Der Neue Mensch

… oder der alte?

Von Friedbert W. Böhm

menschSeit es Obrigkeiten gibt – also von jeher – versuchen sie, den Neuen Menschen zu erschaffen. Sie nennen ihn selten so, um den alten nicht zu verunsichern. Sie geben das Ziel an – das Paradies, die Weisheit, Freiheit, Gerechtigkeit -, oder den Weg – die Revolution, den Liberalismus, den Sozialismus des XXI. Jahrhunderts, oder schlicht Das Modell. Aber immer geht es ihnen um den Neuen Menschen.

Der alte Mensch ist nämlich ziemlich unbequem zu verwalten. Wie andere etwas höher entwickelte Lebensformen hat die Evolution ihn prädestiniert, zuerst an sich zu denken, dann an seine Familie, dann, vielleicht, an seine Freunde. Der Rest der Menschheit ist seinen angeborenen Gefühlen fremd, wenn nicht suspekt. Ihm zuliebe seine gefühlten Interessen zu beschneiden, erscheint ihm unnatürlich.

Obrigkeiten benötigen jedoch eine solche Beschneidung. Sie wollen und müssen über größere Gruppen herrschen, also die Menschen irgendwie dazu bringen, das eigene Wohlsein zu mindern, um das der Gruppe (des Stammes, Fürstentums, Imperiums, der Nation) zu erhöhen. Die Mittel dazu waren immer bekannt und sind von Schopenhauer mit unübertroffener Griffigkeit als “Zuckerbrot und Peitsche” definiert worden.

Eine probate Mischung beider Mittel ist seit mehr als Menschengedenken, mit Zuckerbrot sich eine kleine, verlässliche, gut ausgebildete und –gerüstete Anhängerschaft zu erwerben, die mit der Peitsche den Rest der Gruppe so konditioniert, dass er die zum Unterhalt und Wohlstand des Ganzen erforderlichen Erträge erwirtschaftet und sonstigen Opfer bringt.

Da die exzessive Anwendung der Peitsche mit der Zeit die Gesellschaften in Aufruhr und die Obrigkeiten in Verruf brachte, sannen letztere schon früh in der Geschichte auf einen Ausweg. Offenbar war der Mensch nicht auf der Höhe der Obrigkeit. Man musste einen Neuen Menschen schaffen.

Die Obrigkeit wusste, dass das Großhirn des Menschen glücklicherweise imstande und daran gewöhnt ist, Erklärungen für die Vergangenheit zu begreifen, sich Zukunft vorzustellen und den Lehren weiser oder Versprechungen mächtiger Volksgenossen zu glauben. Zudem vertraute sie mit Recht darauf, dass der Mensch beinahe immer Aussagen schätzt, die ihn hoffnungsvoll stimmen, selbst wenn sein Verstand ihm sagen müsste, dass sie wirklichkeitsfremd oder schlicht erlogen sind.

So erfand die Obrigkeit ein komplementäres Mittel zur Wahrung der Herrschaft: die Gehirnwäsche. Hier ist keinesfalls die Rede von mancherorts üblichen folterähnlichen Methoden zur Bekämpfung von Terroristen oder politischen Gegnern. Gehirnwäsche beginnt bei Kindern. Wird eine Idee in ein leeres Hirn gepflanzt, füllt es dieses völlig aus und ist aus ihm in aller Regel kaum mehr völlig zu entfernen. Religions- und Ideologiestifter haben deshalb immer darauf geachtet, ihre Lehren in der Vorschule beginnen und möglichst nicht vor Abschluss der Pubertät oder dem Staatsexamen aufhören zu lassen.

Solche Gehirnwäsche hat beeindruckende Erfolge vorzuweisen. Von obrigkeitlichen Ideen begeistert, sind Menschen bereit, in Eroberungs- oder Religionskriege zu ziehen mit dem Risiko, nicht nur ihr Hab und Gut, ihre Gesundheit und sogar ihr Leben zu verlieren, sondern auch das Wohl der Gemeinschaft, dem die obrigkeitlichen Ideen angeblich ja gerade hätten dienen sollen.

Vor geschichtlich ganz kurzer Zeit – etwa 250 Jahren – begann in Europa ein als Aufklärung bezeichneter Versuch, die Menschen zu bilden, statt ihnen das Gehirn zu waschen. Weltliche und religiöse Macht sollten separiert, gesellschaftliche Klassen abgeschafft, dem Einzelnen gewisse politische Rechte eingeräumt werden. Zu seiner Überzeugung sollten nicht mehr Zuckerbrot und Peitsche, sondern Argumente dienen, wozu die Wissenschaft vertrauenswürdig(er)e Grundlagen zu liefern hatte. Vom Neuen Menschen wurde damals wohlweislich nicht gesprochen.

Ohne schon über die heute verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zur menschlichen Natur zu verfügen, ahnten die Aufklärer wohl, dass realistische Gesellschaftsmodelle auf den immer gleichen alten Menschen abgestimmt zu sein haben. Sie schlugen also Gewaltenteilung vor sowie zeitliche Begrenzung politischer Macht. Es dauerte viele Generationen und zahlreiche ungemein verlustreiche Rückschläge mussten überwunden werden, bis diese Postulate bei einigen Völkern den Absolutismus von Gottes Gnaden durch einigermaßen demokratische Rechtsstaaten ersetzen konnten.

Die Utopie des Neuen Menschen lebte aber fröhlich weiter, jetzt unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Karl Marx hatte ungeheuren Erfolg mit seiner Ansicht, dass Jener nur seinen Egoismus aufgeben und bereit sein sollte, sein Bestes der Gesellschaft zu geben und sich damit zu bescheiden, von ihr das Nötigste zurückzuerhalten.

Selbst autoritäre Imperien haben diesen Neuen Menschen nicht erschaffen können. Und Sigmund Freud strebte eine Lösung von innen an. Die von ihm ins Leben gerufene Psychoanalyse will aus der Sezierung unserer Seele die Erkenntnisse schöpfen, die uns zu besseren Menschen und Bürgern machen. Davon ist bisher wenig zu sehen. Selbst in Gesellschaften mit weit überdurchschnittlicher Psychanalytikerdichte ist der Neue Mensch nicht erkennbar.

Wahrscheinlicher ist, dass die aus der Massage des Innenlebens resultierende Selbstoptimierung des Individuums eine Minderung seines Gemeinsinns, sowie qua Verlagerung der Gründe für eigenes Fehlverhalten auf die Umwelt – Eltern, Schule, Gesellschaft – zu allgemeiner Permissivität führt, die unsere Rechtsordnungen zu untergraben droht.

Diese beiden bisher letzten Neumenschutopien dienen nicht wenigen Obrigkeiten vortrefflich, den noch längst nicht abgeschlossenen Prozess der Aufklärung umzukehren. Gleich Schmarotzern in einem äußerlich noch gesund erscheinenden Gastgeberwesen unterminieren sie mit pseudo-wissenschaftlichen Postulaten oder populistischen Viertelwahrheiten die Institutionen ihrer Gesellschaften und höhlen damit den demokratischen Rechtsstaat aus. Straßensperren gelten dann als berechtigte Reaktionen unterdrückter Mitmenschen, Diebstahl und Raub als eine Art Überlebensmaßnahmen Armer, Enteignungen als Schritte zu gerechter Vermögensverteilung, Beschneidung der Meinungsfreiheit als notwendige Verteidigung des wahren Weges zum Neuen Menschen.

Voraussetzung zum Erfolg solcher Machenschaften ist natürlich eine eingängige Propaganda, die bei solchen Obrigkeiten zur ersten Regierungspriorität wird – ständiges Eigenlob in Funk und Fernsehen, pompöse Ankündigungen oder sogar Einweihungen nie zu beginnender oder halb erstellter Projekte, glamouröse Festlichkeiten an Gedenktagen, Einbeziehung von Kultur und Sport in die Eigenwerbung.

Da solche Spiegelfechterei beim gebildeten und redlichen Publikum keinen Eindruck macht, ist die Obrigkeit sehr bemüht, allen gegenteiligen Ankündigungen zum Trotz, die Masse der Volksgenossen so einfältig wie möglich zu halten: statt Erziehung Brot und Spiele (so lange das Geld reicht). Ein bildungsfernes Publikum stört sich auch nicht daran, dass der Lebenswandel der Obrigkeit und ihrer Freunde in striktem Gegensatz steht zu den Tugenden des angestrebten Neuen Menschen (das war schließlich schon in der Antike, im Feudalismus sowie der west- und oströmischen Kirche so).

Es wird Zeit für die Erkenntnis, dass der Neue Mensch nicht nur unerreichbar ist, sondern auch unnütz, wenn nicht schädlich. Wenn wir uns angewöhnten, zu denken statt zu glauben, die Politik in die Hände versierter, vertrauenswürdiger, ordentlich bezahlter Volksvertreter zu legen, welche unsere Verfassungen respektieren und Gesetze vernünftig handhaben, und wenn wir diesen Politikern trotzdem auf die Finger sähen, dann kämen wir mit dem alten Menschen recht gut aus.

(Foto von Fusion400.)

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