Neue Wege statt Rekonstruktion
Podiumsgespräch über jüdisches Leben im heutigen Deutschland
Von Marcus Christoph
Wie gestaltet sich jüdisches Leben im heutigen Deutschland? Wie gegenwärtig ist die Vergangenheit? Wie geht das Land mit der Geschichte von Krieg und Holocaust um? Fragen, um die es vor wenigen Tagen bei einem Diskussionsabend im Jüdischen Museum von Buenos Aires ging. Eingeladen waren drei jüdische Teilnehmer von Besucherreisen in Deutschland, die vom Auswärtigen Amt in Berlin organisiert wurden. Die Veranstaltung stellte zugleich den Schlusspunkt der Ausstellung “250 Jahre Jüdisches Krankenhaus Berlin” dar, die Anfang April im Beisein von Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit eröffnet worden war. Ehrengast des Podiumsgesprächs war der deutsche Botschafter Bernhard Graf von Waldersee.
Als erste Gesprächsteilnehmerin schilderte Ana Epelbaum de Weinstein, die Direktorin des Dokumentationszentrum “Marc Turkov”, ihre Reiseerlebnisse. Für die Tochter von Überlebenden des Holocausts war es der zweite Aufenthalt in Deutschland. Doch auch diesmal sei die Wirkung enorm gewesen, schildert sie. Auf dem Programm der Reisegruppe, die sich aus Juden und Nichtjuden aus 21 verschiedenen Ländern zusammensetzte, standen Berlin und Dresden, wo verschiedene Orte mit historischem Bezug aufgesucht wurden.
Beispielsweise die Neue Synagoge in Dresden, ein Neubau, der vor einigen Jahren an derselben Stelle entstand, wo am 9. November 1938 die alte Synagoge in den Flammen der Pogromnacht aufging. Zwischen diesem Geschehen und dem Bombardement Dresdens im Februar 1945, zwischen Judenverfolgung und Untergang Deutschlands, sieht Epelbaum de Weinstein einen Zusammenhang: “Die Feuer von 1938 haben die Feuer von 1945 provoziert.” Heute gehe es nicht so sehr um das Rekonstruieren von etwas Altem, sondern um das Entstehen eines ganz neuen jüdischen Lebens, fasst Epelbaum den Tenor der Gespräche mit Vertretern der jüdischen Gemeinde in der sächsischen Hauptstadt zusammen.
In Berlin hinterließen vor allem das Holocaust-Mahnmal nahe dem Brandenburger Tor sowie das Jüdische Museum in Kreuzberg großen Eindruck. Beide Orte, die erst im zurückliegenden Jahrzehnt entstanden, spiegelten den langen Weg zu einem Konzept wider, wie die deutsche Gesellschaft mit der Vergangenheit umgehen könne. Epelbaum de Weinstein erinnerte an den schwierigen Neuanfang nach dem Krieg. Nur wenige Tausend Juden hatten das Inferno des Holocausts in Deutschland überlebt. In den folgenden Jahrzehnten waren es vor allem aus der Sowjetunion stammende Juden, die die alten jüdischen Einrichtungen in Deutschland wiederbelebten.
Der bundesdeutsche Staat habe dabei viele Hilfestellungen gegeben, urteilt Epelbaum. In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch die Gesetze gegen Antisemitismus, die es in dieser Form nur in Deutschland gebe. Heute seien das Land und besonders Berlin sehr kosmopolitisch. Wobei für die Bundesrepublik auch eine große Herausforderung darin bestehe, die zahlreichen muslimischen Einwanderer zu integrieren.
Dass es in Sachen Verständigung aber auch noch manches zu tun gibt, habe die Reisegruppe am Ende ihrer Reise erfahren, als der Konflikt im Gazastreifen eskalierte. Dies habe vielerorts zu einer Dämonisierung Israels und des Judentums geführt, schildert Epelbaum. Sie sprach von daher von “zwei Realitäten”: einerseits aufrichtiges Bemühen, aus der Vergangenheit zu lernen, andererseits aber auch Ressentiments.
Mit Julián Schvindlerman schilderte ein weiterer Reiseteilnehmer seine Eindrücke. Die Erinnerung an den Holocaust sei in Deutschland immer noch sehr präsent, meinte der Autor und Politikwissenschaftler. Zwar sei der damals entstandene Schaden nie wiedergutzumachen. Dennoch lobte er den Umgang des heutigen Deutschlands mit seiner Geschichte. Andere Länder stellten sich nicht in dieser Form ihrer Vergangenheit. Auch die gesetzliche Praxis, dass die Meinungsfreiheit dort ihre Grenzen habe, wo Antisemitismus beginne, hält Schvindlerman für richtig. “Da gibt es eine klare rote Linie, die nicht überschritten werden darf.”
Der Politikwissenschaftler beschrieb, wie sich im Laufe der Jahre sein eigenes Bild von Deutschland verbessert habe. Die erste Wahrnehmung waren Bilder vom Holocaust, die Schvindlerman im Grundschulalter sah. Es habe lange gedauert, ehe dieser schreckliche Eindruck durch eine differenziertere Betrachtungsweise ergänzt wurde. Als Leitmotiv für den Umgang mit der heutigen Generation von Deutschen nannte Schvindlerman den Ausspruch des Schriftstellers Elie Wiesel, dass die “Kinder der Nazis nicht Nazis, sondern Kinder” seien. Die nachfolgende Generation könne nicht für die Verfehlungen der Eltern haftbar gemacht werden.
Als beeindruckend hob Schvindlerman das Jüdische Museum in Berlin hervor. Dieses setze alleine schon durch seine auffällige Zickzack-Architektur ein Ausrufezeichen. In Bereichen wie dem “Holocaust-Turm” oder den Leerräume (Voids) bekomme der Besucher eine Ahnung davon, welche Angst und Verzweiflung die Opfer des Holocausts hätten durchleben müssen.
Bemerkenswert findet der Politikwissenschaftler auch die von dem Künstler Gunter Demnig initiierten “Stolpersteine”. Dabei handelt es sich um Gedenktafeln, die dort gelegt werden, wo NS-Opfer lebten. Mittlerweile gibt es europaweit 45.000 solcher Steine, was die Aktion zum weltweit größten “dezentralen Mahnmal” gemacht hat.
Berlin sei voll von Geschichte, aber auch von Kultur, fasst Schvindlerman seine Eindrücke von der deutschen Hauptstadt zusammen. Unter dem Strich ist er zuversichtlich, dass die Anstrengungen der Deutschen in Sachen Aussöhnung nachhaltig sind: “Ich glaube nicht, dass das eine Blase ist.”
Liliana Olmeda de Flugelman, die Kuratorin des Jüdischen Museums in Buenos Aires, war im Rahmen einer weiteren Besucherreise in Deutschland, die sich speziell an Ausstellungsgestalter in jüdischen Museen richtete. Auch hier standen Aufenthalte in Berlin und Dresden auf dem Programm. Die deutsche Hauptstadt nahm Olmeda als eine “Metropole in Bewegung” wahr, in der viel Neues entstehe, in der es aber auch viele historische Narben gebe.
Die Kuratorin ging in ihrem Reisebericht vor allem auf den architektonischen Umgang mit der Geschichte ein. Dieser reiche von der detailgetreuen Rekonstruktion wie bei der Dresdner Frauenkirche bis hin zur kompletten Neugestaltung wie im Falle der Neuen Synagoge in der sächsischen Hauptstadt. Dazwischen gebe es Mischformen zwischen Alt und Neu wie beim Jüdischen Museum oder der teilweisen Rekonstruktion wie die der Neuen Synagoge in Berlin, bei der die Außenfassade wiederherstellt wurde. Olmeda lobte das Holocaust-Mahnmal, dem es gelinge, eine Vorstellung vom Ausmaß der Tragödie zu vermitteln.
Anerkennende Worte hatte die Kuratorin auch für die Staatspolitik der Bundesrepublik übrig, die dazu beitrage, dass die Vergangenheit nicht dem Vergessen anheim falle. Eine große Herausforderung für das heutige Deutschland sieht Olmeda darin, das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen zu meistern.
Botschafter Bernhard Graf von Waldersee erläuterte auf Nachfrage aus dem Publikum die Diskussion um die rituelle Beschneidung von Jungen, die Deutschland 2012 intensiv beschäftigte. Vorausgegangen war ein Urteil des Landgerichts Köln, das in der Beschneidung aus rein religiösen Gründen eine strafbare Körperverletzung sah. Juden und Muslime empörten sich daraufhin gleichermaßen. Der Bundestag sah sich zum Handeln veranlasst und beschloss ein Gesetz, das religiöse Beschneidungen erlaubt, sofern sie “nach den Regeln der ärztlichen Kunst” durchgeführt werden. “Ein klares Bekenntnis zum jüdischen Glauben in Deutschland”, bewertete von Waldersee den Beschluss des Bundestags.
Foto:
(v.l.n.r.) Julián Schvindlerman, Ana Epelbaum de Weinstein, Liliana Olmeda de Flugelman, Museumsdirektor Dr. Simón Moguilevsky und Botschafter Bernhard Graf von Waldersee.
(Foto: Marcus Christoph)