Die Geschichten der Geschichte

Der lange Weg zur Aufklärung

Von Friedbert W. Böhm

Der Mensch ist ein reichlich unvollkommenes Wesen. Er ist nicht besonders kräftig, hat keine natürlichen Waffen, sieht schlechter als die Katze, riecht schlechter als der Hund, hört schlechter als der Fuchs; jeder Hase läuft ihm davon. Weder besitzt er ein Radar wie die Fledermaus, noch einen Elektrizitätsdetektor wie der Hai, noch kann er, wie der Zitteraal, elektrische Schläge austeilen. Etwas höhere oder tiefere Töne als die seines eigenen Geschreis kann er nicht vernehmen, geschweige denn ultraviolettes Licht sehen oder Röntgenstrahlen fühlen.

Dafür hat ihn die Entwicklung mit einem etwas leistungsfähigeren Großhirn als andere Tiere ausgestattet und mit einem Kehlkopf, der ihm erlaubt, sich mit auditiven Signalen gegenseitig besser als jene zu verständigen. Bei der Interpretation seiner Umwelt ist er so nicht mehr allein auf seine eigenen Wahrnehmungen angewiesen. Er kann Erfahrungen austauschen. Fremde Erfahrungen sind Wahrnehmungen aus zweiter Hand. Der Mensch weiß, dass diese nicht unbedingt Wahrheiten zu sein brauchen. Wie alle Lebewesen ist der Mensch jedoch geneigt, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Ernimmt gern fremde Erfahrungen als Wahrheiten an, wenn sie ihn eigenen mühsamen Nachdenkens entheben und ihm wohlige Ruhe und Sicherheit versprechen. Deshalb liebt der Mensch Geschichten.

Sein Großhirn zwingt den Menschen, für alle Vorkommnisse, vor allem die ihn betreffenden, eine Erklärung zu suchen. Im Gegensatz zu anderen Tieren (das wissen wir nicht so genau, aber wir nehmen es an) ist der Mensch befähigt, in seine Erklärungsmodelle auch Vergangenheit und Zukunft einzubeziehen. Was heute unwahrscheinlich oder unangenehm ist, kann früher oder später Tatsache oder erfreulich gewesen sein oder werden. Dies macht manche Geschichten so attraktiv.

Als wir noch Mammuts jagten, gab es wenige Vorkommnisse, die uns mehr Furcht einjagten als ein Gewitter. Der Platzregen konnte unsere Wohnstatt mit Kindern und Vorräten unter Wasser setzen, aber viel bedrohlicher waren der Blitz – er hatte schon mal jemanden erschlagen – und der darauf folgende, alle sonst bekannten Geräusche übertönende,Donner. Wir hatten keine Ahnung, wie der furchterregende Donner entstand. Da wir, die wir selber ständig Dinge schufen – Faustkeile, Schlafunterlagen, Höhlenzeichnungen, wütendes Gebrüll – uns nicht vorstellen konnten, dass es etwas gäbe, das nicht geschaffen worden wäre, schien es uns eingängig, einen Schöpfer als Urheber des Donners anzunehmen. Zweifelsohne musste dieser sehr mächtig sein. Wer konnte ausschließen, dass er nicht noch hinter vielen anderen Vorkommnissen, Erscheinungen, Dingen stand? Es war wohl tunlich, gut mit ihm zu stehen. Vielleicht ließ er sich durch Wohlverhalten und Opfer zur Milde stimmen. Wir waren begierig, Geschichten über die Herkunft des Donners zu hören und zu glauben.

Es gab zahlreiche solcher Geschichten. Überall im indogermanischen Raum, von den Tataren bis zu den Germanen, thronte im oder über dem Götterhimmel einer, der, wenn ihm etwas missfiel, mit harten Gegenständen die Erde bombardierte und es so donnern ließ. Bei Zeus und Jupiter waren es Keulen, beim vedischen Indra Felsbrocken und bei unserem Thor oder Donar war es der Hammer. Wir gedenken des Letzteren heute noch durch den Namen eines Wochentags, obwohl seine Geschichte weitgehend in Vergessenheit geraten ist.

Allerdings werden Geschichten eher aktualisiert als vergessen. Da ist etwa die von Gilgamesch, einem zum König gewordenen Halbgott, der vor beinahe fünf Jahrtausenden die Sumerer regiert haben soll und dessen Geschichte unzähligen mesopotamischen Generationen erzählt wurde. Dort ist die Rede von einer Sintflut, der die Menschen entgingen, weil ihr Gott sie gewarnt und ihnen den Bau einer Arche befohlen hatte. Brave Mesopotamier landeten damals nach dem Tod im „Land der Seligen“, dem Paradies.

Der Kern dieser Geschichte wird heute noch von Milliarden Menschen geglaubt. Sie wanderte nämlich – einer anderen Geschichte zufolge – vor etwa dreitausend Jahren mit einem gewissen Abram oder Abraham von Ur in Chaldä über die heutige Türkei nach Palästina. Diesem Abraham, der mit Hundert einen Sohn gezeugt und dann noch fünfunddreißig Jahre gelebt haben soll, hatte sein Gott eine Nachkommenschaft so zahlreich wie die Sandkörner am Meer angekündigt. Um ihn und seine Kindeskinder rankte sich die erweiterte Geschichte eines auserwählten Volkes. Es bereitete Mühe, dieses Volk bei der Stange von Abrahams Geschichte zu halten, da es ab und zu in die Fremde vertrieben wurde und immer wieder Gefahr lief, die Geschichten anderer Völker zu glauben.

Eine Zeitlang etwa lebte es in Ägypten. Manche behaupten, es sei gerade in der Regierungszeit des Pharaos Echnaton gewesen, der just mit seinem Gott Aton den Monotheismus eingeleitet hatte. Da traf Echnatons Geschichte mit der von Abraham erneuerten und erweiterten Gilgameschs auf glückliche Weise zusammen. Nach langem, mühsamem Marsch und einer dank Moses’ Gesetzestafeln glücklich widerstandenen letzten Versuchung durch das Goldene Kalb kehrte Abrahams Volk schließlich nach Palästina zurück. Dort pflegte es seine Geschichte der Auserwähltheit durch einen einzigen Gott Jahrhunderte hindurch trotz neuer Vertreibungen und ständiger Anfeindungen seitens der Nachbarn.

Wenn die Lebensumstände sich ändern, kann jedoch die beste Geschichte schal werden. Irgendwann wurde das auserwählte Volk von einem überaus mächtigen Imperium besetzt, dem Macht und Rechtsordnung wichtiger waren als alle Geschichten. Sklaven waren in jener Ordnung keine Menschen, sondern Dinge. Dies widersprach jedem Anschein sowie dem Interesse der Ärmeren im auserwählten Volk. Eine neue Idee gewann Verfechter und Anhänger: Sollte es nicht erfreulich und gerecht sein, als Mensch anerkannt zu werden, möglicherweise selbst unter Aufgabe des Privilegs, einem auserwählten Volk anzugehören? Einer der Sektierer, Sohn Gottes, wie er sagte, versprach, die Güte seines Vaters Allen zukommen zu lassen, nicht nur den Auserwählten. Seine neue Geschichte wurde natürlich nicht akzeptiert von den Verfechtern der alten, weshalb er am Kreuz endete.

Seine Geschichte aber überlebte. Nicht in seinem Volk, das kurz darauf in alle Welt verstreut wurde und dennoch seine eigene, frühere Geschichte beharrlich verteidigte. Im Imperium jedoch, das voll von rechtlosen Sklaven war, und darüber hinaus, trat seine Geschichte (welche die des Echnaton, des Abraham und des Gilgamesch beinhaltete) einen kaum glaublichen Siegeszug an. In einem halben Jahrtausend verwandelte sie sich in eine unwidersprechbare Weltsicht für den größten Teil der westlichen Welt.

Solche von vielen Millionen der unterschiedlichsten Kulturen geteilten Megageschichten unterliegen natürlich ständigen Abweichungen. Die Araber etwa, als Abrahams Abkömmlinge Vettern des auserwählten Volkes, hatten wenig gegen dessen und Echnatons (oder Moses’) Teil der Megageschichte einzuwenden. Als potente Miterben des Römischen Imperiums benötigten sie jedoch eine Rechtfertigung für ihre Eroberungen, eine eigene Geschichte. Diese wiederum teilte sich nach dem Tod des Propheten in zwei, dann mehrere Untergeschichten und eine kaum übersehbare Zahl von Interpretationen. Alle scheinen überzeugte, manche sogar fanatische Gläubige gefunden zu haben.

Der im nichtarabischen Raum der westlichen Welt verbliebene Teil der Megageschichte teilte sich ebenfalls, schon vor Verfall des Imperiums, in eine östliche und eine westliche Version, über deren jeweilige Geschichten weidlich gestritten werden musste. Im westlichen Teil war dann einige Jahrhunderte relative Ruhe. Als dort dann aber zunehmend Missbehagen entstand über gewisse autoritäre Verhaltensweisen der Obrigkeit, die zu sehr an Praktiken des antiken Imperiums erinnerten, protestierte ein Teil der Gläubigen und ersann neue Geschichten, die unter allerhand Blutvergießen verbreitet wurden. Bei den Protestanten gibt es heute in manchen Gegenden eine eigene Geschichte für beinahe jede Kapelle.

In der Renaissance erinnerte man sich wieder an die Antike. Hervorgekramt wurden nicht nur alte Mosaiken und Skulpturen, sondern auch die Geschichten der Philosophen. Bei Aristoteles entdeckte man unter Anderem, dass er die Spinnenbeine falsch gezählt hatte (8 statt 6), aber auch, und vor allem, dass Geschichten durch wissenschaftliche Forschung wesentlich glaubwürdiger gemacht werden konnten. Forschen bedeutet hingucken, nachdenken und beweisen.

Auf diese Weise entdeckte Kepler, dass Ptolomäus’ Geschichte von der Erde als Mittelpunkt des Weltalls mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Galilei bestätigte dies per Fernrohr. Ab Descartes und Newton explodierten die Naturwissenschaften. Kant, Lessing, Adam Smith, Ricardo und andere versuchten, auch menschliches Verhalten wissenschaftlich begreifbar und damit steuerbar zu machen. Darwin begründete eine Verwirklichung der Schöpfungsgeschichte, die wohl selbst nach Entschlüsselung des menschlichen Genoms noch nicht abgeschlossen ist.

Das Zeitalter der Aufklärung drohte damit, die alten Geschichten endlich ad acta zu legen. Das war aber nicht im Sinne der Erzähler und Wahrer jener Geschichten. Und auch nicht im Sinne von uns Menschen, weil wir uns ja lieber etwas Genehmes, Beruhigendes erzählen lassen als genau hinzugucken und nachzudenken. So kann es eigentlich nicht erstaunen, dass die alten Geschichten fröhlich weiterlebten. Was sich geändert hatte, war, dass sie sich jetzt gern mit einem wissenschaftlichen Firnis umgaben.

Die Industrialisierung hatte, vornehmlich in England, die Gesellschaft umgekrempelt. Der Überschuss an zweiten und weiteren Söhnen in Landwirtschaft, Adel und Militär arbeitete nun unter mäßigen bis miserablen Bedingungen in den Fabriken und Kontoren relativ weniger reicher Industrieller. Da die alten Geschichten nicht ausreichten, das Missbehagen hierüber ganz zu beschwichtigen, entstand eine neue. Die des Neuen Menschen, der seinen Eigennutz endlich vergessen und der Gesellschaft nur so viel, wie er brauchte, abverlangen, ihr jedoch alles, was er konnte, geben würde.

Diese Geschichte begeisterte einen großen Teil der Menschheit. Sie stürzte zwei östliche Imperien, kostete unzähligen Millionen Menschen das Leben und verursachte einen jahrzehntelangen Kalten Krieg. Viele halten sie unverändert für das Nonplusultra der politischen Weisheit.

Etwa gleichzeitig mit jener, und ebenfalls auf angeblich wissenschaftlichem Fundament, fand eine Erzählung immer zahlreichere Anhänger, welche verschiedene Wertigkeiten der Menschen postulierte. Je heller, desto wertvoller, hieß die Aussage. Diese Geschichte schlug ein ganzes Volk, auch einige Nachbarn, in ihren Bann und löste den größten und grausamsten Krieg der Weltgeschichte aus mit wiederum zig Millionen Toten. Allerdings reichte dies bei Manchen nicht aus, die Geschichte aus dem Hinterkopf zu verbannen.

Immerhin scheinen vernünftig begründete Argumente sich schließlich mehr und mehr durchzusetzen. Angesichts Rohstoffverknappung, Verschmutzung von Erde, Wasser und Luft sowie des Ozonlochs und Klimawandels – sicht-, greif- und fühlbare Wirklichkeiten, die keiner Geschichte bedürfen – scheint der Mensch in der Aufklärung ankommen zu wollen.

Er muss sich jetzt nur noch der letzten Geschichte entledigen, der am Meisten geliebten und am Tiefsten verankerten. Sie ist womöglich noch älter als die des Gilgamesch.

Der Geschichte des unbegrenzten Wachstums.

Foto:
Als wir noch Mammuts jagten, stellten wir uns vor, dass ein mächtiger Schöpfer Urheber des Donners sein müsste.

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