Niedergang einer Republik

Wenn man den Anfängen nicht wehrt

Von Friedbert W. Böhm

Ein gottbegnadetes Land: Beinahe alle Landschaftsformen und Klimazonen der Erde, eines ihrer fruchtbarsten Gebiete, Bodenschätze. Als Bewohner eine nicht unglückliche Mischung aus Ureinwohnern, Süd- und anderen Europäern, Arabern und Ostasiaten, Katholiken, Protestanten, Orthodoxen, Juden, Muslimen und Atheisten, kaum Analphabetismus, kein religiöser Fanatismus, wenig Aids oder andere epidemische Krankheiten.

Von einer gebildeten und weitsichtigen Elite ihrer Vorväter hatten die Bürger des Landes eine demokratische Republik geerbt mit einer Verfassung, die zu den besten der bis dahin erdachten gehörte. Eigentlich hatten die Bürger sie damals nicht gefordert. Ermüdet von zwei Generationen blutiger Bürgerkriege hatten sie sich die Verfassung mehr oder weniger überstülpen lassen. Man nahm es also nicht so genau mit ihr.

Genau besehen, nahm man nichts genau in diesem gebenedeiten Land. Wer sich einmal eingerichtet hatte, konnte ziemlich mühelos leben, jedenfalls besser als in den meisten anderen Ländern. Und er war häufig auf sich allein gestellt in den verstreuten Ortschaften oder abgelegenen Gehöften. Weitläufig- und Großzügigkeit waren angesagt. Was bedeutete denn schon der Verlust eines von Vorbeikommenden geschlachteten Rindes, wenn man Hunderte oder Tausende davon besaß! Selbst ein Toter in der Kneipe dann und wann konnte einen nicht aus der Bahn werfen – die Obrigkeit war weit weg (oder verständnisvoll) und der Vorfall schnell vergessen.

Im Umgang mit dem Nachbarn spielten die Gesetze kaum eine Rolle. Man ignorierte sich, soweit möglich, und schloss sich zusammen, soweit erforderlich. Rechte konnte man von ihm nicht einfordern. Die Währung des Zusammenlebens war der “Gefallen”. Wenn meine Leute sowieso meinen Zaun reparieren müssen, können sie auch gleich deinen nebenan in Ordnung bringen. Dafür erwarte ich, dass du meiner Frau nicht erzählst, dass du mich mit der Blonden in der Dorfgasse gesehen hast und dem anderen Nachbarn nicht, dass ich in seiner Abwesenheit meine Kühe auf seiner Weide grasen lasse. Schließlich habe ich ja auch deinem nichtsnutzigen Vetter Arbeit gegeben (obwohl dies – aber hoffentlich erinnerst du dich jetzt nicht daran – die Erwiderung deines Gefallens war, meinen Schwager in den Landrat zu wählen, obwohl er dir seit Jahren Geld schuldet).

Diese nicht unsympathische Gelassenheit wurde zur eigentlichen Tradition des Landes. Man tolerierte und wurde toleriert. Wo die Währung des “Gefallens” Ungleichheiten erzeugte, steckte man das weg. “Wer sich nicht ereifert, lebt lang”, sagte man, und, wenn man nicht selbst betroffen war, “misch dich nicht ein”.

Solange die Mehrzahl der Bürger allein oder in kleinen Flachlandgemeinschaften wohnte, funktionierte das ganz gut. Man kannte sich ja und konnte seinem Gegenüber “Gefallen” oder deren Abwesenheit in gleicher Währung heimzahlen. Grundbegriffe des allgemeinen zivilisierten Zusammenlebens wie Wahrheitsliebe, Vertragstreue, Gemeinsinn oder Pünktlichkeit waren “Sekundärtugenden” (wie sie heute in anderen Breiten genannt werden). Selbst Neubürger, die immer wieder, den Drangsalen der alten Heimat entfliehend, ins gesegnete Land kamen, vergaßen bald solche Tugenden, falls sie sie überhaupt mitgebracht hatten. Sie wollten ihretwegen ja nicht ausgelacht werden.

Es ergab sich aber mit dem allgemeinen Fortschritt der Weltgeschichte, dass große Städte entstanden mit Industrieanlagen, mit Kultur-, Sport- und Vergnügungsstätten sowie der entsprechenden Infrastruktur – eine moderne, hochkomplexe Gesellschaft eben.

Nur die Verhaltensweisen der Leute änderten sich nicht. Man lebte so unbekümmert wie eh und je. Eigentlich hätten die Bürger sich jetzt an die Verfassung erinnern müssen, die ja schließlich die Grundsätze vorgibt, nach denen man in einer solchen Gesellschaft leben muss.

Für Grundsätze hatte man aber wenig Sinn. War man nicht ohne diese hundert Jahre lang ausgekommen? War man nicht so gesegnet mit natürlichen Reichtümern, dass Wohlstand und Ruf auch ohne mühevolle Grundsätze gesichert schienen? Hatte man nicht von allen Obrigkeiten immer wieder gehört, dass man intelligent und kreativ genug sei, um grundsatzlose Lösungen für alle Probleme zu finden?

Gewiss! Nur merkte man nicht – oder gestand es sich nicht ein -, dass es gerade diese Geringschätzung der Grundsätze war, welche es dem Land verwehrte, mit der Entwicklung im Rest der Welt Schritt zu halten und seinen früheren Standard zu wahren.

Es hatte damit angefangen, dass die Elite des Landes schon früh den Grundsatz freier Wahlen missachtete. Schließlich war sie es gewesen, die dem Land Frieden sowie ein Erziehungssystem beschert hatte, das Fortschritt und Wohlstand nach sich zog. War sie dadurch nicht berechtigt, den noch recht ungebildeten und in solchen Dingen unerfahrenen Mitbürgern bei der Wahl die Hand zu führen? Es bürgerte sich also ein, dass Kandidaten für öffentliche Ämter in Klubräumen oder Parteizentralen ausgeklüngelt wurden, wobei – wie sollte es anders gewesen sein? – der “Gefallen” die Währung war. Abgesegnet wurden diese Kandidaten dann durch Stimmen der Eliten, welche, durch Überzeugung, Drohung oder Fälschung, die Stimmen der untergebenen Mehrheit mitzureißen wussten.

Mit der Zeit jedoch wurde diese Mehrheit immer erfahrener und, vor allem, informierter. Man konnte nun lesen, tat sich zusammen und lauschte den Vorträgen gebildeter Leute, die aus Europa neue Ideen und Erfahrungen mitgebracht hatten. Von “sozialer Gerechtigkeit” sprachen diese, davon, dass es eben nicht ausreiche, satt zu sein, ein Dach über dem Kopf, eine auskömmliche Arbeit zu haben und die Kinder auf eine Schule schicken zu können. Nein, meinten sie, solange es skandalöse Wohlstandsunterschiede gäbe, könne eine Gesellschaft sich nicht als gesund betrachten. Das leuchtete ein. Wer lässt sich nicht gern davon überzeugen, dass er seinen Wohlstand durch allgemeine Umverteilung vermehren kann?

Es entstanden also “volksnahe” Parteien, die irgendwann an die Macht kamen. Mit der Verfassungstreue nahmen sie es allerdings auch nicht so genau. Gleich den alten, verwendeten die neuen Eliten den „Gefallen“ als vorwiegendes oder einziges Kriterium für die Verteilung von Staatsämtern oder die Wahl von Umverteilungsbegünstigten. Im Unterschied zu jenen jedoch verfügten sie nicht über gut ausgebildete, erfahrene Mitarbeiter, denen man öffentliche Aufgaben hätte anvertrauen können. Es waren nun vorwiegend Verwandte und Freunde der Machthaber, die, abgesehen von ihrer Mittelmäßigkeit, nicht so sehr das Wohl der Allgemeinheit im Auge haben mussten wie die Erwiderung der “Gefallen”, die sie ins Amt gebracht hatten.

Umverteilung setzt zudem Dirigismus voraus. Dirigismus fördert Korruption – wo etwas verteilt wird, liegt es nahe, offene Hände zu begünstigen. Umverteilung erfordert einen großen Kuchen. Wenn dieser zu Ende zu gehen droht, kann man etwa einträgliche Privatunternehmen verstaatlichen. Dann gibt es nicht nur Gewinne zu verteilen, sondern auch viele, viele Posten. Stellt sich nun heraus, dass die Unternehmen plötzlich Verluste schreiben, ist der Kuchen wieder zu klein. Was einfacher, als ihn durch Gelddrucken zu erneuern? Es entsteht Inflation. Diese stellt nicht nur die Umverteilung auf den Kopf (schließlich verteilt sie hauptsächlich von unten nach oben), sie schafft auch Undurchsichtigkeit und ewigen Streit um Preise und Löhne.

Es liegt auf der Hand, dass Ordnung, Erziehung und Wirtschaft des Landes unter solchen Umständen zu leiden hatten. Dirigismus, Korruption und Inflation ließen den gewohnten Wohlstand zusehends schwinden. Missstimmung machte sich breit. Die Streitkräfte des Landes – konservativ, wie Offiziere halt zu sein pflegen – fühlten sich verpflichtet, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen und setzten die Regierung ab. Sie sorgten dafür, dass die Züge wieder pünktlich fuhren und man nicht mehr das ungeliebte Schwarzbrot zu essen brauchte.

Nun mussten die Offiziere aber feststellen, dass sich die Leute derart an Unordnung und “Gefallen” seitens der Machthaber gewöhnt hatten, dass sie anders nicht mehr leben wollten. Die Missstimmung war wieder da. Also blieb den Militärs nichts anderes übrig, als ein wenig Dirigismus, ein wenig Inflation und allerlei Geschenke bestehen zu lassen oder wieder einzuführen. Da man aber genauso wenig ein bisschen dirigistisch sein kann wie ein bisschen schwanger, waren Unordnung und Wohlstandsminderung bald wieder da. Nun waren die Militärs des Regierens müde und gaben das Zepter an die Politiker zurück.

So ging es einige Generationen hindurch. Mal regierten populistische Politiker, mal mehr oder weniger populistische Offiziere. Um die Verfassung des Landes kümmerten sich weder die Einen noch die Anderen. Das Volk applaudierte, wenn es Brot und Spiele gab, und wenn nicht, meckerte es und demonstrierte. Es wollte dann neue Machthaber haben. Die Verfassung war ihm egal. Dass dabei in der Politik die guten Sitten auf der Strecke blieben, merkte es nicht, oder es machte ihm nichts aus. Wenn man wählen konnte, bevorzugte es die Kandidaten mit dem überzeugendsten Charisma und den schönsten Versprechungen. Und fragte längst nicht mehr, ob diese vielleicht ihr Vermögen erschwindelt oder gar Strafprozesse anhängig hatten. Na ja, er klaut, hieß es, aber er tut etwas. Und was die eigenen Sitten anbetraf, so hatten die Leute immer weniger Abneigung, sich von den Politikern zu unterscheiden.

Bei alledem wurde stets größter Wert darauf gelegt, Verfassungs- und Gesetzestreue vorzutäuschen. Alle Schelmereien wurden auf eine Weise kaschiert, dass man sie irgendwie rechtfertigen konnte. Wenn sie am Ruder waren, ließen selbst die Offiziere ihre Gesetze gelegentlich durch eine zivile “Gesetzgeberische Versammlung” erarbeiten. Generationen von Advokaten lebten davon, immer neue Interpretationen der Spielregeln zu erfinden und mit immer neuen wohlklingenden Argumenten unters Volk zu bringen. Dieses meinte schließlich, alles glauben zu dürfen, was von der Obrigkeit lautstark verkündet wurde.

Da kam unter außergewöhnlichen Umständen eine Regierung an die Macht, die mit einer kleinen Minderheit gewählt worden war. Sie merkte bald, dass sie das große Los gezogen hatte: Einerseits hatte sich auf der ganzen Welt die Überzeugung verfestigt, dass in der Werteordnung das Geld eine ganz besondere Position einnahm, eigentlich den “Wert an sich” darstellte. Und andererseits wurde das Land als Folge der globalen Wirtschaftsentwicklung unvermittelt mit Geld überschüttet.

Dies enthob die Regierung jeder Verpflichtung, etwas für das Volk zu tun. Sie hatte ja die Verfügungsgewalt über dessen Geld. Sicherheit, Erziehung, Gesundheit waren ihr egal. Sie konnte sich völlig darauf konzentrieren, ihre Macht zu erhalten und zu vergrößern. Was ihr an Wählerstimmen fehlte, um in der Volksvertretung Mehrheiten für ihre Gesetzesvorlagen zu erlangen, das kaufte sie sich durch Abwerbung von Oppositionskandidaten. Bald funktionierte diese Vertretung nicht mehr als ein Kontrollorgan der Regierung, sondern, wie die verbliebene Opposition und neutrale Beobachter sagten, als “Notariat der Regierungsbeschlüsse”. Damit war der Weg geebnet für ein autoritäres Regime unter demokratischem Deckmantel.

Nun konnte die Regierung über den Haushalt und die Währungsreserven beliebig verfügen, den Gebietskörperschaften die gesetzlich vorgeschriebenen Anteile der Nationalsteuern willkürlich zuteilen, öffentlich Arbeiten an politische oder private Freunde vergeben, Privatfirmen entschädigungslos enteignen, Subventionen verteilen an gehorsame Medien, ONGs generös finanzieren, welche in Notstandsgebieten Wählerstimmen billig kauften, in Kulturzentren und Gefängnissen, sogar Schulen, ideologische “Aufklärung” betreiben und, durchaus auch bewaffnet, in oppositionellen Wahlbezirken Tumulte organisieren, um die dort verantwortlichen Politiker zu diskreditieren. Und wenn der Regierung das Geld auszugehen drohte, erhöhte sie die Steuern und beschränkte die Devisenkäufe des Publikums.

Dieses begann allmählich, sich zu wehren. Nicht aus der abstrakten Überlegung, dass die verfassungsgarantierte Freiheit gefährdet war. Man verteidigte sich vor Gericht gegen den ungesetzlichen Raub an Privateigentum.

Hier hatte die Regierung natürlich vorgesorgt. Sie hatte ja Geld. Und sie hatte nicht nur einen Justizminister, der die Staatsanwälte befehligte, sondern auch eine Mehrheit in dem Gremium, das über die Bestallung neuer und Beurteilung amtierender Richter entschied. Wie zufällig, landeten alle Prozesse, die Regierungsfreunde in Bedrängnis hätten bringen können, auch die skandalösesten, bei gehorsamen Richtern, welche die erwünschten Ergebnisse garantierten. Es gab aber glücklicherweise auch noch andere, seriöse, unbestechliche, welche Recht sprachen. Sie verhinderten einige der brisantesten Manöver der Regierung, etwa gegen die Presse- und damit allgemeine Freiheit und wurden darin vom Verfassungsgericht bestätigt.

So etwas passte absolut nicht in “das Modell” der Regierung. Sie ist jetzt dabei, die Justiz zu “demokratisieren”. Die Richter sollen vom Volk gewählt werden. Dies würde (wird?) der Republik den Todesstoß verabreichen.

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Todesstoß für die Demokratie: Die Regierung ist dabei, die Justiz zu manipulieren.

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