Die Aussagekraft der fehlenden Information
Schriftsteller Ariel Magnus bei einer Lesung im Goethe-Institut
Von Tobias Zwior
Die bewegende Geschichte einer Großmutter und ihres Enkels stand vergangenen Donnerstag in der Bibliothek des Goethe-Instituts auf dem Programm. Ariel Magnus, erfolgreicher Schriftsteller aus Buenos Aires und jener Enkel, las dort einige Passagen aus seinem Buch “Zwei lange Unterhosen der Marke Hering”. Rund 60 Zuhörer waren erschienen und beteiligten sich nachher auch lebhaft an einer offenen Diskussion mit dem Autor.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Carla Imbrogno (Goethe-Institut) und Silvie Rundel (Die Zeit). Magnus‘ Buch war im Jahr 2006 ursprünglich unter dem Titel “La Abuela” auf Spanisch erschienen und liegt seit 2012 in der deutschen Übersetzung vor. Im Sommer 2001 hatte Magnus, damals noch als Journalist in Deutschland tätig, seine jüdische Großmutter in Porto Alegre besucht.
Während dieses Besuchs ließ er sich von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen. In einer unnachahmlich chaotischen und zugleich liebenswerten Mischung aus Deutsch und Portugiesisch sprach sie über ihre Zeit als Jüdin in Deutschland während des Nazi-Regimes, ihre freiwillige Deportation in die KZs von Theresienstadt und Auschwitz sowie ihre erfolgreiche Flucht aus letzterem. “Ich hatte während dieses Interviews noch gar nicht vor, daraus ein Buch zu machen, sondern ich wollte eigentlich nur die Geschichte meiner Großmutter bewahren. Ich war schließlich der Journalist in der Familie”, erinnerte sich Magnus während der Lesung.
Als ihn seine Großmutter dann aber 2004 zehn Tage lang in Deutschland besucht hatte und er mit ihr gemeinsam nach Berlin, Weimar und Buchenwald gereist war, entschied er sich doch dafür, ein Buch zu schreiben. “Auch viele meiner deutschen Freunde hatten gesehen, welch beeindruckende Persönlichkeit meine Großmutter war, und rieten mir dazu”, sagte er. Und so entstand aus dem Interview 2001, seinen Aufzeichnungen der Erlebnisse 2004 und einiger Tagebuch-Notizen seiner Großmutter das Buch “La Abuela”.
Wichtig war es Magnus zu betonen, dass es sich nicht um ein weiteres Werk der Holocaust-Verarbeitung handelt: “Dokumentationen über Auschwitz haben mich nie interessiert”, sagte er. “Die Geschichte meiner Großmutter jedoch schon. Daher ist es kein Buch über eine Auschwitz-Überlebende geworden, sondern über meine Großmutter als Person.”
Die verschiedenen Quellen, Quellarten (Ton und Schrift) und Sprachen machen Magnus‘ Buch zu einem unlinearen und sprunghaften Leseerlebnis, was aber seinen Reiz ausmacht: “Es fehlt viel Information, aber das ist nicht schlimm. Manchmal ist das, was man nicht sagt, stärker als das, was man sagt”, stellte er fest.
Was den Abend im Goethe-Institut besonders machte, war, dass Magnus die unlineare Schreibweise seines Buches auf die Lesung übertrug. So las er gemeinsam mit Andrea Belafi einen Dialog mit seiner Großmutter auf Deutsch vor, spielte Original-Tonbandaufnahmen der alten Dame ab und gab außerdem auf Spanisch Auszüge aus seinen Aufzeichnungen über die Deutschland-Reise 2004 wieder. Auch die Zuhörer, die das Buch nicht gelesen hatten, bekamen so eine gute Vorstellung davon.
Vor allem Magnus‘ Großmutter selbst machte Eindruck auf das Publikum: “Ich habe jetzt das Gefühl, diese Person zu kennen, und bin traurig darüber, dass ich sie in der Realität nie kennengelernt habe”, sagte Moderatorin Silvie Rundel. Im Anschluss hatten die Zuhörer noch die Gelegenheit, Magnus Fragen zu stellen, die er ausführlich beantwortete.
Auf die Verkaufszahlen der deutschen Ausgabe des Buches im Vergleich zu seinem Bestseller “Ein Chinese auf dem Fahrrad” angesprochen, sagte er nur schmunzelnd: “Anscheinend interessieren sich die Deutschen mehr für Chinesen in Buenos Aires als für Holocaust-Überlebende in Brasilien.”
Am Ende ließ Magnus noch durchblicken, dass er sich vorstellen könne, noch weitere Familiengeschichten in Buchform zu verarbeiten: “Mich interessiert zum Beispiel sehr das Schicksal meines Großvaters väterlicherseits, ein nach Argentinien ausgewanderter Bibliothekar.” Da er diesen jedoch nie persönlich kennenlernt habe, könnte das eine langwierige Recherche werden.
Foto:
Ariel Magnus (Mitte) im Gespräch mit Silvie Rundel (Die Zeit) und Carla Imbrogno vom Goethe-Institut (v.l.).
(Foto: Tobias Zwior)