Tieftraurig und absurd – FIBA-Nachlese

“Diebe” von Dea Loher in genialer Inszenierung von Andreas Kriegenburg

Von Susanne Franz

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Die Bühne des Martín-Coronado-Saals des San Martín-Theaters hat sich in eine riesige Kiste verwandelt, in der sich ein gigantisches Schaufelrad dreht. In der oberen Hälfte des Raums taucht eine zweite Bühne auf – sie scheint an seitlichen Drehvorrichtungen zu hängen -, die erst parallel zur unten liegenden Bühne verläuft und dann langsam ein wenig nach vorne kippt. Sichtbar wird ein auf dem Boden liegender Mann, der ein bisschen zappelt, weil er nach unten rutscht. Er trägt Pantoffeln und einen Bademantel und düsterste Selbstmordgedanken in sich. Der Mann ist einer von verschiedenen Charakteren, von denen die deutsche Theaterautorin Dea Loher in ihrem Stück “Diebe” erzählt, das am vergangenen Wochenende das 9. Internationale Theaterfestival von Buenos Aires (FIBA) abschloss.

Wer der Mann ist, erfährt der Zuschauer erst in der zweiten Hälfte des drei Stunden und zwanzig Minuten dauernden Werks, als alle Handlungsstränge zusammen- und wieder auseinanderlaufen. Die Geschichten werden in verschiedenen Episoden erzählt, und immer ist es das große Mühlrad, das sich dreht und ein neues Kapitel gleichsam “ausspuckt”.

Das Rad dreht sich langsam, aber unerbittlich, und schiebt die eben noch agierenden Personen und ihre Geschichten erbarmunglos nach hinten weg, um wieder ein neues Kapitel aufzuschlagen. Der Boden wird zur Wand und wieder zu einem neuen Boden.

Der ständig sich wandelnde Hinter- und Untergrund vermittelt ein Schwindelgefühl und ist zugleich hypnotisch. Es ist keine Zeit, dort Bleibendes aufzubauen, so werden kaum Requisiten eingesetzt, sondern deren Namen an die Wand geschrieben, auch Orte (Polizeirevier) oder Konzepte (Familie, falsch buchstabiert) werden kurz durch ein Wort skizziert. “Sachen” wie Fenster oder Möbel sind zum Teil durch zweidimensionale Abbildungen ersetzt, die schnell an die Wand geheftet werden, ehe das Bild sich weiterdreht.

Weitere Drehmomente im Werk sind Schaukeln, die die Akteure an Seilen an den ausgestellten Rand des Drehbodens hängen und auf denen sie sich wiegen, und viele Tanzszenen im Werk, die meisten von ihnen auf eine abgrundtief traurige Art komisch.

Andreas Kriegenburgs geniale Bühne und seine auf exaktem Timing beruhende Regiearbeit mit den Schauspielern ist eine Übersetzung des monologartigen Dramas von Dea Loher, das an die Grenzen des Aufführbaren geht.

Lohers poetischer Text mit seinen vielen Wiederholungen – in einem an die Aufführung anschließenden Gespräch mit dem Publikum nannte die in Buenos Aires anwesende Dramatikerin sie “Echo-Räume” – ist in Reinform wie ein Sog, die Inszenierung Kriegenburgs macht ihn verständlich und erträglich.

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Der Selbstmörder wird nie nach unten auf die “wirkliche” Bühne gelangen. Einmal ist er kurz davor, der Boden senkt sich nach vorn – er macht einige unbeholfene Steptanzschritte auf dem Rand. Doch dann dreht sich das Rad wieder nach oben. Für ihn gibt es kein Weitermachen. Der Selbstmord wird dadurch symbolisiert, dass er einen Karton (mit seinen letzten Habseligkeiten) nach unten wirft.

Das Ehepaar Ida und Gerhard Schmitt begeht einen Mord, der mit einem Tanz beginnt. Der Polizist Thomas schießt seiner von ihm getrennten Frau Barbara in den Kopf. Die merkt erst, dass etwas nicht stimmt, als sie in einer Boutique rasende Kopfschmerzen bekommt und ihr schlecht wird. Die junge Mira will ihr Baby abtreiben, weil sie ihren eigenen Vater nicht kennt. Ihr Freund Josef wird bei dem Versuch, diesen zu finden, erschlagen. Rainer “Tschecki” Machatschek will seine Freundin Gabi erdrosseln, weil sie die 3000 Euro zurück will, die sie ihm geliehen hatte. Ira Davidoff sucht ihren Mann, er wollte doch nur mal spazieren gehen. Das ist 43 Jahre her, und plötzlich vermisst sie ihn. Emil will seinen Sohn Finn noch einmal sehen, der ihn seit drei Jahren nicht besucht hat, und Linda, seine Tochter, traut sich nicht, ihm zu sagen, dass Finn sich umgebracht hat.

Es sind tieftraurige und absurde Geschichten von Menschen, die wie Roboter agieren, die wie “Diebe” in ihrem eigenen Leben herumtappen und sich nicht trauen, im eigenen Haus Licht zu machen. So beschreibt es Ira Davidoff, laut Loher die zentrale Figur des Stückes, obwohl sie nur kurze Auftritte hat.

Der wertvolle Text Dea Lohers wird von der genialen Inszenierung Andreas Kriegenburgs – der auch in Buenos Aires war und das Publikum mit seiner offenen, großzügigen Denkweise bezauberte – getragen und übertroffen. Die exzellenten schauspielerischen Leistungen des Ensembles des Deutschen Theaters Berlin tun ihr übriges zu diesem unvergesslichen Theatererlebnis hinzu. Möglich gemacht wurde es durch die Unterstützung des Goethe-Instituts Buenos Aires, der Deutschen Botschaft und des Versicherers Allianz Argentina.

Darsteller: Jörg Pose (Finn Tomason), Judith Hofmann (Linda Tomason, seine Schwester), Markwart Müller-Elmau (Erwin Tomason, Vater der beiden), Daniel Hoevels (Thomas Tomason), Barbara Heynen (Monika Tomason), Bernd Moss (Herr Schmitt, Gerhard), Katrin Klein (Frau Schmitt, Ida), Helmut Mooshammer (Josef Erbarmen), Olivia Gräser (Mira Halbe), Susanne Wolff (Gabi Nowotny), Bernd Stempel (Rainer Machatschek), Heidrun Perdelwitz (Ira Davidoff).

Weitere Informationen, Fotos und Videos zu “Diebe” hier.

Zum Auftakt des FIBA war am ersten Oktoberwochenende Thomas Ostermeiers Inszenierung von “Ein Volksfeind” von Henrik Ibsen, dargeboten von der Schaubühne am Lehniner Platz, gezeigt worden.

Fotos von oben nach unten:
Ida und Gerhard Schmitt – ihre Auftritte gehörten zu den Glanzlichtern des Abends – kurz vor dem Mord an Josef (mit Brille).

Freude und Leid: Emil und Ira treffen sich an der Bushaltestelle (oben), unten hält Linda die Urne mit der Asche ihres Bruders in den Händen.

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