Der Hang zur Selbstzerstörung

“Die Nashörner” von Ionesco polterten über die Corrientes

Von Philipp Boos

rhino2
Vergangenes Wochenende gastierte das französische “Théâtre de la Ville” im Martín Coronado-Saal des San Martín-Theaters. Unter der Direktion des hoch dekorierten Theatermachers Emmanuel Demarcy-Mota wurde “Die Nashörner” vom französisch-rumänischen Dramatiker Eugène Ionesco (1909-1994), aus dem Jahre 1957, einmal am Samstag und zwei Mal am Sonntag aufgeführt. Auch die letzte Vorstellung sollte bis auf den letzten Platz gefüllt sein. Als kleine Randnotiz: Am 31. Oktober 1959 wurde der Klassiker im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. Bisher gastierte die Truppe um Emmanuel Demarcy-Mota in London, Moskau, New York und Santiago de Chile.

Die Erzählung Ionescos, welche die zunehmende Gleichschaltung einer Gesellschaft beschreibt und so Kritik an menschlicher Ignoranz und autoritärer Politik übt, konnte das Land zu keinem “besseren” Zeitpunkt treffen. Die Entwertung des Pesos ist nicht aufzuhalten, für Elektrogeräte und Luxusgüter gab es zeitweilig keine Preise mehr, doch auf der Avenida Corrientes schieben sich noch am selben Tag die Menschenmassen vor den Leuchtreklamen und stehen vor den Theater- und Kinokassen Schlange. So als wäre nichts passiert, während es unter der Oberfläche brodelt. Angesichts aktueller Entwicklungen war ein Besuch im San Martín jedoch durchaus naheliegend.

Der lebensfrohe und empfindsame Behringer, der großartig von Serge Maggiani gespielt wird, muss beobachten, wie sich sein Freund Hans, ebenso gut dargestellt von Hugues Quester, und weitere ihm nahestehende Menschen, in Nashörner verwandeln. So wie es Ionesco selbst in den 1930er Jahren in Rumänien erlebt haben muss, als sich sein Umfeld, einschließlich engster Familienangehöriger, zunehmend zum Faschismus bekannte.

Aber diese Verwandlung soll nicht nur im Kontext von Diktaturen verstanden werden, der sich Menschen blindlings anschließen. Sie ist nach Ionesco gewissermaßen selbstverschuldet und scheint in der Natur des Menschen zu liegen. Und genau hierin liegt die fortwährende Aktualität der “Nashörner” begründet. Der Mensch wird zum “Nashorn” ohne jegliche äußere Einflüsse, aus Feigheit und Faulheit, die kollektive Gleichschaltung aus Behaglichkeit und Ignoranz also. Ein dem Menschen innewohnender Hang zur Selbstzerstörung, weil er sich selbst verkennt.

In einem sparsam und effizienten Bühnenbild, mit an ein Musical anmutenden Choreografien – wie die Büroszene im zweiten Akt – und getragen von hervorragenden darstellerischen Leistungen aller Beteiligten, schält Emmanuel Demarcy-Mota die Essenzen von Ionescos Stück heraus. Behringer, eingangs als trinkender Nichtsnutz vorgestellt, wandelt sich vor dem Auge des Betrachters zum Verfechter der Menschheit. Seine Andersartigkeit und Immunität gegenüber der Gleichschaltung wird vor allem durch die für die ihn obligatorische Verantwortung für seine Mitmenschen begründet. Aber auch und vor allem darin, das Menschsein zu akzeptieren, und nicht stets mehr sein zu wollen. Die Verwandlung seines Freundes Hans, dessen Ideale sich durch widersprüchliches Verhalten als Worthülsen entpuppen, stellte einen von vielen Höhepunkten der schauspielerischen Leistung des “Théâtre de la Ville” am vergangenen Wochenende dar.

Fluch oder Segen, gewiss wird Ionescos Erzählung auch weiterhin nichts an seiner Aktualität verlieren und die Menschen weiterhin in Scharen ins Theater locken.

Escriba un comentario