Buenos Aires punktet

Werke der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama zum ersten Mal in Lateinamerika

Von Carlo-Johannes Schmid


Nur ein Punkt unter vielen – so fühlt man sich, wenn man dieser Tage in der langen Schlange steht, die seit dem 29. Juni fast täglich vor dem Malba – Museum für Lateinamerikanische Kunst in Buenos Aires zu sehen ist. Am Abend der Eröffnung reichte die Menschenkette gar um den kompletten Block, und das Museum musste wegen des großen Andrangs seine Öffnungszeit bis 1 Uhr morgens verlängern.

Der Grund des Ansturms kündigt sich schon rund um das Museum an. Entlang der Avenida Figueroa Alcorta sind einige Bäume und Bushaltestellen in ein rotes Gewand mit weißen Flecken gehüllt. Die Punkte oder “Polka Dots” sind das Markenzeichen der bedeutendsten zeitgenössischen Künstlerin Japans: Yayoi Kusama, die mit “Yayoi Kusama. Obsesión infinita” ihre erste Retrospektive in Lateinamerika präsentiert. Noch bis zum 16. September kann man die Werke der Künstlerin im Malba sehen.

“Yayoi Kusama. Obsesión infinita” wurde in Zusammenarbeit mit dem Studio der Künstlerin und dem Malba realisiert und nimmt die Besucher mit auf einen umfassenden Rundgang ihrer Werke zwischen 1950 und 2013. Die Ausstellung beinhaltet die wichtigsten Objekte ihres fast sechs Jahrzehnte andauernden Schaffens. Zu sehen gibt es Gemälde, Werke auf Papier, Skulpturen, Videos, Slideshows und Installationen. Und, natürlich, jede Menge Punkte.

Diese markierten auch den Beginn ihres künstlerischen Schaffens. Als Kind litt Yayoi Kusama unter Halluzinationen und Angstzuständen. Als sie von der weiß gepunkteten Tischdecke in ihrem Elternhaus aufblickte, habe sie gesehen, wie sich das Muster überall ausbreitete: An den Wänden, an ihrem Körper, an der Decke. Damals hätte sie sich gefühlt, als würde sie sich selbst in dem Muster auflösen. Seitdem sollten die “Polka Dots”, wie die Künstlerin selbst die Punkte nennt, Inhalt ihrer Kunst werden und es bis heute bleiben.

Geboren in eine bürgerliche Familie im Jahre 1929 in der japanischen Stadt Matsumoto, war Yayoi Kusamas Kindheit von der strengen Erziehung der Eltern geprägt. Bis sie 1948 an die Kyoto School of Arts and Crafts ging und in den folgenden Jahren neun Ausstellungen hatte. Dadurch gelangte sie zu landesweiter Bekanntheit, die Anerkennung blieb jedoch aus. Erst als es sie 1955 nach New York zog und ihre dort entstandenen Skulpturen und Installationen neben Größen wie Andy Warhol, Claes Oldenburg und George Segal in den frühen 1960er Jahren ausgestellt wurden, gelangte sie zu Berühmtheit, jedoch nicht zu Reichtum. Deshalb kehrte sie nach Japan zurück. Dort ließ sie sich wegen ihrer Angstzustände freiwillig in eine Nervenheilanstalt einliefern, in der sie bis heute lebt und arbeitet.

Heute gilt Yayoi Kusama als bedeutendste lebende Künstlerin Japans. Ihre Werke wurden in den wichtigsten Museen weltweit ausgestellt. Im Rahmen ihrer Lateinamerika-Tour wird die Retrospektive “Yayoi Kusama. Obsesión infinita” dieses Jahr noch in Rio de Janeiro, Brasilia, Sao Paulo und Mexiko-Stadt zu sehen sein.

Zu den Höhepunkten der Ausstellung gehören sicherlich ihre berühmten Werke aus den 50er Jahren sowie die sich durch ihr ganzes Schaffen ziehenden “Infinity Nets” und ihre berühmten phallischen Skulpturen. Um diese zu fertigen, überzog Kusama Möbel und andere Haushaltsgegenstände mit Stoffwülsten. Viele Experten vermuten darin den Versuch der Künstlerin, ihre sexuellen Ängste aufzuarbeiten. Auch eine Sammlung von Skulpturen und Bildern ihrer Happenings und Performances aus der New Yorker Zeit sind zu sehen, genauso wie einige ihrer neuesten Gemälde und Installationen.

Wenn man wieder herauskommt aus dem Bad in den Bällen, ist die Schlange vor dem Malba immer noch nicht kleiner geworden. Fast könnte man sich der Künstlerin dann emotional nah fühlen: Sie beschreibt ihr Leben als einen Punkt von vielen im Universum.

Escriba un comentario