“Lesen schützt vor Dummheit nicht”

Die Philosophin Gayatri Spivak zu Gast in Buenos Aires

Von Janina Knobbe

spivak11Nur langsam füllte sich das Auditorium des Malba am Montag und lange blieben die Plätze in der ersten Sitzreihe frei. Das lag jedoch kaum an zu geringem Besucherandrang. In einer Masse aus Menschen jeglichen Alters drängte man sich zur Eingangstür, wo Sicherheitsbeauftragte und Mitveranstalter in Erklärungsnöte gerieten und wild mit Teilnehmerlisten umherwedelten, um zu entscheiden, wer noch Zugang zu der Konferenz bekommen sollte. Die argentinische Schlange-Stehen-Kultur wurde aufgebrochen und es gelang nur schleppend, die aufgeregten Besucher so zu koordinieren, dass die meisten noch einen Platz im Saal fanden. Aus verschiedenen Orten des Landes, ja sogar aus Chile, kamen sie angereist, um sie sprechen zu hören und zu sehen: Die indische Philosophin, Feministin und Mitbegründerin der Postkolonialen Theorie, Gayatri Spivak.

Von dem Programm “Lectura Mundi” der UNSAM (Universidad Nacional San Martín) war sie eingeladen worden, über ihr Werk zu referieren und mit ihren Lesern in den direkten Austausch zu treten. Der Auftakt ihres dreitägigen Besuchs an der Universität bestand in der am Montag stattfindenden Konferenz “Spivak habla con sus lectores”, wo sie über zwei Stunden hinweg ausgewählte Fragen beantwortete, die von Studenten der UNSAM zuvor zusammengetragen wurden.

Gayatri Spivak wurde 1942 in Kalkutta geboren und schrieb ihre Doktorarbeit in den USA, wo sie heute Professorin für Literaturwissenschaft an der Colombia University in New York ist. Ihre Schriften beeinflussen seit den 80er-Jahren die Wissenschaftsproduktion im damals neu definierten Feminismus, aber vor allem auch jene des Dekonstruktivismus sowie der postkolonialen Forschungsansätze. Überdies erschien im Spanischen vor Kurzem eine Sammlung ihrer Schriften mit dem Titel “En otras palabras, en otros mundos” (Paidos Verlag).

Ihr wohl bekanntestes Essay ist zweifellos “Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation”, eine Kritik an den Machenschaften und Machtkonstrukten der in Indien vorherrschenden Elite und deren Umgang mit dem marginalisierten Teil der Gesellschaft, der auch auf Grund der westlich geprägten Wissenschaftsproduktion “sprachlos” ist. Dies führt dazu, dass ganze Gesellschaftsgruppen gänzlich vom politischen Geschehen einer Nation ausgeschlossen sind. Ein Themenkomplex, der durchaus auch in Hinblick auf politische und gesellschaftliche Realitäten in Lateinamerika hochaktuell ist.

Dementsprechend machte Spivak am Montag deutlich, dass auch die Intellektuellen einer Gesellschaft ständig Gefahr laufen, eine marginalisierte Gruppe noch weiter an den Rand zu drängen, sie folglich “stumm” zu machen. Die Aufgabe der Intellektuellen einer Gesellschaft besteht insofern nicht darin, in ihrem Namen zu sprechen, sondern vielmehr, “ihnen Raum zu schaffen, in dem sie gehört werden können und durch welchen sie der Regierung (dem Staat) entgegentreten können.” Um dies zu erreichen, sollte das Vertrauen in die institutionelle Wissenschaftsproduktion hinterfragt werden und sich nicht damit aufgehalten werden, “wie den Subalternen Gehör verschafft werden kann”, sondern “wie man ihnen das Konzept dessen nahebringt, dass jeder ein Recht auf geistige Arbeit hat.” Dies lässt sich als das Recht eines Jeden auf intellektuelle Bildung verstehen. Dennoch “ist Lesen kein Schutz davor, ein Idiot zu bleiben. Es gibt viele Idioten auf der Welt, die viel gelesen haben”, fügte Spivak hinzu.

Es geht also gerade in einer globalisierten Welt darum, allen Menschen “kritisches Lesen” nahezubringen. Dabei ist es laut der Philosophin wichtig, zu akzeptieren, dass dies ein langsamer Lernprozess ist. Doch auf diese Weise kann in einer Gesellschaft Recht und Unrecht sowie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit definiert werden.

Die Philosophin verlieh ihrer Auffassung Nachdruck, dass sich ihre Schriften nicht an die “Subalternen” wenden, sondern an die Wissenschaft und Wissenschaftler, deren Aufgabe es auch ist, der globalen Bevölkerung deutlich zu machen, “dass jedes Kind und jeder Erwachsene ein Recht auf geistige Arbeit hat”.

Spivak verbrachte noch zwei weitere Tage dieser Woche in Buenos Aires, um mit Studenten und Experten die Zusammenhänge von Institutionen und Erkenntnistheorie zu diskutieren. Zum Abschluss ihres Besuchs überreichte die Universität San Martín ihr am Mittwoch einen Ehrendoktortitel.

Foto:
Gayatri Spivak am Montag im Malba.
(Foto: Janina Knobbe)

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