Lehreralltag

Ein Tag im Leben von Alejandro Fuentes

Viel wurde zuletzt berichtet über den Zustand der öffentlichen Schulen in Argentinien. Wenig Positives. Anfang des Schuljahres wurde landesweit wieder wochenlang gestreikt. Doch wie sieht er aus, der Alltag an diesen Schulen? Tobias Zwior hat für seine Reportage einen Lehrer in Mendoza einen Tag lang begleitet.

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Es klingelt. In einem beigen, länglichen Schulgebäude, das von Hektik und Kinderkreischen erfüllt ist, sollte es jetzt eigentlich still werden. Aber das wird es nicht. Am Ende des Flurs greift die Direktorin zum Mikrofon und versucht sich mit einem beherzten “Buenas Tardes” Gehör zu verschaffen. Denn die Schüler der Grundschule “Tomas Godoy Cruz” in Mendoza haben jetzt Nachmittagsunterricht. Mehr als ein beiläufiges Raunen als Antwort bekommt sie nicht. Überall wuseln Schüler in grauen mantelartigen Schuluniformen umher, die sie von weitem aussehen lassen wie eine Kreuzung aus Momos grauen Herren und Harry Potters Mitschülern. Eltern ziehen ihren Kindern den Rolltornister hinterher, Mädchen springen Seil und mehrere Lehrer versuchen ihre Klassen um sich herum zu versammeln.

Einer von ihnen ist Alejandro Fuentes. Der 43-Jährige unterrichtet heute Mathematik in einer sechsten Klasse. “Sind alle da?”, fragt er. Die Schülertraube vor ihm bejaht einstimmig. Ein Trugschluss, wie sich wenig später herausstellt. Denn im Klassenraum angekommen, ist an Unterricht nicht zu denken. Alle paar Minuten trudeln neue Schüler ein, einige mit rund 20 Minuten Verspätung. Der “Profe”, wie die Schüler Fuentes nennen, lässt sich davon nicht irritieren und erledigt am Pult etwas Papierkram. Er sieht gemütlich aus mit seinem im Gegensatz zu den Beinen kurz geratenen Oberkörper, dem wohlgenährten Bauch und dem leicht ergrauten Bart im Bernd-Stromberg-Stil. Auffällig sind die vertrauenerweckenden braunen Augen, die hinter seiner Brille hervorlugen.

Als ein weiteres Mädchen verspätet eintrudelt, muss Fuentes dann doch ein erstes Mal eingreifen: Es gibt keinen freien Stuhl mehr für sie und so überlässt er ihr seinen eigenen. 33 Schüler sitzen nun dicht an dicht in einem engen Raum. Er wirkt durch die Blumenmustergardinen vor den notdürftig geklebten Fensterscheiben und die rissige Schiefertafel wie aus der Zeit gefallen.

lehreralltag221In der Gegenwart will Alejandro mehrmals die Mathestunde beginnen, doch jeder Versuch verläuft durch eine neue Unterbrechung im Sande. Unter lautem Gejohle schafft er es schließlich nach rund einer halben Stunde, eine Textaufgabe an die Tafel zu schreiben. Langsam und gleichmäßig schwingt er die Kreide über das Holz, während hinter ihm Papierflieger durch den Raum segeln und Sticker getauscht werden. “Tolerance, Respect, Compromise” steht neben der Tafel auf einem kleinen Blatt. Diese Leitlinien werden kurz darauf auf die Probe gestellt: In Vierergruppen sollen die Schüler die Aufgabe lösen, doch die Gruppen müssen sie erst einmal bilden. Facundo will nicht mit Oriana zusammenarbeiten, Rocío nicht mit Augusto. Tische und Stühle werden auf engstem Raum gerückt, Stifte und Geodreiecke fallen zu Boden. Und dann klingelt es wieder. Pause.

Alejandro Fuentes sitzt im Lehrerzimmer und saugt am Strohhalm seines Matetees. “Bisschen laut in der Klasse, oder?”, sagt er grinsend. Seit 20 Jahren arbeitet er nun schon als Lehrer. Auf das kurz zuvor erlebte Chaos angesprochen erzählt er, dass diese Schule noch eine der besseren in der Region Mendoza sei. “An Argentiniens Schulen läuft es schlecht: Wir Lehrer werden mies bezahlt und viele haben daher zwei, drei Stellen gleichzeitig. Die Qualität der Lehre sinkt und darunter leiden die Schüler. Und, ja, es gibt an vielen Orten große Probleme mit der Disziplin der Schüler und deren Respekt vor den Lehrern.” Diese Probleme reichen soweit, dass es auch für Fuentes selbst schon mehrmals brenzlig wurde. Einmal musste er an einer früheren Schule den geladenen Revolver eines Zwölfjährigen einsacken, ein anderes Mal einen seiner Schüler ins Krankenhaus bringen. Ein Klassenkamerad hatte diesen zuvor mit einem Messer niedergestochen. “Vor allem in den Außenbezirken der größeren Städte geht es oft schlimm zu. Daher bin ich froh, dass ich jetzt im Zentrum arbeiten kann – das sind hier fast paradiesische Zustände”, sagt er.

Zurück im Klassenraum ist von dem Paradies nicht mehr viel zu erkennen. Die Schüler arbeiten an ihrer Aufgabe, viele lenken sich dabei jedoch immer wieder gegenseitig ab. Am Ende sind es vier oder fünf Schüler, die Fuentes‘ Fragen beantworten können und mit ihm gemeinsam das Ergebnis an der Tafel durchrechnen. Doch der Lehrer bleibt gelassen. Er hat Schlimmeres erlebt. “Lief doch ganz gut heute. Es bringt nichts, herumzuschreien. Die Schüler haben Respekt vor mir, weil auch ich sie respektvoll behandle”, sagt er. Dann klingelt es.

Fotos von oben nach unten:

Ruhe bitte: Alejandro Fuentes erklärt eine Rechenaufgabe.

Der Zeitplan der Schüler am Nachmittag.
(Fotos: Tobias Zwior)

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