Die ganze Stadt ist ein Museum

Buenos Aires aus der Street-Art-Perspektive

Von Jannik Jürgens

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Ana Montenegro zeigt Porteños und Touristen eine Perspektive auf Buenos Aires, die den meisten sonst verborgen bleibt. Ana zeigt die Street-Art-Perspektive. “Eigentlich ist die ganze Stadt ein Museum. Man muss nur lernen, die Kunstwerke zu entdecken”, sagt sie. Bei dem zweieinhalbstündigen Rundgang durch Palermo und Chacarita wird schnell klar, warum die Tour im Netz nur Lob erhält. Ana führt zu beeindruckenden Werken, erzählt die Geschichten der Künstler und macht den Kontext deutlich. Und die Kunst der Straße ist überraschend, kritisch und kreativ.

Gleich zu Beginn erklärt Ana den Unterschied zwischen Graffiti und Street-Art: “Graffiti gehört zur Hip-Hop-Bewegung und richtet sich mit einer versteckten Botschaft an eine exklusive Gemeinschaft.” Deswegen sind Graffiti für Laien kaum zu entziffern. Bei Street-Art ist das anders: “Hier werden meistens Bilder geschaffen, die alle verstehen können”, sagt Ana. Obwohl Street-Art erst in den vergangenen Jahren groß geworden ist, hat sie eine lange Tradition. Der mexikanische Muralismo der 1920er-Jahre zählt dazu, ebenso die Malereien im öffentlichen Raum in Argentinien.

Vor dem Gebäude des Flohmarkts von Palermo (Av. Dorrego 1650) ist Ana in ihrem Element. Sie führt die Gruppe zu ihrem Lieblingswerk. “Was könnt ihr sehen?”, fragt sie. Einen Mond, eine Sonne, einen Kondor, zwei Menschen und das Meer. “Jetzt schaut mal durch eure Kamera auf das Bild”, sagt Ana. Durch die neue Perspektive wird plötzlich eine Katze sichtbar, zusammengesetzt aus den einzelnen Elementen. “Es hat eine Weile gedauert, bis mir dieser Effekt aufgefallen ist”, gibt Ana zu. Seitdem ist das Bild fester Bestandteil ihrer Tour.

Die Explosion der Street-Art in Buenos Aires ist untrennbar mit Krise des Jahres 2001 verbunden. Von den Politikern maßlos enttäuscht, forderten die Bürger: “Que se vayan todos”. Das schrieben sie auf Häuserzüge, öffentliche Gebäude und Einkaufsmeilen. Einigen von ihnen war der Schriftzug zu eintönig. Sie begannen, ihre Kritik durch Bilder auszudrücken. Der öffentliche Raum, also die Straße, war dafür der ideale Platz. So entstand eine breite und engagierte Street-Art-Bewegung.

Die Künstler profitierten davon, dass Malerei auf Häuserwänden in Buenos Aires geduldet wird. Offiziell ist sie zwar verboten, aber die Polizei kümmert sich nicht darum. “Außerdem entstehen viele Arbeiten im Auftrag der Eigentümer”, sagt Ana. Deswegen schreiben die Künstler oft ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer zu den Werken. In Deutschland wäre so etwas unmöglich.

Plötzlich bleibt Ana vor einem krakeligen Schriftzug stehen. Kunst ist hier nicht zu sehen, sagt ein Teilnehmer. Doch Ana deutet auf die Schrift. “Te amo Laura”, steht da. Ana klärt auf: “Das hat der Vater von Laura dort hingeschrieben. Er hat das Sorgerecht verloren und darf seine Tochter nicht mehr sehen.” Durch den Schriftzug, der auf Lauras Schulweg liegt, versichert er ihr nun täglich, dass er sie liebt. Auch das ist Street-Art in Buenos Aires.

Graffitimundo bietet die Street-Art-Touren in Spanisch und Englisch an. Für Ausländer kostet die Tour 25 Dollar, für Argentinier ist die Teilnahme kostenlos. Mit dem Geld werden unter anderem Street-Art-Künstler unterstützt.

Foto:
Eines der Lieblingsbilder der Tourleiterin Ana Montenegro.
(Foto: Jannik Jürgens)

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