Die Pelztasse und andere Metamorphosen

Anlässlich ihres 100. Geburtstages würdigt der Berliner Martin-Gropius-Bau das faszinierende Werk der in Berlin geborenen Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim

Von Nicole Büsing & Heiko Klaas


Nackt hinter dem großen Rad einer Druckerpresse stehend kennt sie fast jeder. Man Rays 1933 entstandenes Aktfoto der gerade einmal zwanzigjährigen Meret Oppenheim, entstanden für das surrealistische Avantgarde-Magazin “Minotaure”, gehört zu den Ikonen der Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts. Kein gut sortierter Pariser Postkartenständer, an dem das berühmte Motiv nicht erhältlich wäre. Die Aufnahme verfestigte aber auch das Klischeebild einer knabenhaft-androgynen jungen Frau, die den Surrealisten scheinbar in erster Linie als Muse diente. Meret Oppenheims eigenes, mindestens ebenso eigenwilliges Werk aber erfuhr lange Zeit nicht die ihm gebührende Beachtung.

Jetzt, zum 100. Geburtstag der 1913 in Berlin-Charlottenburg geborenen, jedoch in der Schweiz aufgewachsenen Tochter eines Hamburger Arztes und einer aus der Schweiz stammenden Mutter, wird ihr im Berliner Martin-Gropius-Bau erstmals eine große postume Retrospektive in Deutschland gewidmet. Eine späte, aber umso wichtigere Neu- und Wiederentdeckung einer der wohl bedeutendsten und kompromisslosesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind Bleistiftzeichnungen, Aquarelle, Gemälde, bearbeitete Objet trouvés und Fotografien, aber auch selbst entworfene Schmuckstücke, Kleider und Bühnenkostüme.

Meret Oppenheims Werk ist heterogen. Sie macht sich quasi alles, was ihr begegnet, auf ebenso experimentelle wie poetische Art und Weise verfügbar. Abstraktion und Figuration lösen einander immer wieder ab. Fundstücke aus der Natur werden mit profanen Alltagsgegenständen zu poetisch aufgeladenen Objekten kombiniert.
Bereits mit 14 Jahren begann sie, beeinflusst durch C.G. Jungs Traumtheorie, ihre Träume aufzuzeichnen. Ihr ganzes Leben lang bilden sie gewissermaßen die “Storyboards” zu ihrem Bildkosmos. Darüber hinaus spielen Fabeln und Mythen, ihre Liebe zur Natur, deren Metamorphosen und Transformationen, ihr von der Basler Fasnacht beeinflusster Hang zur Maskerade sowie literarische Vorlagen eine wichtige Rolle für die Entstehung ihres Werks.

Natürlich darf in solch einer großen Retrospektive auch ihre berühmteste Arbeit, die “Pelztasse”, nicht fehlen. Um sie rankt sich eine schöne Künstler-Anekdote. Angeblich saß Oppenheim mit Picasso und dessen damaliger Geliebter Dora Maar im Pariser Café de Flore, als dieser bemerkte, man könne alles mit Fell überziehen, eben auch eine zufällig auf dem Tisch stehende Tasse. Meret Oppenheim zögerte nicht lange. Sie tat es einfach. Sie überzog Tasse, Untertasse und Teelöffel mit dem edlen Fell einer chinesischen Gazelle und schuf so ein surrealistisches Objekt par excellence: dem ursprünglichen Konsumzusammenhang entzogen, animalisch und gleichzeitig sexuell aufgeladen, zum Berühren einladend und gleichzeitig abweisend.

1936, in einer Ausstellung surrealistischer Objektkunst, fiel die auch unter dem Titel “Le déjeuner en fourrure” (Frühstück im Pelz) in die Kunstgeschichte eingegangene Tasse keinem Geringeren als Alfred H. Barr ins Auge, der sie für das Museum of Modern Art in New York erwarb und so unsterblich machte. Für Meret Oppenheim allerdings folgte eine schwere Zeit der Krisen und Existenzängste. Als Jüdin unmittelbar gefährdet, verließ sie Paris und zog sich in die sichere Schweiz zurück. Erst 1967 gelang ihr mit einer großen Retrospektive im Stockholmer Moderna Museet der internationale Durchbruch. Ausstellungen in der Schweiz und Frankreich sowie ihre Teilnahme an der Documenta 7 in Kassel festigen in der Zeit danach ihren Ruhm.


Am 15. November 1985 stirbt Meret Oppenheim im Alter von 72 Jahren in Basel. Freunden hatte sie am 6. Oktober, ihrem 72. Geburtstag, prophezeit, sie sterbe noch, ehe der erste Schnee falle. Einer ihrer Träume hatte sie auch dieses Mal wieder eingeholt. Im Alter von 36 Jahren nämlich hatte sie, wie sie schriftlich festhielt, von einer Heiligenstatue geträumt, die eine Sanduhr mit der ihr bemessenen Lebenszeit umdreht. Daraus schloss sie, dass nun die Hälfte ihres Lebens vorbei war. Sie sollte Recht behalten.

  • Ausstellung: Meret Oppenheim. Retrospektive
  • Ort: Martin-Gropius-Bau, Berlin
  • Zeit: 16. August bis 11. Dezember 2013
  • Mi-Mo 10-19 Uhr. Di geschlossen
  • Katalog: Hatje Cantz Verlag, 312 S., 264 Abb., 25 Euro (Museum), 39,80 Euro (Buchhandel)
  • Internet

Fotos von oben nach unten:
Meret Oppenheim by Man Ray, Erotique voilée-Serie, Paris 1933.
(Man Ray Trust, Paris)

Meret Oppenheim, “Eichhörnchen”, 1969. Privatsammlung, Montagnola.
(Peter Lauri)

M.O. mit Sechs Wolken auf einer Brücke, 1977, Bern 1982.
(Margrit Baumann)

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