Zurück aufs Dorf?

Großstadtflüchter auf den Spuren eines verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühls

Von Friedbert W. Böhm

kinder (1)In meiner Familie gibt es etwa ein Dutzend junger Leute zwischen 40 und 45. Lauter intelligente, lebensfrohe, gut ausgebildete und schon ziemlich herumgekommene Mittelklässler. Nur zwei davon besitzen eine feste, ordentlich bezahlte Anstellung. Die anderen sind Schauspieler, Künstler, Schriftsteller oder andere Freiberufler; Ich-AG heißt das wohl heutzutage.

Bei meinen vorherigen Deutschlandbesuchen lebten die allermeisten von ihnen in München, Köln oder Berlin, mitten im Mainstream des anscheinend unaufhaltbaren Fortschritts von Kultur und Wirtschaft. Es wäre übertrieben zu sagen, dass meine jungen Verwandten auf die Dorfbewohner herabgesehen hätten, es schien ihnen aber doch wohl ein wenig altmodisch, nicht besonders cool, seine Zeit weitab von den vielfachen Möglichkeiten und Vergnügungen zu verbringen, welche die Großstadt bietet.

Welche Überraschung, sie jetzt alle auf dem Dorf anzutreffen! Ich habe mich nicht dadurch unbeliebt gemacht, durch gezielte, womöglich als hochnotpeinlich empfundene Umfragen die Gründe hierfür in Erfahrung zu bringen. Wenn ich allerdings meine Beobachtungen vor den gesellschaftlichen Nachrichten sehe, die uns in letzter Zeit erreichen, glaube ich, diese Gründe ziemlich zweifelsfrei zu erkennen:

Da ist zunächst einmal (wo nicht?) der Kostenfaktor. Ich habe mir im Dorf nahe Köln die Haare schneiden lassen – in einem modernen, geschmackvoll dekorierten Lokal, von einer sehr netten, sehr kompetenten Friseuse, die mir nebenbei die Dorfgeschichte erzählte. Das Alles für die Hälfte des in Berlin üblichen Preises. Auch andere Dinge des täglichen Lebens dürften – nicht im Dorf, wo es kaum noch Läden gibt, aber im meistens nahen Einkaufszentrum – günstiger sein als in der City. Ausschlaggebend jedoch sind die Wohnungspreise. Kauf oder Miete in einer wohnlichen Großstadtgegend scheinen für Mittelklässler nicht mehr erschwinglich zu sein.

Zumindest nicht für solche, die dem Vermieter oder der Bank nicht eine stabile, gut honorierte Arbeitsstelle mit Aufstiegsmöglichkeiten nachweisen können. Solche Konditionen sind aber schon seit Jahren überaus schwer beizubringen für eine Minderheit (ist sie es noch?), die aus irgendwelchen Gründen mit 40 noch nicht in einer mittleren Führungsposition eines guten Unternehmens sitzt, so kompetent, verlässlich, arbeitsam und vielsprachig sie auch sei. Die Wirtschaft bevorzugt billige Universitätsabgänger, die einige Jahre hindurch als Praktikanten benutzt werden können (oder, neuerdings, bestens ausgebildete Südeuropäer, deren anfängliches Sprachmanko durch einige Berufserfahrung ausgeglichen wird).

Es gibt aber noch zwei andere wesentliche Gründe für den Umzug ins Dorf. Der weniger wichtige ist die steigende Mühsal, sich in der Großstadt zu bewegen. Der Angestellte tut es in überfüllten U- oder S-Bahnen, der Freiberufler verliert man-hours bei der Suche nach Parkplätzen; beide sind ständig hautnah von Musik Hörenden oder ins Handy Sprechenden Mitstädtern oder Touristen umgeben, womöglich auch nachts. Für nicht Wenige macht dies den Vorteil der nahen Verfügbarkeit von Waren und gewissen Dienstleistungen hinfällig (zumal einfache Dienstleister auf dem Dorf schneller, verlässlicher, freundlicher und preisgünstiger zu sein pflegen).

Der andere Grund sind die Kinder. Nicht nur Eltern, die im Grünen aufgewachsen sind, wissen oder erkennen, dass eine natürlich(er)e Umgebung ein unschätzbarer Erziehungsvorteil ist. Dass die Milch nicht von einer Tüte produziert, der Apfel nicht in einer Kiste gewachsen ist, kann man einem Kind zehnmal erklären. Wirklich beGREIFEN wird es dies erst, wenn es mehrmals beim Melken zugeschaut und dabei die Kuh gestreichelt oder beim Nachbarn halbreife Frühäpfel geklaut hat. Auch wird es Verantwortungs- und Pflichtgefühl eher in sein Verhalten integrieren, wenn es den Eltern bei der Gartenarbeit oder beim Schneeschippen helfen muss, als wenn es diese Begriffe in der Schule – oder am ersten Arbeitsplatz – erklärt bekommt. Die Kinder meiner Verwandten machen den Eindruck, auf dem Dorf glücklich zu sein. Lesen und Schreiben werden sie dort auch nicht schlechter lernen als in der Großstadt.

Während mehrerer Wochen habe ich zwei Dörfer mitbewohnt, die mir recht symptomatisch erscheinen für kleine Ortschaften in Stadtnähe. Beide liegen eine knappe Autostunde von München bzw. Köln entfernt und in greifbarer Nähe kleinerer Städte. Beide sind kommunalpolitisch in größere Dörfer oder benachbarte kleine Städte eingegliedert. Beide sind umgeben von einer Vielzahl anderer Dörfer, die ähnlichen Charakteristiken entsprechen. Sie alle entzücken durch eine große Mehrzahl adretter, neu erscheinender, mit hübschen Gärten umgebener (oder aufgeputzter ehemaliger Bauern-) Häuser, durch Sauberkeit und perfekte Infrastruktur. Die Landwirte, die es dort noch gibt, leben mehr von der Betreuung städtischer Reitpferde als – in einem Fall ein Einziger in einer 1000-Seelen-Gemeinde – noch von Ackerbau und Viehzucht.

Im Grunde sind es Schlafdörfer. In dem mir am besten Bekannten gibt es keine Kirche, keine Polizeiwache, keine Kneipe mehr, der letzte Kramladen wurde vor einem Jahr aufgegeben, und selbst der einzige Zigarettenautomat ist außer Betrieb. Auf der Straße fühlt man sich in nordamerikanische Ferienorte versetzt. Bürgersteige gibt es nicht mehr. Wozu auch? Die vorbeikommenden Menschen sind in Autos versteckt. Kaum spielende Kinder, keine schwatzenden Nachbarinnen oder Kegelbrüder, höchstens dann und wann ein einsamer Jogger. Geselligkeit findet im kleinen Kreis auf der hinteren Terrasse statt oder dem schattigen Grillplatz. Den “Volks”festen, die anlässlich des Feuerwehrjubiläums oder der Maibaumaufrichtung obrigkeitlich ausgerichtet werden, fehlt der Stallgeruch.

Die hier lebenden Großstadtflüchter scheinen ein typisches Merkmal der Massengesellschaft mitgebracht zu haben: die Abkapselung vom Nächsten. Diese ist unvermeidlich, wenn man in einer Wohnwabe im vierten Stock lebt und seine ständig wechselnden Nachbarn höchstens mal im Fahrstuhl gesehen hat. Natürlich ist die zeitgemäße Megamobilität auch im Dorf ein Hindernis für schlichte Geselligkeit. Wäre es nicht aber ersprießlicher, an einem warmen Sommerabend mit Nachbarn auf dem Dorfplatz ein Bier zu trinken und sich über die Fußball-WM zu unterhalten oder winters eine Schlittenpartie am nahen Hang zu organisieren, als jeden freien Tag zu entfernten, schicken Ausflugszielen zu rasen? Ist nicht die Möglichkeit zur Wiederherstellung des weitgehend verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühls eine weitere Attraktion des Dorfes?

Vielleicht kommen die Stadtflüchter mit der Zeit darauf.

Foto:
Kinder sind auf dem Dorf meist glücklicher als in der Großstadt.

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