Die neue Waffe

Wirtschaftliche Stärke als Machtmittel

Von Friedbert W. Böhm

In einer Schweizer Bank erscheint ein Unbekannter mit einem Koffer. Nachdem er sich vorsichtig nach allen Richtungen umgesehen hat, fragt er flüsternd, ob man hier eine halbe Million deponieren könne. Darauf der Banker: “Sie können ruhig laut sprechen. Bei uns ist Armut keine Schande.”

Zuerst waren es Keulen, dann Flitzebögen, dann Armbrüste, Musketen, dann Kanonen, Interkontinentalraketen und Drohnen. Dagegen oder daneben wurde immer auch wirtschaftliche Stärke als Machtmittel eingesetzt. Wer Salzstraßen, die Wege der Seide oder der Gewürze kontrollierte, konnte sich Alliierte kaufen. Wer qua Sklavenarbeit oder Maschineneinsatz oder pfiffige Innovationen begehrte Produkte billiger als Andere vermarktete, hatte die Nase vorn im Wettbewerb der Gesellschaften. Er verdiente mehr Geld als Jene. Geld regiert die Welt.

Geld ist eine besondere Ware. Früher konnte man es sehen, klingen hören, anfassen, hineinbeißen, um zu fühlen, ob es echt war. Man lagerte es im Tresor, im eigenen oder dem der Bank. Die Bank wusste, wem es gehörte, und auch die Obrigkeit konnte es erforderlichenfalls erfahren. Dies galt auch noch, als das Geld seinen metallischen Charakter verloren hatte und, als bedrucktes Papier, zu einer sozusagen symbolischen Ware geworden war. Dann kam der Siegeszug der Elektronik. Die längst nicht mehr in Tresoren, sondern in Büchern gestapelte Ware Geld konnte nun in Sekundenbruchteilen von einem Buch ins andere transportiert werden.

Damit war Geld ein jederzeit universell einsetzbares Machtmittel geworden. Es fehlte aber noch etwas, um es zu einer Allzweckwaffe im Wettbewerb der Unternehmen und Nationen zu machen. Die beste Allzweckwaffe ist eine unsichtbare.

Die Sichtbarkeit von Geld ist theoretisch eingeschränkt. Das Bankgeheimnis schützt vor unberechtigter Einsicht Dritter in Bankkonten. Dennoch können Steuerbehörden und Staatsanwälte unter gewissen Voraussetzungen die Eigentümer ermitteln. Das können sie in anständigen Ländern, wo die Rechtssicherheit eine gewisse Transparenz voraussetzt. Solche Länder sind im Allgemeinen auch bereit, gegenüber den Heimatländern ausländischer Bankkunden in Kriminalfällen das Bankgeheimnis – wenn auch widerwillig – etwas zu lüften.

Es gibt aber auch andere Länder oder Rechtsbezirke. Dort lebt man davon, Geldeigentümer zu verstecken. Das mag in etlichen Fällen moralische Berechtigung besitzen, etwa wenn es darum geht, die Ersparnisse ausländischer Kunden davor zu schützen, von einer autoritären, böswilligen heimatlichen Regierung geschmälert oder gar enteignet zu werden, wie es in Nazideutschland der Fall war und mancherorts heute noch ist. In solchen “Steueroasen” werden Gelderträge kaum oder nicht besteuert. Man kann sich hinter Nummerkonten verstecken, hinter Strohmännern oder anonymen Gesellschaften mit wohlklingenden Namen. Anwälte und Buchhalter dort sind seit Generationen darauf spezialisiert, Geld unsichtbar zu machen.

Davon profitieren nicht nur zu Hause von Enteignung bedrohte brave Sparer. Erheblich größere Umsätze werden von Steuerhinterziehern jeglicher Provenienz getätigt; die Finanzminister der Kernländer können ein Lied davon singen. Und dann eignet sich das System vorzüglich zur Weißwaschung hoch krimineller Gewinne der Mafia, des Drogen- und Menschenhandels. Selbst renommierte internationale Unternehmen benutzen es nachweislich, um schwarzes Geld zu schaffen und zu bewegen, das sie benötigen, um bei korrupten Auftraggebern anzukommen.

Aus seinen möglicherweise ethisch gerechtfertigten Anfängen entwickelte sich das System zunächst in ein augenzwinkernd geduldetes Versteck für Begeher von “Kavaliersdelikten”. Im Zuge der weltweit ungezügelten Geldschöpfung der jüngsten Vergangenheit, der Globalisierung sowie der rasenden Beschleunigung der Geldbewegung jedoch begann es, ein immer bedeutenderer Teil der internationalen Finanzwirtschaft zu werden.

Die Geschäfts- und Investmentbanken – ja, auch staatliche – hatten nun riesiges Interesse, an die im immer tiefer grauen Bereich sich tummelnden Gelder heranzukommen. Sie gründeten Filialen oder Tochtergesellschaften in solchen Steueroasen. Sie verbandelten sich mit den dortigen professionellen Vertuschern und zeigten in vielen Fällen ihren Kunden Wege zum Versteck. Die dort eingehenden Beträge landeten natürlich in den Bankzentralen und dienten dort – na ja, in vielen Fällen zur Finanzierung gerade jener Länder, an denen sie vorbeigegangen waren. Inzwischen machen die namenlosen Gelder einen wesentlichen Teil der in den Weltfinanzzentren verwalteten privaten Einlagen aus. Niemand kennt den genauen Betrag. Er wird aber auf über US$ 20 Billionen (Millionen von Millionen) geschätzt.

Längst führt er in die Irre, der Ausdruck “Steueroase”. Die Inselchen in der Karibik oder im Kanal oder die Zwergstaaten im Gebirge – es gibt heute nahezu 100 davon – sind nur die Peripherie des Systems, die Greifarme der Polypen. Ihre dort gesammelten Gelder landen im Herzen der Finanzwirtschaft, in erster Linie in London und New York.

Man fragt sich, wie die Politik solche Zustände tolerieren kann. Hier muss man vor Augen haben, dass die traditionellen Industrieländer in der Realwirtschaft längst nicht mehr konkurrieren können mit den asiatischen Riesen und den neuen Schwellenländern. Diese Waffe ist stumpf. Da sich zu Wahrung und Mehrung von Ruf und Wohlstand auch der Einsatz materieller Waffen glücklicherweise verbietet, bleibt nur der Einsatz der Finanzhoheit.

Die weltweiten Finanzströme werden immer noch weit überwiegend in US$ abgewickelt. Auf solche Transaktionen sind seit Menschengedenken die westlichen Metropolen spezialisiert, wie gesagt, hauptsächlich London und New York. Dort kreuzen sich die globalen Zahlungen, landen die Überschüsse der Exportländer, werden die Beträge für weltweite Megafinanzierungen gebündelt. Dort sitzen auch die größten Investmentbanken und –fonds, Devisen- und Derivatehändler sowie die erfahrensten Wirtschaftsberater und –anwälte. Ihre Tätigkeit schafft eine Großzahl von gut bezahlten Arbeitsplätzen und ihre Steuern befeuern die nationalen Haushalte. Im Falle von Großbritannien steht die Finanzwirtschaft für über ein Zehntel des Sozialprodukts.

Wen wundert’s, dass man eine solche Waffe im internationalen Wettbewerb nicht aus der Hand geben will? So haben die Politiker der Westlichen Welt zwei Jahrzehnte lang die schwindelerregende Entwicklung ihrer Finanzsektoren nicht nur mit freundlicher Toleranz begleitet, sondern zielstrebig forciert. Alte weise Beschränkungen der Finanzwirtschaft wurden verwässert oder aufgehoben, in der Gesetzgebung dem Lobbyismus ein weites Tor geöffnet und die Kontrollen des Sektors mit der Linken gehandhabt.

Seit Lehman Bros. versucht man nun gegenzusteuern. Besonders aus dem finanziell gebeutelten Euroland sind Initiativen zur Bändigung des Finanzsektors gekommen und teilweise umgesetzt worden. Neuerdings stehen eine allgemeine Transaktionssteuer an und, endlich, eine Zähmung des “Steueroasen”-Systems. Euroland ist aber nicht das Herz der Weltfinanzwirtschaft.

Wird jenes sich die letzte Waffe zur Verteidigung seines Wohlstands sowie der Westlichen Vorherrschaft aus der Hand schlagen lassen? Wäre das überhaupt wünschenswert? Oder nachhaltig erfolgversprechend?

Foto:
Früher konnte man hineinbeißen: Goldmünze aus Indien.

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