Kultur und Zivilisation

Die neuen Formen unseres Zusammenlebens

Von Friedbert W. Böhm

gesellschaft
Die Begriffe Kultur und Zivilisation sind dehnbar. Sie überlappen, durchdringen, verdrängen sich gegenseitig. Während sich im Deutschen noch gewisse Unterschiede in der Definition erkennen lassen, sind die Bedeutungen in anderen europäischen Sprachen nahezu deckungsgleich. Zivilisation ist im täglichen deutschen Sprachgebrauch beinahe verschwunden, Kultur zum Kennwort für die Lebensweisen verschiedener Gesellschaften geworden. Dass all jene Lebensweisen gleichwertig seien, signalisiert das Modewort Multikulti – ein von Vielen geliebter, von vielen Anderen misstrauisch beäugter Begriff.

Wie heute noch im Agrarbereich üblich, bezeichnete Kultur ursprünglich das Menschenwerk – im Gegensatz zu dem der Natur. Zivilisation ist ein recht neuer Begriff, mutmaßlich abgeleitet vom (zivilen) Bürger, einem neuen Mittelstand, der sich in Europa ab dem späten Mittelalter entwickelte. Er, der zivilisierte Mensch, unterschied sich vom anderen (häufig Barbar genannten) nicht nur durch gewisse ihm eigene Rechte, sondern auch dadurch, dass er allgemein anerkannte Umgangsformen besaß, etwa mit Messer und Gabel aß, nicht mehr auf den Boden spuckte oder an die Wand pinkelte, seinen Widersacher mit Argumenten statt mit Faustschlägen zu überzeugen suchte.

Wenn man nun eine allgemeine, griffige Grundsatzunterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation treffen möchte, könnte man sagen, dass Kultur die Summe der Gebräuche einer Gesellschaft bezeichnet und Zivilisation ihren Anspruch auf konfliktarmes Zusammenleben.

Das ist kein kleiner Unterschied. In diesem Sinne hätten eine Gruppe von Wildbeutern, die den Verzehr eines besiegten Feindes mit geschmückten Hütten, Gesang und Tanz feiert, oder die Horden des Dschingis Khan mit ihren seit Generationen verfeinerten Methoden der Waffenproduktion, der Reit- und Kriegskunst, gewiss gewachsene Kulturen besessen. Niemand wird ihnen jedoch zugestehen wollen, zivilisiert gewesen zu sein. Andererseits kann es in internationalen Konzernen oder Streitkräften (solange diese sich nicht im Krieg befinden) sehr zivilisiert zugehen, ohne dass sie eigene Kulturen entwickelten.

Zivilisation in der oben vorgeschlagenen Definition bedeutet mehr, als nicht auf den Boden zu spucken oder Fisch ohne Messer zu essen. Konfliktarm mit seinen Zeitgenossen auszukommen, setzt gegenseitige Rücksichtnahme voraus. Um Rücksicht nehmen zu können, muss man versuchen, sich in seinen Nächsten hineinzuversetzen und seine Interessen zu erahnen. Es erfordert weiterhin eine gewisse formale Bildung, denn zur Abwägung eigener und fremder Interessen ist es nötig, bestehende Gesetze und Usancen zu kennen. Und schließlich muss man, um Rücksicht nehmen zu können, bereit sein, gegebenenfalls die eigenen Interessen zurückzustellen.

Solche zivilisatorische Traditionen entstehen nicht von heute auf morgen. Sie müssen von Eltern und Lehrern anerzogen, von Nachbarn, Freunden, Vorgesetzten begleitet und vorgelebt werden – möglicherweise Generationen hindurch.

Zur Zeit der Entstehung des Begriffs Zivilisation waren die Voraussetzungen hierfür relativ günstig. Der weitaus größte Teil der Menschheit von weniger als einer Milliarde lebte in kleinen, über das Territorium verstreuten Ortschaften. Die Lebensumstände waren einfach genug, um durch griffige, übersichtliche Regeln geordnet werden zu können. Wenige Mitglieder einer wohlmeinenden Elite konnten die Gemeinschaft beeinflussen. Außerdem kannte man sich gegenseitig ziemlich gut, so dass Zivilisationsmuffel bald erkannt, gebessert oder ausgestoßen werden konnten. Fremde sind immer zunächst suspekt, auch wenn sie sich in Aussehen und Sprache von den Bekannten kaum unterscheiden.

Heute, bei über sieben Milliarden Erdenbewohnern, die zunehmend in Megametropolen zusammengepfercht sind, ist die Schaffung oder Tradierung zivilisatorischer Verhaltensweisen unendlich schwieriger geworden, zumal das Zusammenleben sich ungeheuer komplizierte. Unser Nächster ist jetzt ein winziger Teil der Nachbarn, Arbeitskollegen oder Vereinsfreunde. Die Zigtausend oder Millionen anderer Nächster, denen wir auf der Straße, dem Parkplatz, im Supermarkt, im Fußballstadion, Kino, Theater, im Flugzeug, Feriendomizil, im Internet oder sonstwo ständig begegnen – es sind Unbekannte. Die allgemeine Mobilität, die durch technische Neuerungen unentwegt sich ändernden Arbeits- und Konsumbedingungen, die durch globale Augenblickskommunikation uns überflutenden und mitreißenden fremden Gebräuche haben das Zusammenleben über die Maßen kompliziert, zumal wir seit mehr als einem halben Jahrhundert – einerseits durch unsere Intellektuellen angeregt, zum anderen durch die Umstände verführt – einem Indivualismus anheimgefallen sind, der noch unseren Großeltern unbekannt war und suspekt erschienen wäre.

Kann es sein, dass die Verdrängung von Zivilisation durch Kultur in unserem Sprachgebrauch ein Symptom für zivilisatorischen Rückschritt auf breiter Ebene ist? Dann sollten wir nicht unbesehen von Multikulti träumen, fremde Kulturen selbstverständlich auch nicht ablehnen, allerdings deren Akzeptanz in unserer Gesellschaft davon abhängig machen, dass sie zivilisiert sind.

Im Übrigen täten wir auch gut daran, in unserer eigenen Gesellschaft das Mögliche zu tun, um dem zunehmenden Mangel an zivilisatorischem Verhalten entgegenzutreten.

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Heute sind die Menschen, denen wir auf der Straße, dem Parkplatz, im Supermarkt, im Fußballstadion, Kino, Theater, im Internet oder sonstwo ständig begegnen, Unbekannte.

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