegenteil. Sie müssen größtes Interesse an der Erweiterung des Mittelstands haben. Das bedeutet doch mehr kaufkräftige Kunden, mehr gut ausgebildete Arbeitskräfte und Berater und nicht zuletzt mehr Steuerzahler, welche dabei helfen, die allgemeine Steuerlast zu tragen. Natürlich bedeutet es auch mehr kompetente Wettbewerber. Aber Konkurrenten hat man immer, und einem echten Unternehmer sind allezeit solche lieber, die effizient und berechenbar sind, als die jetzigen, deren Stärke in Korruption, Vetternwirtschaft und Steuerhinterziehung besteht. Angesichts der zu erwartenden starken Abnahme der Schwarzarbeit müssten selbst die Gewerkschaften sich für ein Steuerzahlerwahlrecht begeisten können.

Es gäbe schon einen Ausweg aus dem Teufelskreis. Man müsste nur etwas tapferer sein als der große Komiker Valentin, der sagte: “Wollen hätten wir schon mögen, bloß dürfen haben wir uns nicht getraut.”

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