Katharsis und Neubeginn

Das Hinaufsteigen oder Hinunterlaufen von Treppen

Von Friedbert W. Böhm

Wenn man ein Alter erreicht hat, das vor nicht viel mehr als fünfzig Jahren noch als das der senilen Greise galt, heute jedoch häufig als später Ausgang der Jugend bezeichnet – und von nicht Wenigen auch so gelebt – wird, darf man Meinungen äußern, die von der einen Hälfte der Leserschaft als unrettbar abgedroschen und von der anderen als naiv empfunden werden. Meinungen betreffend, möchte ich im Übrigen beide Hälften einladen: Haben Sie keine, nehmen Sie meine. (Diesen Spruch habe ich bei FAKTuell abgekupfert, der ersten Onlinezeitung Deutschlands.)

Meine heutige Meinung bezieht sich auf die gesellschaftliche Entwicklung in zwei so verschiedenen Ländern wie Deutschland und Argentinien, an deren Schnittstellen ich seit einem halben Jahrhundert lebe. Dass ich weder Soziologe noch Historiker noch Journalist bin, wird der Leser an der Abwesenheit hochtönender Vokabeln und Phrasen erkennen. Und am Inhalt, der nicht einem Laboratorium oder Studierzimmer oder einer Redaktion entstammt, sondern dem nahen Umgang mit Hunderten von Personen und Unternehmen aller Schichten und Branchen, mit Behörden und Institutionen beiderseits des Atlantiks, das alles mit offenen Augen und Ohren und dem redlichen Bemühen um Objektivität.

In beiden Gesellschaften leben Menschen mit sehr ähnlichen allgemeinen Anlagen. Von Vorneherein unterstreiche ich meine immer wieder bestätigt gefundene Erkenntnis, dass rassische Eigenarten, falls es sie geben sollte, gesellschaftlich höchst irrelevant sind. Die schlimmsten südamerikanischen Schlitzohren, die mir untergekommen sind, waren groß, blond und blauäugig, und ich kenne etliche Schwarzhaarige mit Indianergesichtern, deren Fleiß, Gründlichkeit und Pflichtbewusstsein man in Deutschland nicht mehr alle Tage antrifft. Gesellschaftliche Eigenarten sind nicht Resultat der Genetik ihrer Mitglieder. Sie entstehen durch Traditionen. Traditionen sind die Gene der Gesellschaften. Ihre Entstehung verdanken sie dem nachhaltigen Beispiel oder dem Druck Kritischer Massen von Bürgern, die in prioritären Dingen gleichgesinnt sind.

Bevor ich hier ins Detail gehe, möchte ich jedoch zum Thema einiges Allgemeines sagen, das ich der glücklichen Übereinstimmung von viel Gelesenem mit viel Beobachtetem verdanke. Es gilt, wie gesagt, für Argentinien genauso wie für Deutschland und – da bin ich mir ziemlich sicher – gleichermaßen für den Rest der bewohnten Welt. Lasst uns also zunächst den

MENSCHEN

betrachten!

Unser Bewusstsein entsteht im Lauf des Lebens aus dem immerwährenden Zusammenspiel von Hundert Milliarden Neuronen. Diese sitzen in verschiedenen Schubladen – der rechten und der linken Hirnhälfte. Beide Hälften sind durch einen engen Kanal verbunden. Nach sehr weitgehender Übereinstimmung der Wissenschaftler besteht zwischen beiden ein Austausch von Informationen und – bis zu einem gewissen Grad – auch von Funktionen. Dennoch haben die Hirnhälften verschiedene Prioritäten. Im Normalfall ist die linke für die rechten Gliedmaßen zuständig und die rechte für die linken. Die rechte Hälfte scheint wissbegieriger, toleranter, sensibler, visionärer, also intellektueller und kreativer zu sein, während die linke für Einzelheiten, Folgerichtigkeit, Akkuratesse, also Gründlichkeit zuständig ist. Beinahe könnte man sagen, dass wir Zwei sind, ein Künstler und ein Mathematiker. Wenn ein Denk- oder Handlungsbefehl ansteht, finden die Beiden allermeist einen Kompromiss – oder wir sind unentschlossen.

Was die Wissenschaft uns nicht sagen kann ist, aus welchen Gründen oder unter welchen Umständen im Individuum das generelle Verhalten durch ein Überwiegen einer der Hirnhälften bestimmt wird. Hier sind außer der Genetik gewiss auch Umwelteinflüsse bedeutsam (schließlich wirken diese ständig auf Informationsfluss und –archive im Hirn ein) sowie permanente oder augenblicksbedingte körperliche Gegebenheiten wie etwa der Hormonspiegel. Das Zustandekommen unseres Charakters und unser Verhalten sind dementsprechend von überaus zahlreichen festen und veränderlichen Faktoren bestimmt, deren Zusammenspiel mutmaßlich nie völlig wissenschaftlich erklärt werden kann. Tiefe und Breite unserer Verhaltensmöglichkeiten sind prinzipiell unbestimmbar. Und absolut nichts bisher Bekanntes spricht dafür, dass dies nicht für alle gesunden Menschen gelten sollte, von Alaska bis Tasmanien und von Kamtschatka bis Feuerland. Wie aber kann aus einer solchen amorphen Mischung von Individuuen eine

GESELLSCHAFT

entstehen?

Zur Beantwortung dieser Frage sollte man sich in erster Linie vor Augen führen, dass der Mensch ein Rudeltier ist. Kein Einzelgänger wie die Katze oder der Dachs, kein Herdentier wie Hirsch oder Gnu. Rudeltiere wie Wölfe, Löwen oder unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, bedürfen einer gewissen Ordnung. Sie sind zum Überleben aufeinander angewiesen. Irgendjemand muss erreichen, dass Alle mitmachen, wenn es darum geht, ein Beutetier zu schlagen oder eine vielleicht längere Reise zum reifen Obstbaum anzutreten.

In der Gruppe gibt es immer Mehrere, die dieser Jemand sein möchten, je nach Veranlagung und Charakter. Es findet eine Auswahl statt, die gelegentlich blutig endet. Gewinner ist der Stärkste oder der Schnellste oder der Verschlagenste oder jener Gescheiteste, der sich beizeiten Alliierte in der Gruppe beschaffen konnte. Die anderen Gruppenmitglieder akzeptieren den Machthaber. Oder die Machthaber, denn häufig entsteht eine Hierarchie, die bestimmt, wer mit wem kopulieren darf, wer Vortritt bei der Verteilung der Beute besitzt, wer wen kraulen muss oder hacken darf – die “Hackordnung” eben. Ich habe nichts dagegen, wenn Jemand diese Anschauung, die enge Verwandtschaft zwischen menschlichen und tierischen Verhaltensweisen feststellt, als Darwinismus bezeichnet. Schließlich war Darwin einer der bedeutendsten Aufklärer überhaupt, dessen visionäre Ansichten auch nach zwei Menschenaltern noch ständig neue Bestätigung durch die Wissenschaft erfahren.

Verhaltensforscher sind sich sehr weitgehend einig, dass die Evolution bei Gruppentieren genetische Anlagen geschaffen hat, die sowohl zur Führung als auch zur treuen Gefolgschaft befähigen. Nicht nur bei Wölfen und Schimpansen, auch beim Menschen.

Allerdings besitzt der Mensch beträchtlich größere Möglichkeiten als jedes Tier, seine Nächsten zu beeinflussen oder zu manipulieren. Er gestikuliert und quiekt nicht nur, er spricht auch, schreibt, zeigt Bilder, Fotos, Filme, das alles jetzt in Sekundenschnelle global verteilt, und kann, vor allem, präziser als andere Tiere, Vergangenes zurückrufen und daraus Prognosen für die Zukunft ableiten. Erfreuliche Prognosen – Versprechungen – hören die Menschen gern. Meine Geschichte über “Die Geschichten der Geschichte” erzählt darüber Näheres.

“Transparency International”, eine dem Kampf gegen die Korruption gewidmete Organisation, veröffentlichte vor einiger Zeit eine interessante Studie über den Einfluss individueller auf gesellschaftliche Verhaltensweisen: In jeder Poblation gibt es, an beiden Extremen einer Skala von zehn, ein bis zwei absolut redliche und etwa dieselbe Menge absolut korrupter Individuen, durchschnittlich drei Extremisten also. Die sieben charakterlich weniger Definierten dazwischen tendieren dazu, ihr Verhalten der Mehrheit anzugleichen. Der scheinbaren Mehrheit. Denn wenn etwa die ein bis zwei chronisch Korrupten von ein bis zwei anderen dieser Prägung verstärkt werden und wenn diese Gruppe prominente oder lautstarke Individuen beinhaltet, dann ist sie als Kritische Masse imstande, die Mehrheit der Gesellschaft zu korrumpieren. Umgekehrt gilt, dass Redlichkeit hauptsächlich vom guten Beispiel oder den Lehren Prominenter verbreitet wird. Leider muss häufig durch Druck der Obrigkeit (wenn diese patriotisch ist) nachgeholfen werden, denn die Bereitschaft der Leute, Laster gegen Tugend zu tauschen, ist so unterentwickelt wie jene, eine Treppe hinaufzusteigen statt sie hinunterzulaufen. Das Überzeugen zum Hinaufsteigen fällt allerdings leichter, wenn es treppunten brennt oder dort der Feind lauert.

Gesellschaftliche Verhaltensänderungen sind in aller Regel langwierig. Dies gilt insbesondere für flächen- oder bevölkerungsmäßig große Gesellschaften und solche mit, nach Geschichte, Sprache, Aussehen oder Religion heterogener Einwohnerschaft. Es kann Generationen dauern, bis einigermaßen stabile

TRADITIONEN

zustandekommen.

Oft ist vom “Volkscharakter” die Rede. Der stolze Spanier, lebenslustige Italiener, gewandte Franzose, gründliche Deutsche, steife Engländer. Wie in allen Klischees, steckt auch in diesen ein Quentchen Wahrheit. Welche können die Umstände sein, die in einer Gesellschaft Traditionen hervorbringen, die den Klischees eine gewisse Berechtigung verleihen?

Es liegt auf der Hand, dass solche Umstände genauso mannigfaltig, eher noch komplizierter und weniger transparent sein müssen als die, die das Verhalten von Individuen bestimmen. Immerhin haben die Historiker (seit sie glücklicherweise etwas davon abgekommen sind, wichtige Ereignisse vorwiegend dem Genie außerordentlicher Personen zuzuschreiben) Grundtendenzen ausgemacht, welche zum Verständnis dieser Umstände beitragen können.

Da sind zunächst die natürlichen Gegebenheiten. Weder in Sibirien, noch in Feuerland, noch am Kongo oder am Amazonas haben sich bedeutende Gesellschaften entwickeln können. In Gegenden wie am Ufer eines Flusses im tropischen Urwald lebt man recht mühelos von Fischen, Früchten, Kleinwild. Das Klima zwingt weder zu wärmender Kleidung noch zu soliden Wohnungen. Man gewöhnt sich an viel Nichtstun, entwickelt wenig Kreativität, die zu höheren kulturellen Leistungen führen könnte. Das Nomadenleben erlaubt kaum größere Gesellschaften als die Familie oder die Sippe. Und am Eismeer ist man mit der lebensgefährlichen Jagd auf Essbares sowie der Herstellung von Booten, Waffen, Pelzkleidung und einigermaßen winterfesten Hütten oder Iglus derartig beschäftigt, dass kaum Zeit und Kraft für nicht Überlebensnotwendiges wie Architektur oder andere gesellschaftliche Großtaten übrigbleibt. In beiden geographischen Extremfällen werden sich hauptsächlich Traditionen des familiären oder Gruppenzusammenhalts entwickeln, solche der kleinen Hausmusik, der Handfertigkeit und des kleinen Kunsthandwerks.

Wo hingegen Klima und Umwelt sowohl fordernd als auch fördernd sind, wo man sich zum Überleben schon anstrengen muss, dann aber feststellt, dass durch geringe Zusatzarbeit Überschüsse entstehen, die das Leben erleichtern, die Zukunft sichern, Vorräte, die gelagert und gehandelt werden und damit neue Fortkommensmöglichkeiten schaffen können, die den Wohlstand und auch das Prestige heben, dort pflegen sich jene positiven Rückwirkungen zu ergeben, die zur Entwicklung von Traditionen führen, welche über jene armer Nomaden hinausgehen. Solche Gegenden sind die gemäßigten Klimazonen mit fruchtbarer Erde und ausreichenden Niederschlägen.

Wo es Überschüsse gibt, entsteht Begehrlichkeit. Erfolgversprechende Gelegenheiten zu Diebstahl, dann Raub-, dann Eroberungszügen dürften die ersten Traditionen geschaffen haben. Das hatte natürlich nur Sinn in Gegenden, wo sich größere Beute machen ließ, welche die Kosten und Risiken des Raubs überstiegen. Solche Gegenden bedeutender Überschüsse waren stets fruchtbare Gebiete, die viele Menschen ernährten und ohne große Schwierigkeiten per Land oder Wasser erreichbar waren. Das Nildelta etwa oder Mesopotamien, die fruchtbaren chinesischen Ebenen um den Jangtsekiang und den Gelben Fluss, oder auch die freundlichen Hochtäler der Kordillere.

Zuerst entstanden dort kriegerische Traditionen und solche der großen Helden, dann, aus vorübergehender Kriegsmüdigkeit, die der Diplomatie. Wortgewaltige Überzeugungskunst dient auch dem Handel – eine weitere in solchen Gegenden früh gepflegte Tradition. Soll der Handel gedeihen, braucht man Gesetze zu seiner Regulierung – eine Rechtsordnung. Zu ihrer Anwendung und um weiträumig verwalten zu können, muss man die Schrift erfinden. Folgerichtig denkend und schreibend, entstehen dann beinahe von selbst Poesie, Literatur und schließlich die Philosophie. Damit sind die Traditionen umrissen, welche die ersten Großreiche prägten und mancherorts, etwa in den Mittelmeerländern, heute noch unterschwellig in den Leuten stecken. Damit ist schon gesagt, dass ein Großreich nicht notwendig auch eine Hochkultur zu sein braucht. Es reicht für eine Gesellschaft nicht aus, andere Gesellschaften zu erobern. Sie muss auch kreativ sein, nachhaltig nützliche Dinge wie das Rad, Methoden wie die Schrift oder den Buchdruck oder Ideen wie den Monotheismus oder die Gewaltenteilung ersinnen, in Traditionen umsetzen und verbreiten.

Im mittleren Teil des europäischen Kontinents gab es während der längsten Zeit der Kulturgeschichte keine bedeutenden Überschüsse, die eingeladen hätten, sein Fell in größeren Raubzügen zu riskieren. Man lebte dort in kleinen Gemeinschaften, die sich selbst versorgen mussten, denn es gab kaum Handelswege durch die bergigen Wälder und sumpfigen Täler. Für den Erfolg kleiner Ortschaften war Macht weniger wichtig als Gemeinsinn. Hand anlegen musste jeder, denn wohlfeile Arbeitskräfte, etwa Sklaven, standen nicht zur Verfügung. Neben Fleiß und handwerklicher Geschicklichkeit waren also auch Vielfältigkeit und verantwortliches Mitdenken in allgemeinen Dingen gefragt. Hier ging es nicht zuletzt auch um Planung, denn der nächste Winter kam bestimmt. Wer nicht ausgestoßen werden und es zu etwas bringen wollte, musste diese Tugenden entwickeln. Und um sich nicht zu langweilen, fingen solche Leute im Winter zu Tüfteln an. Wenn es draußen ohnehin kaum etwas zu tun gab, konnte man ja die Zeit benutzen, um Werkzeuge und Installationen so zu verbessern, dass man im Frühjahr weniger Mühe hatte. Es entstanden Traditionen der pflichtbewussten Zusammenarbeit und der Suche nach technischem Fortschritt. Sie prägen manche Gesellschaften heute noch.

In einer schon im Altertum recht globalen Welt kam es natürlich ständig zum Austausch von Traditionen und Kulturen, mehr denn je in unserer wie nie vernetzten Gegenwart. Dennoch: Wie die Kulturen die genetischen Arteigenschaften des Individuums nie mehr als oberflächlich eindämmen konnten, scheinen Aufklärung und elektronische Sekundeninformation nicht imstande zu sein, hergebrachte gesellschaftliche Verhaltensweisen in kleineren als Generationenabständen zu ändern. Um die traditionellen Grundtendenzen demokratischer Gesellschaften zu erkennen, reicht manchmal die Analyse der Reden, Versprechungen und Taten der Politiker aus. Wenn dort Leistungsförderung und Zukunftssicherung im Vordergrund stehen, wird eine Wählerschaft angesprochen. Wenn das Ziel rasche Wohlstandsmehrung und gemeinsame Großtaten sind, ist es eine andere. Zwei grundverschiedene Gesellschaften mögen Beispiele für das Gewicht von Traditionen sein:

DEUTSCHLAND

gehört nach Klima, Landschaftsformen und Bodenqualität zu den Gegenden, in denen die Natur den Menschen fordert und fördert. Frühe Großreiche hat es dort nicht gegeben und fremde, etwa das der Römer, haben es nie voll oder nachhaltig in ihre Machtsphäre einbeziehen können.

Seine Bewohner sind weidlich gemischter Herkunft. Ganz egal, ob sie von frühen Band- oder Schnurkeramikern abstammen, von Kelten, Germanen, hängengebliebenen, eingewanderten oder angesiedelten Römern, Hunnen, Ungarn, Italienern, Hugenotten oder Polen, sie alle teilen eine Jahrhunderte währende gemeinsame Vergangenheit. Diese war – durch sehr zahlreiche politische Änderungen hindurch – für den Einzelnen gekennzeichnet durch die Notwendigkeit zu leistungsorientierter Arbeit, Gehorsam gegenüber dem Herrn und den Herren sowie einer nicht geringen Portion Eigeninitiative. Letztere unterschied selbst Leibeigene von Sklaven, denn im Gegensatz zu diesen mussten jene Überschüsse für die Obrigkeit unter eigener Regie erarbeiten. Besserung der familiären Situation war nur durch besonnene Planung und klugen Einsatz der vorhandenen Mittel zu erreichen. Neben dem Gemeinsinn entwickelten sich so Traditionen wie die der Arbeit, der Disziplin und der Selbstverantwortung. “Wie du mir, so ich dir”, “Morgenstund hat Gold im Mund”, “Erst die Arbeit, dann das Vergnügen”, “Hätt’st dein’ Mund g’halten, hätt’ dich der Bosch b’halten”, “Jeder ist seines Glückes Schmied” usw. usw..

Die politische Entwicklung Deutschlands ist von jeher durch seine Kleinteiligkeit bestimmt. Nie hatte der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation absolutistische Macht über dessen Einwohner. Das verhinderten die lokalen Könige, Kurfürsten, Fürstäbte und Freien Städte, deren wechselnde Allianzen seinem Einfluss recht enge Grenzen zu setzen pflegten. Noch bis zur Bismarckschen Gründung des II. Reiches bestanden über 40 mehr oder weniger unabhängige Staatsgebilde. Dies erklärt gewiss die Abwesenheit fabulöser Freiheitshelden wie Spartakus, Robin Hood, Wilhelm Tell oder Andreas Hofer in der deutschen Folklore. Verfolgte Querdenker hatten es meist nicht schwer, um die Ecke eine weniger verständnislose Obrigkeit zu finden. So kann es nicht erstaunen, dass die europäischen Neuerer von Luther bis Descartes in Deutschland trotz feudaler Gesamtordnung einen aufgeklärten Absolutismus zeitigen konnten, der gewissen Raum für eigene Meinungen ließ. Keine schlechte Voraussetzung für Traditionen wie Toleranz und Gelehrsamkeit.

Es war französisches Expansionsstreben, welches den nach dem Klischee so typisch deutschen Nationalismus und in dessen Folge die Autoritätshörigkeit hervorrief. Die revolutionären Postulate im eigenen Land noch nicht nachhaltig verankert habend, versuchte Napoleon ihren Export nach ganz Europa. Seine jahrelange, mit “welschen” Sitten garnierte Hegemonie über die deutschen Staaten löste dort, neben halbheimlichen, den Franzosen abgeguckten militärischen und administrativen Modernisierungen, vor allem in Preußen, starke nationalistische Emotionen aus, die von Intellektuellen und Barden in Volkes Seele genährt wurden – “Deutschland, Deutschland über Alles”.

Nach dem Sieg über Napoleon machten die Fürsten zwar einige Zugeständnisse an den Wunsch mancher Studenten und Intellektuellen nach demokratischer Öffnung, doch in der Praxis überwogen die reaktionären Methoden wiedergewonnener Macht. Aufgeklärtheit war bald suspekt und wurde verfolgt. Außer einigen standhaften Republikanern, die meist außer Landes getrieben wurden, sah das Volk wenig Grund für Widerstand. Schließlich begannen die deutschen Länder wirtschaftlich aufzuleben. Und als nach dem mit vereinten Kräften errungenen neuen Sieg über Frankreich 1871 der ersehnte Nationalstaat errichtet werden konnte, war die Begeisterung für die Obrigkeit allgemein. Anschließend wurde der Nationalismus noch geschürt durch die außerordentlichen Erfolge deutscher Ingenieurskunst und Wissenschaft. Man war dabei, England als Industrienation zu überholen, und auf der ganzen Welt lernten Maschinenbauer, Elektriker, Chemiker und Forscher Deutsch, um technische Neuigkeiten nicht zu verpassen. Wie sollten die Leute nicht den Kaiser lieben und ihm blind folgen, der Frankreich besiegt, die Nation geeint und in eine technologische und wirtschaftliche Großmacht verwandelt hatte!

Am Begeistertsten von sich war der Kaiser selbst. Er schickte Bismarck, den Erfahrenen, aber zu Behutsamen, in den verdienten Ruhestand und sich selbst an, mit seinem englischen Vetter in der Weltgeltung mindestens gleichzuziehen. Kolonien mussten her und dazu brauchte er eine starke Kriegsflotte. Seine meist adligen Generäle waren damit sehr einverstanden; auch Krupp & Co. sowie die Arbeiterschaft hatten nichts gegen eine Aufrüstung einzuwenden. Sogar die damals noch marxistischen Sozialdemokraten konnten oder wollten dem allgemeinen Großmachtstreben nicht widerstehen.

So marschierten die Deutschen geschlossen und mit fröhlichen Nelken in der Gewehrmündung 1914 in den ersten Teil des Zweiten Dreißigjährigen Krieges. Der katastrophale Verlauf und deprimierende Ausgang dieser Erfahrung reichten jedoch nicht aus, den Größenwahn in den traditionellen Eliten zu schmälern. Man hätte den Sieg verschenkt, hieß es in der von ihnen verbreiteten “Dolchstoßlegende”. Da der Feind das eigene Land nicht betreten hatte, zu Hause also kein materieller Augenschein für die Niederlage bestand, schien die Legende glaubhaft. Im Volk schlug der Größenwahn in Wut und Niedergeschlagenheit um. Und die tatsächlich unerfüllbaren Reparationsforderungen der Sieger, die zu Hyperinflation und hoher Arbeitslosigkeit beitrugen, taten ein Übriges, um Revanchegelüste zu schüren.

Adel und Militär – von jeher Träger der Macht – hatten nach Abdankung des Kaisers und Ausrufung der Republik nicht nur jene, sondern in vielen Fällen ihre Existenzgrundlage verloren oder sahen sie gefährdet. Ein großer Teil von Presse und Literatur schürte neue Kriegsgelüste durch Verherrlichung der unlängst vergeblich erbrachten Heldentaten, insbesondere die der Kriegsflotte. Die Reaktionäre schufen allerlei paramilitärische Kampfgruppen. Ihnen entgegen traten bewaffnete Milizen einer linken, vom Erfolg der Russischen Revolution befeuerten Minderheit. Von der einen Seite wurde der jetzt schon seit mehreren Generationen bestehende Nationalismus weiter verfestigt und von beiden der ebenso verwurzelte Autoritarismus. So konnte die Weimarer Republik kaum anders enden als in einer Diktatur, die sowohl nationale als auch sozialistische Befriedigung versprach – die der Nazis.

Vor und während des zweiten, voraussehbaren Teils jenes Weltkrieges gelangten die Traditionen des deutschen Nationalismus und Autoritarismus – mit Unterstützung eines bis dahin nie zu solcher Zerstörungskraft gelangten Rassismus – zu extremer Reife und verbrecherischer Wirkung.

Nach Kriegsende hatte es viele Millionen Tote, Verwundete und Vertriebene gegeben; die Metropolen waren dem Erdboden gleichgemacht, die Industrie zerstört oder abtransportiert. Das Land hatte einen guten Teil seines Territoriums und seiner leistungsfähigen Menschen verloren; die Nation war zweigeteilt und unterstand der Autorität der Sieger. Deutschland war zum Paria der Nationen geworden.

Geblieben waren die Traditionen. Die althergebrachten der harten Arbeit und des Gemeinsinns erwiesen sich als überaus wichtig fürs Überleben und den – mit großmütiger Hilfe der westlichen Siegermächte – unerwartet raschen Wiederaufbau. Hier mögen auch die gewohnte Disziplin und Obrigkeitshörigkeit nützlich gewesen sein, denn die Leute ließen sich die Umerziehungsmaßnahmen der Alliierten beiderseits des Eisernen Vorhangs ohne hörbares Murren gefallen.

Damit war aber noch längst keine demokratische, dem Recht und den guten Sitten entschieden verpflichtete Gesellschaft geschaffen. Eine Gesellschaft, die in einem Umfeld von überbordendem Nationalismus in dritter Generation gelebt hatte und selbst die Kinder mit autoritären Parolen und rassistischen Vorurteilen vollgestopft hatte, verwandelte sich auch nach der größten Katastrophe nicht von heute auf morgen in eine liberale Demokratie. So schwelte nationalsozialistisches Gedankengut noch für eine weitere Generation in zahlreichen Hinterköpfen. Glücklicherweise war der neue Zeitgeist günstig für eine Minderheit, die, gewiss auch in Erinnerung an alte basis-demokratische Erfahrungen in freien Städten, Gilden und Vereinen, mit der Zeit – und dem “Wirtschaftswunder” – zur kritischen Masse wurde, welche eine Rückführung des Landes in die Völkergemeinschaft und endlich sogar seine Wiedervereinigung ermöglichte.

Damit will ich nicht behaupten, dass die deutsche jetzt eine in positiven Traditionen nachhaltig gefestigte Gesellschaft sei. Nach Erreichen neuen Wohlstands hat sie sich (allerdings in guter internationaler Kumpanei) freudig einem Konsumismus hingegeben, der schwerlich mit Webers Protestantischer Arbeitsethik vereinbar ist. Und ihre bewährten alten kaufmännischen Prinzipien wie “leben und leben lassen” hat sie ziemlich schnell hintangestellt, als vor einer Generation das angelsächsische “winners take it all” Mode und zu “Geiz ist geil” wurde.

ARGENTINIEN

ist mehr noch als Deutschland mit günstigen landwirtschaftlichen Voraussetzungen gesegnet. Es besitzt fruchtbarste Böden im Überfluss, außerdem beinahe alle denkbaren Landschaftsformen in beinahe allen Klimata. Die Natur hätte also wie dort menschliche Präsenz von Beginn an fordern und fördern können.

Allerdings liegt das Land zwischen zweien der größten Weltmeere, weitab von den eurasischen frühen Hochkulturen, die sich gegenseitig befruchteten und auf benachbarte Gesellschaften ausstrahlten. Auch waren die für den Ackerbau im Flachland besonders geeigneten Getreidearten wie Weizen, Roggen oder Reis in Amerika unbekannt, so dass sich eine Landwirtschaft, die größere Gesellschaften hätte ernähren können, kaum entwickelte. Pferd und Rad fehlten, so konnten einzelne örtliche Erfahrungen nicht flächendeckend verbreitet werden. Der größte Teil des Landes war überaus dünn von Nomaden bewohnt. Sie lebten in primitiven Unterkünften von den Fischen der großen Flüsse und jagten mit ihren Boleadoras Pampastrauße.

Über die Traditionen der Ureinwohner Argentiniens ist wenig bekannt. Im Kernland und in Patagonien werden es die bei nicht sesshaften Völkern üblichen gewesen sein: Sippenzusammenhalt, persönlicher Mut und Geschick auf der Jagd und im Krieg, diffuser Götterglaube. In den Tälern der Kordillere und an den Oberläufen der großen Flüsse Paraná und Uruguay waren unter dem Einfluss (oder dem Kuratell) der Inkas größere Stammesverbände entstanden, wo Gemeinsinn erforderlich war, landwirtschaftliche und handwerkliche Fähigkeiten tradiert wurden, man also einigermaßen fleißig und diszipliniert sein musste und wo politische und religiöse Rituale zu einem größeren Maß an geistiger Tätigkeit führten.

Solche Traditionen wurden nach der Konquista brüsk unterdrückt oder durch die neuen Umstände radikal modifiziert.

Fruchtbares Land interessierte die Spanier nicht; ihnen ging es um Edelmetalle und wohlfeile Macht. Utz Schmidl beschrieb wunderschön, wie die Eroberer den Paranáfluss, von dem sie glaubten, dass er sie zum Silber führe, schnurstracks, an allen armen Nomadengruppen vorbei, bis ins heutige Paraguay hochfuhren, wo sie endlich freundliche Guaraníindianer trafen, die ihnen nicht nur Fisch zu essen gaben, sondern auch Fleisch, Mais und Kürbisse. Außerdem waren die Guaranífrauen erfreulich zugänglich. Dort gründeten sie Asunción, ihre erste feste Niederlassung im späteren Vizekönigreich Rio de La Plata.

Die Jesuitenmissionare begannen mehrere Entwicklungsprojekte, die eine harmonische Zusammenführung einheimischer Traditionen und Fähigkeiten mit dem Christentum und europäischen Kulturen zum Ziel hatten. Nach wenigen Generationen beachtlich positiver Erfahrungen (deren Spuren heute noch in Paraguay zu spüren sind) wurde dieser Ansatz von der spanischen Krone und der Kirche brutal abgebrochen. Die überlebenden Guaraníes kehrten in die Wälder zurück, wo sie das bei den Jesuiten Gelernte weitgehend vergaßen und nur schwer zu ihren eigenen Traditionen zurückfanden.

Zu jener Zeit hatte Spanien bereits die Inkas als Ordnungsmacht der teilweise tausendjährigen Kulturen in den Tälern und Hochebenen der Westkordillere von Ecuador bis Chile ersetzt. Deren Mitglieder wurden peu à peu zu Sklaven in Bergbau und Landwirtschaft degradiert. Oder, wie die immer aufmüpfigen Quilmesindianer aus dem argentinischen Calchaquíhochtal, einfach an die La-Plata-Mündung umquartiert, wo sie ihre Identität rasch verloren.

Das Kernland Argentiniens diente den Spaniern nahezu ausschließlich als Militär- und Handelskorridor zwischen den Atlantikhäfen Montevideo/Buenos Aires und Lima, dem Hauptquartier ihrer Herrschaft mit seinem Pazifikhafen Callao. Hier entstanden die ersten Ortschaften. Was außerhalb des Korridors vorging war Nebensache. Dort hatten sich entschlüpfte Pferde und Rinder derart vermehrt, dass man sie wie Wild jagen konnte.

Für die Indianer der Pampa und Patagoniens waren diese ein Geschenk des Himmels. Im Nu verwandelten sie sich in hervorragende Reiter und Pferdezüchter. Die Stuten aßen sie und auf den Hengsten bekriegten sie sich gegenseitig und bedienten sich häufig bei den Handelskarawanen des Korridors, nahmen gern auch weiße Frauen mit. Als im frühen XIX. Jahrhundert der Korridor sich auszudehnen begann, immer mehr Gehöfte im Binnenland entstanden und man die wilden Rinder allmählich in halbzahmen Herden – immer noch ohne Zäune – zusammenfasste, da entdeckten die Indianer den Handel. Sie überfielen die Gehöfte, raubten einige tausend oder zehntausend Rinder und trieben diese über die Kordillere nach Chile, wo ein hungriger Markt dafür bestand. Sie entwickelten Traditionen kriegerischer Räuber, auch heuchlerischer Diplomaten, denn an den Schnittstellen zwischen “Zivilisation und Barbarei” waren immer wieder Waffenstillstände, Auslösung von Geiseln sowie Reparations- oder Schutzgeldzahlungen zu verhandeln, die natürlich meistens keinen Bestand hatten.

Inzwischen hatten Bolívar von Venezuela und San Martín von Südargentinien aus in einem erfolgreichen Befreiungskrieg die Herrschaft des durch napoleonische Besatzung geschwächten Spanien abgeschüttelt. San Martín, ein in Spanien ausgebildeter und einer englischen Freimaurerloge angehörender Offizier, war mit prekär ausgerüsteten und ausgebildeten Truppen über die Anden nach Chile gesetzt, hatte dort mit O’Higgins die Spanier geschlagen und war bis Bolivien/Peru vorgedrungen, wo er sich mit Bolívar traf. Eine Großtat, die ihn in den Übervater des späteren Nationalstaats Argentinien verwandeln sollte. Allerdings wollte er mit komplizierter Politik nichts zu tun haben und kehrte nach Europa zurück, bevor seine und andere Siege in ein neues Staatsgebilde umgesetzt werden konnten.

Von Nationalstaat war nämlich zunächst wenig zu sehen. Allerlei primitive Lokalgrößen versuchten sich als Erben der den Spaniern entrissenen autoritären Macht. Ihnen standen progressive Kräfte gegenüber, die eine aufgeklärte Gesellschaft anstrebten – “Barbarei gegen Zivilisation”. Es begann ein blutiger Bürgerkrieg, der nach einer guten Generation ein vorläufiges Ende nahm durch die Übermacht des Herrschers über die Provinz Buenos Aires, Rosas, eines halbgebildeten, gerissenen Großgrundbesitzers.

Nach Abzug der Spanier war die Stadt Buenos Aires mit ihrem (nach Verselbständigung Montevideos) einzigen Seehafen die Metropole des ehemaligen Vizekönigreichs geworden. Handel mit englischer Schmuggelware und die Ausfuhr getrockneter Rinderhäute hatten dem Platz Wohlstand beschert. Rosas regierte auf eine Art, die man als Kombination feudalistischer spanischer und neuerworbener indianischer Traditionen bezeichnen könnte. Er wurde zu einem Tyrann antiken Musters. Seinen Anhängern war er ein großzügiger Patriarch; den Gegnern ließ er gelegentlich öffentlich den Bauch aufschlitzen.

Es bedurfte einer weiteren Generation, bis aufgeklärte patriotische Intellektuelle den Landlord Urquiza nach seinem Sieg über Rosas überzeugen konnten, einer modernen, rechtsstaatlichen Verfassung zuzustimmen, die schließlich von den ermüdeten übrigen Caudillos akzeptiert wurde. Vernünftige Präsidenten wie Mitre, Sarmiento, Avellaneda und Roca verschafften dem Land größeren inneren Frieden, Fortschritt, schließlich, zum Wechsel ins XX. Jahrhundert, Wohlstand und internationale Geltung.

Allerdings war ihnen völlig klar, dass ihr Volk das ihm übergestülpte Grundgesetz weder verstanden hatte noch sich dafür interessierte. Es bestand aus halb integrierten Ureinwohnern, den späten Nachkommen der wechselnden Beziehungen zwischen ledigen, bildungsfernen Konquistadoren und noch bildungsferneren Indianerfrauen, hängengebliebenen spanischen Funktionären oder Kaufleuten, die immer noch darauf warteten, auf feudalistische Art “Südamerika zu machen”, neben einigen nach Invasionsversuchen dagebliebenen Engländern und wenigen anderen Mitteleuropäern. Ein wirres Gemisch aus Traditionen, die sich nur darin glichen, alles andere als staatstragend zu sein. Es war erforderlich, die Bevölkerung des verzweifelnd dünn besiedelten Landes durch qualifizierte Neubürger zu vergrößern und gleichzeitig zu kultivieren.

Man gründete also Organisationen zur Förderung der Einwanderung mitteleuropäischer Landwirts- und Handwerkerfamilien. Billiges oder gar geschenktes Land wurde versprochen (und manchmal auch gewährt) sowie Hilfe beim Erwerb von Werkzeugen, Saatgut, Vieh und bei der Assimilation. Es kamen Viele, nicht nur aus Mitteleuropa: in Russland verfolgte Juden (deren Urenkel heute noch umgangssprachlich “Russen” genannt werden), arme Schweizer Bergbauern, Polen, Deutsche, zahlreiche des Osmanischen Reiches überdrüssige Araber (heute noch “die Türken”). Wie bei derartigen Umsiedlungsmaßnahmen üblich, ließen sich die Ankömmlinge gruppenweise im Binnenland nieder und hatten zunächst wenig Kontakt mit Einheimischen. Sie brachten jedoch den Ackerbau mit, der bis dahin den auf ihrem Pferd festgewachsenen Gauchos nahezu unbekannt war.

Der Ackerbau krempelte das Land um. In Mitteleuropa hatte die Industrialisierung Heere von Landarbeitern in die Städte gelockt, rückläufige Getreideproduktion und steigender städtischer Bedarf also großen Nachfrageüberhang nach Nahrungsmitteln ausgelöst. Argentinien bereitete sich vor, diesen zu befriedigen. Allerdings fehlten dafür die fleißigen Hände. Man besorgte sie in Spanien und, vor allam, Süditalien, wo Armut herrschte und auch die sprachlichen Voraussetzungen günstig waren. Hunderttausende Saisonarbeiter wurden jährlich eingeschifft und nach der Ernte wieder repatriiert. Das war für Arbeitgeber und –nehmer umständlich und teuer. Es bot sich an, besser gleich hierzubleiben und die Familie nachzuholen. So vervielfachte sich die Einwohnerzahl des Landes in wenigen Jahren. Mit den Einwanderern kamen deren Vorstellungen und Sitten. Es waren nicht gerade die von den Verfassungsvätern gewünschten, denn meist kamen jene aus noch ziemlich feudalistisch geprägten Gegenden.

Mittlerweile hatte man die räuberischen Indianer teils zurückgedrängt, teils vordergründig integriert, wodurch die Ackerbaufläche immens erweitert worden war. Neben Häuten und Talg wurden nun auch Getreide, Wolle und gedörrtes, bald Kühlfleisch exportiert. Die Estancieros und Kaufleute wurden reich. Sie errichteten jedoch nicht nur Schlösser auf ihren Landsitzen und Paläste in der Hauptstadt. Mit ihren Steuern (und ausländischem Know How) schuf der Präsident Sarmiento ein beispielhaftes, landesweites Schulsystem. Englische Firmen bauten ein vorbildliches Eisenbahnnetz, das die wichtigsten Landesteile verband. In der Hauptstadt errichtete Siemens Bauunion die erste U-Bahn Lateinamerikas. Wissenschaft und Kunst erreichten ein Niveau, das durch nicht seltene Besuche internationaler Koryphäen zementiert und genährt wurde. Zu Beginn des XX. Jahrhunderts hatte Argentinien eine geringere Analphabetenquote als manche europäischen Länder und befand sich unter den ersten Wirtschaftsmächten.

Dies schien eine Bestätigung für die Parole zu sein, welche die Regierungen schon länger verbreitet hatten, um die zunächst prekären Einwanderer bei der Stange zu halten: Argentinien ist ein gottbegnadetes Land mit glorioser Vergangenheit (der Andenüberquerung San Martíns) und gebildeten, klugen Bürgern (die besser lesen und schreiben können als die in anderen Ländern), so dass ihm eine grandiose Zukunft garantiert ist. Die Leute glaubten es gern, zumal das Land bei seinen Nachbarn und im Rest Lateinamerikas als Vorbild galt und – bis in die zweite Hälfte des XX. Jahrhunderts – auch war.

Neben Rindfleischgrillen und Mateschlürfen entstand eine Tradition der Selbstgefälligkeit (um nicht zu sagen –überschätzung), die etwa in dem sarkastischen Verdikt Ausdruck fand, der Argentinier sei ein “spanisch sprechender Italiener, der sich für einen Engländer hält”. (Tasächlich hatten die englischen Invasionsversuche, Lieferungen von Schmuggelware, dann Investitionen, speziell in der Hauptstadt, großen Eindruck und sichtbare Spuren hinterlassen: siehe die Namen zahlreicher Straßen und Plätze sowie mehrerer Fußballvereine der Erstliga.)

Jene ursprünglich mit gewisser Berechtigung entstandene Überzeugung der argentinischen Herausgehobenheit erfuhr weitere Unterstützung durch den Zustrom neuer Einwanderer aus dem gebeutelten Europa. Nach dem ersten Krieg enteignete russische Aristokraten und arbeitslose deutsche Militärs, dann Opfer von Inflation und Weltwirtschaftskrise, gefolgt von sozialistischen Verlierern des spanischen Bürgerkriegs, in Nazideutschland verfolgten Juden und Kommunisten. Schließlich, nach dem zweiten Krieg, suchten untergetauchte Nazis sowie aus Ostblockländern Vertriebene und etliche am zerstörten Deutschland Verzweifelte Zuflucht in einem wohlhabenden Land ohne ethnische oder religiöse noch politische Diskriminierung. Die Neuzugänge waren überwiegend mittelständisch, gut ausgebildet, zuweilen auch nicht ganz mittellos. Argentinien empfing sie mit einer Art herablassenden, schmunzelnden Großmuts, was diese sich dankbar gefallen ließen. Ihr Arbeitseifer und ihre Kenntnisse kamen der sich allmählich industrialisierenden Wirtschaft zugute.

Hier war Unterstützung angebracht. Es waren nicht nur die Weite des kaum erschlossenen Hinterlandes und die langen Frachten für Vorprodukte sowie die Verteilung von Fertigwaren, welche einer raschen Industrialisierung entgegenstanden. Es fehlte an Kapital und, vor Allem, an strategischer Voraussicht. Letztere betreffend, hätten die Erfahrungen der unlängst zugezogenen Europäer durchaus hilfreich sein können. Diese waren jedoch noch nicht ausreichend integriert, um politisch wirksam werden zu können. Und ihre Kinder und Enkel hatten, dem Umfeld folgend, längst angefangen, das Hinaufsteigen von Treppen zu verlernen. Nun begann die Aufklärung in Argentinien rückläufig zu werden.

Unter der Weltwirtschaftskrise und den Kriegen in Europa hatten die Einnahmen aus den Lebensmittelexporten ziemlich gelitten. Immerhin waren noch in den Fünfzigern des XX. Jahrhunderts “die Gänge im Keller der Zentralbank derart mit Goldbarren verstellt, dass man dort kaum laufen konnte”, wie Perón einmal sagte. Diese Reserven wurden jedoch mitnichten zur langfristigen Entwicklung des Landes eingesetzt. Das schien nicht nötig. Schließlich war man reich und clever und hatte der Welt schon mehrere Generationen hindurch seine Überlegenheit bewiesen (“reich wie ein Argentinier” hieß es zu jener Zeit in Bayern noch, wie der Autor sich erinnert). Die Prioritäten lagen woanders.

Schon in den Dreißigern war offenbar geworden, dass eine sich mählich mechanisierende Landwirtschaft die ehemals massiv importierten (inzwischen sich ordentlich vermehrt habenden) ungelernten Arbeitskräfte in Zukunft kaum mehr benötigen würde. Die Enkel jener armen Einwanderer selbst, häufig zu einigem Wohlstand gelangt, tendierten dazu, das Pionierleben ihrer Vorfahren gegen eine geruhsamere Existenz in der Stadt einzutauschen (“mein Sohn, der Doktor” wollten die ehemaligen Pioniere gern sagen dürfen). So begann eine Landflucht ähnlich der, die in Europa früher die Nachfrage nach argentinischem Getreide ausgelöst hatte.

Die Politik war gefordert, diese Leute zu unterhalten. Es handelte sich ja um sehr viele Wählerstimmen, das Wahlrechtsreform, auch von Frauen ausgeübt und nicht mehr so leicht wie gewohnt durch das Establishment manipuliert werden konnten. Solchen Bügern, welche unter dem obrigkeitlich gefestigten Eindruck standen, einer den europäischen und nord-amerikanischen mindestens gleichwertigen Nation anzugehören, zu sagen, dass die guten Zeiten nun vorbei waren und man durch eifriges Lernen, harte Arbeit und größere Disziplin die Zukunft sichern müsse, wäre politischer Selbstmord gewesen.

Also nutzte man die Finanzreserven zu einer Beflügelung des Massenkonsums sowie für Projekte, die einem oberflächlichen Patriotismus Auftrieb gaben. Perón ließ schon auch einige Wohnungen und Schulen bauen, hauptsächlich jedoch verteilte er Geschenke und, vor allem, viele Posten und Pöstchen in Regierung und Verwaltung an verlässliche Anhänger, die selten einer neutralen Auswahlprozedur standgehalten hätten. Er kaufte den Engländern zu überhöhtem Preis die Eisenbahnen ab und verfolgte, in seinem Wahn, es den Großmächten, vor allem den USA, gleichzutun, utopische Projekte wie etwa den Aufbau einer Atomindustrie. So entstand im Volk ein Anspruchsdenken (oder wurde in ihm gefestigt), das allen zaghaften Korrekturversuchen nachfolgender Regierungen – ob diese nun demokratisch gewählt oder von reaktionären Militärs geführt waren – starrsinnig widerstand. Alle Niederlagen in der Verfolgung jener Ansprüche wurden auf den verderblichen Einfluss externer oder unpatriotischer Faktoren zurückgeführt – den seelenlosen Kapitalismus, die imperialistischen USA, die reaktionäre Oligarchie, die korrupten Gewerkschaften. Der Verdruss über unbefriedigte Ansprüche dürfte die Ursache sein für die im Land verbreitete Neigung zur Selbstbemitleidung und dazu, das Glas halbleer zu sehen.

Indessen hatten sich die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Terms of Trade, radikal verändert, ohne dass die Politik dies bemerkte oder darauf hätte reagieren können. Ab Mitte des Jahrhunderts hatte die Grüne Revolution durch besseres Saatgut, Automatisierung und Flächenbereinigung just in den ehemaligen Abnehmerländern Argentiniens die landwirtschaftlichen Erträge vervielfacht. Diese versorgten sich nun nicht nur selbst, sondern produzierten und exportierten Überschüsse, welche die Weltmarktpreise erheblich drückten.

Argentinien befand sich nun in einer Schere zwischen sinkenden Einnahmen und ständig steigenden Kosten. Leere Staatskassen waren die Folge, die man jahrelang durch von der Bevölkerung lange geduldete Assignatendruckerei aufzufüllen versuchte, dann, in einer Periode scheinbarer Stabilität, durch überzogene Aufnahme von Auslandskrediten, welche 2002 zu Default, brutalen Lohnminderungen, großem Verlust mittelständischer Ersparnisse, Rezession und Zerstörung des Vertrauens der Bürger in die Politik führte. Das Land war an einem Tiefpunkt angekommen, ähnlich einem verlorenen Krieg, allerdings ohne die augenfälligen Verluste an Menschen und Bausubstanz, welche in anderen Breiten (Deutschland, Japan) nach einer Katastrophe zur Bereitschaft geführt hatten, umzudenken und Traditionen zu erneuern.

Ganz im Gegenteil fiel Argentinien zurück in beinahe noch ausgeprägtere nationalistische, populistische und dirigistische Praktiken als jene, die das Land schon dreißig und fünfzig Jahre zuvor beinahe in den Abgrund getrieben hätten. Dabei war unlängst durch den Aufstieg asiatischer und anderer Schwellenländer nicht nur ein eindrucksvolles Entwicklungsbeispiel qua Übergang zu liberal(er)er Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gegeben worden, sondern es war dort auch ein bedeutendes neues, allem Anschein nach nachhaltiges, Konsumpotenzial entstanden, das lang verschüttete, vielversprechende Abnahmemöglichkeiten für die traditionellen argentinischen Exporte sowie Chancen für eine Diversifizierung der Produktion und somit größere wirtschaftliche und politische Stabilität eröffnete. Weit davon entfernt, diese Möglichkeiten zu nutzen, kapselte sich das Land ab vom Rest der vernünftigen Welt und begab sich in Gesellschaft einiger international Verfemter, die weder kulturellen noch wirtschaftlichen Fortschritt begleiten können. Die warnenden Stimmen einer patriotischen Minderheit verhallen bisher in einem Volk, dem seit vier Generationen kaum Anderes gepredigt und vorgelebt wird, als Treppen hinunterzulaufen.

So läuft Argentinien jetzt Gefahr, durch seine selbstverliebte Starrsinnigkeit wieder zu der rechtlosen Feudalgesellschaft zu werden, die es vor 150 Jahren war. Es ist sehr zu wünschen, dass dem Land eine Katharsis gelingt, ohne solch überaus schlimme Erfahrungen, wie sie damals dem aufgeklärten Neubeginn hatten vorausgehen müssen.

Escriba un comentario