Die Krise als Chance?

Deutscher Soziologe Ulrich Beck zu einem kosmopolitischen Europa

Von Jessica Steglich


Am Dienstagabend veranstaltete die Fundación OSDE in Zusammenarbeit mit der Universidad Nacional de San Martín und der Universidad Diego Portales de Chile im Sheraton Hotel in Buenos Aires eine Konferenz zum Thema “La Crisis de Europa”. Als Ehrengast und Hauptredner war der renommierte deutsche Soziologe Prof. Dr. Ulrich Beck geladen. Moderiert wurde die Veranstaltung von dem chilenischen Soziologen Ernesto Ottone. Beck, einer der meist zitierten Soziologen der heutigen Zeit, war bis 2009 Professor der Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, und ist seither unter anderem Gastprofessor an der London School of Economics and Political Science.

Im Verlauf des Abends erläuterte Professor Beck seinen soziologischen Ansatz im Kontext der aktuellen Krise in Europa. Seiner Ansicht nach erfordert die wissenschaftliche Diskussion über diese Thematik neue Kategorien des Denkens, da der Nationalstaat als Akteur zwar noch existiere, aber in der heutigen globalisierten, transnational gewordenen Welt einen Bedeutungsverlust erfahren habe. Er plädiert dafür, von einem “methodologischen Nationalismus” zu einem “methodologischen Kosmopolitismus” überzugehen. “Der Nationalismus ist heutzutage paradoxerweise zum Feind der Nationen geworden”, so Beck, und sieht die Lösung dieses Problems in einem “kosmopolitisierten Europa”.

Für Beck steht der Sinn eines geeinten Europas außer Zweifel. Anhand von vier entscheidenden Punkten legitimierte er das Weiterbestehen des Staatenverbandes.

Zum Ersten habe das vereinte Europa historisch gesehen erstmals dauerhaften Frieden nach Europa gebracht. Es verkörpere damit den Gedanken des “Nie wieder” seiner Gründerväter und sei auch ein Symbol für den jahrzehntelangen Wohlstand der europäischen Nationen.

Zweitens verhindere die Europäische Gemeinschaft den Bedeutungsverlust der Einzelstaaten. Diese seien in einer transnationalen, globalisierten Welt, dominiert von Wirtschaftsinteressen etablierter und aufsteigender Supermächte, keineswegs in der Lage, ihre Interessen im Alleingang durchzusetzen. Als Beispiel führt Beck das Szenario eines möglichen EU-Ausstiegs Großbritanniens an, der seiner Ansicht nach zum partiellen Verfall des Landes führen könnte. Während nämlich die Waliser und Schotten sich um eine weitere Mitgliedschaft bemühen würden, könnte England als regional isolierter Akteur starke Einbußen in seiner globalen Bedeutung erfahren, prophezeit Beck.

Ein weiterer Zweck der europäischen Union könne in der Neuerfindung der Moderne liegen. Das System des “selbstmörderischen Finanzkapitalismus”, so Beck, welcher sich von Europa aus über die ganze Welt ausgebreitet und verheerende Auswirkungen nach sich gezogen habe, müsse weiterentwickelt, sozusagen repariert werden. Diese Aufgabe könne Europa in Zusammenarbeit mit anderen Ländern und der internationalen Gemeinschaft angehen.

Der vierte mögliche Sinn einer europäischen Union könnte nach Beck die Neuinterpretation des Nationalismus-Begriffs sein. Entgegen der Angst vieler Einzelstaaten, Europa würde ihre nationale Autonomie und Autorität unterminieren, schlägt Beck vor, vom Gedanken eines einzigen “europäischen Demos” abzurücken. Vielmehr könne die Vorstellung einer Vielzahl an “Demoi”, also verschiedener europäischer Völker, die gemeinsam im europäischen Projekt ihre Zukunft gestalten, den Schutz der nationalen Identitäten garantieren.

Der Soziologe äußerte sich auch zur neuen Führungsrolle Deutschlands innerhalb der Europäischen Union. Dabei benutzte er den Begriff “Merkiavelli”, eine Anspielung auf Merkels machtpolitisches Kalkül im Sinne des Politikphilosophen Niccolò Machiavelli. Beck sieht diese neue Rolle Deutschlands kritisch, da die deutsche Regierung versuche, ihre eigene Sparpolitik der EU überzustülpen, und damit Unmut und Ressentiments innerhalb der Gemeinschaft schüre. Allerdings sei Deutschland ganz ungewollt in der europäischen Hierarchie aufgestiegen und zu einer mächtigen Führungsnation avanciert, eine Rolle, vor der 1953 bereits Thomas Mann gewarnt habe.

Beck zufolge müssten die Länder dieser Erde lernen, sich mit den Augen der Anderen zu betrachten. So gesehen hält er sein Konzept auch für übertragbar auf andere Regionen. Allerdings wirft ein Publikumbeitrag zur Bedeutung von “Patria” in diesem Kontext die Frage auf, ob es historisch bedingt unterschiedliche Auffassungen von Heimat und Herkunft gibt. Insofern bleibt diskutierbar, ob andere Kulturkreise sich mit diesem Konzept ebenso identifizieren können.

Die große Zahl der Konferenzteilnehmer offenbarte jedenfalls das große Interesse, mit welchem man auch hierzulande die Entwicklungen der Krise in Europa beobachtet.

Am Ende seiner Ansprache und nach der Beantwortung einiger Publikumsfragen bedankte sich Dr. Beck bei seinem Publikum und den Veranstaltern, und stellte sich im Anschluss für Fotos und Autogramme zur Verfügung.

Foto:
Prof. Dr. Ulrich Beck weilte auf Einladung der Fundación Osde und der UNSAM in Argentinien.
(Foto: Jessica Steglich)

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