Ein Experiment der besonderen Art

Ostermeiers “Ein Volksfeind” rockt Buenos Aires

Von Susanne Franz


“Der Riachuelo ist vergiftet!” – “Die Stadt Buenos Aires tut nichts für die Kultur!” – “Wir brauchen endlich ein vernünftiges Mediengesetz!” – “Ach hören Sie doch auf, mir das Stück erklären zu wollen!” Im großen Martín Coronado-Saal des San Martín-Theaters, der bis auf den letzten Platz ausverkauft war, war am letzten Sonntag die Hölle los. Der Volkszorn brach aus allen Poren, man schrie sich gegenseitig nieder, die Situation drohte aus dem Ruder zu laufen. Aggressionsbereitschaft lag in der Luft. Was war da los? Eine Bürgerversammlung? Nein, es war die erste Vorstellung (von dreien) von Thomas Ostermeiers Inszenierung von “Ein Volksfeind” von Henrik Ibsen, dargeboten von der Schaubühne am Lehniner Platz, im Rahmen des IX. Internationalen Theaterfestivals von Buenos Aires. Das Luxus-Ensemble aus Deutschland konnte dank der Unterstützung des Goethe-Instituts Buenos Aires, der Deutschen Botschaft und Allianz Argentina an den Río de la Plata kommen.

In dem Stück entdeckt der junge Arzt Thomas Stockmann, dass das Heilwasser seines Heimatortes verseucht ist, und er will dringend Abhilfe schaffen. Sein Bruder, der Stadtrat Peter Stockmann, will den Skandal unter den Teppich kehren, denn der ganze Ort lebt von den Kurgästen, Sanierungsarbeiten wären langwierig und der Ruin der Stadt. Die Presse und Vertreter der Bürgerschaft, die anfangs auf Thomas’ Seite waren, laufen nach und nach zu Peter über.

Ist Thomas in seinem Kampf gegen Korruption ein Idealist oder ein Fanatiker? Als er ganz alleine dasteht, richtet er eine flammende Rede ans Publikum. Hier geht die Ostermeier-Adaption über Ibsen hinaus und verwendet Auszüge aus dem 2008 veröffentlichten Manifest “Der kommende Aufstand”. In der Streitschrift verdammt das anonyme französische Autorenkollektiv “Unsichtbares Komitee” die Diktatur der Angepassten, die Konsumgesellschaft und die Politiker.

Die anderen Schauspieler hören vom erleuchteten Zuschauerraum aus zu, die Grenze zwischen Bühne und Publikum ist aufgehoben. Und dann sagt einer von ihnen: “Wer mit dem, was Thomas da sagt, einverstanden ist, der hebe die Hand.” Dem leisten fast alle Folge. “Und nun begründet mal, warum ihr die Hand gehoben habt.” Und das eingangs erwähnte Chaos bricht los.

Offensichtlich ist eine solche oder ähnliche Reaktion von Ostermeier intendiert, es gab sie ja schon an anderen Spielorten. Es wäre interessant zu wissen, ob sich die Argentinier nun in den Augen des Ensembles als besonders demokratieunfähig erwiesen haben – da ja jeder nur seine eigene Überzeugung kundtun und “den anderen” nicht zu Wort kommen lassen wollte – oder ob den deutschen Gästen im Gegenteil die spontanen und individualistischen Ausbrüche gefallen haben.

Zu diesem Theatererlebnis ein sehr empfehlenwerter Beitrag von Rafael Spregelburd in Perfíl.com (auf Spanisch).

Als zweites deutsches Stück beim FIBA kann man am 18., 19. und 20. Oktober das hoch gelobte Werk “Diebe” des Deutschen Theaters Berlin sehen (Dramaturgie: Dea Loher, Regie: Andreas Kriegenburg). Es gibt sogar noch Karten! Infos auf der Webseite des FIBA.

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