Zwischen Pathos und Party

Mateo de Urquizas experimenteller “Titus Andronicus” im Teatro El Extranjero

Von Susanne Franz

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“Titus Andronicus” ist William Shakespeares brutalste Tragödie. Mord, Folter, Vergewaltigung, Verstümmelungen, Kannibalismus; die menschlichen Beziehungen von Betrug, Rachsucht, Hinterlist, Lügen, Eifersucht und Hass geprägt. Das Werk entstand wahrscheinlich um 1590, der Barde wollte damit wohl dem Geschmack der damaligen Zeit Rechnung tragen, als blutrünstige Dramen groß in Mode waren. In späteren Jahrhunderten fiel der “Titus Andronicus” in Ungnade wegen seiner besrialischen Grausamkeit, aber im 20. Jahrhundert wurde er wieder vermehrt gespielt. Zwei bestialisch grausame Weltkriege und Hunderte von Konflikten in der ganzen Welt charakterisierten das vergangene Jahrhundert – und im 21. Jahrhundert muss man nur an die Grausamkeiten des IS und die perfiden Methoden von Selbstmordattentätern denken und erkennt, dass die furchterregenden Bräuche des alten Rom nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Der junge argentinische Dramaturg und Regisseur Mateo de Urquiza hat den “Titus” unter dem Titel “Tito Andrónico quiere decir Habeas Corpus” auf einen eineinhalbstündigen Akt verschlankt und in die heutige Zeit versetzt. In De Urquizas Adaptation sind nur sechs der zahlreichen Shakespearschen Charaktere erhalten geblieben: Titus selbst, sein Widersacher im Kampf um das Amt der römischen Herrschers Saturninus, Titus’ Sohn Lucius (der einzige, der im Originalwerk überlebt), seine Tochter Lavinia, die Gotenkönigin Tamora, die Titus als Gefangene von einem Feldzug mit nach Rom gebracht hat, und Tamoras Dienstbote und heimlicher Geliebter Aaron.

Getragen wird das Werk von sich abwechselnden Monologen der Darsteller, die Teile des Shakespearschen Originals gemischt mit Zitaten von und Anspielungen auf Dichter und Denker der heutigen Zeit, argentinische Politiker, Künstler oder gar Fernsehstars vortragen. Die Wucht und Dramatik der leidenschaftlichen Deklamationen sind teils überwältigend, Lavinias Bericht etwa von ihrer Vergewaltigung ist mehr als bedrückend. Mit oft drastischen Worten werden die schrecklichsten Taten, zu denen Menschen fähig sind, denunziert, und die Abgründe der menschlichen Seele bloßgelegt.

Dann wieder wird das Werk oft plötzlich von Brechtschen Elementen durchbrochen – etwa wenn die sechs Darsteller unvermittelt nach vorne treten und die Zuschauer direkt ansprechen und auffordern, doch nach Hause zu gehen, wenn sie hier ein Shakespeare-Stück erwartet hätten und jetzt enttäuscht seien. Manchmal fühlt man sich zudem in eine Szene von Big Brother versetzt, wenn die Schauspieler sich wie nebenbei über eher banale Fragen austauschen. Zu diesen Techniken, die dem Spannungsabbau dienen, zählen auch das Bühnenbild (Sofia Eliosoff) mit Planschbecken und einem Tisch, wie er an einem Nachmittag im Garten bei Freunden bei einem Asado stehen könnte, die Kostüme (Daniela Dralye) – weiße Kleidung oder Badeanzüge und Shorts, Badelatschen, Handtücher -, und immer wieder laute Trash-Popmusik-Einlagen von Britney Spears oder Rihanna, zu denen die Beteiligten tanzen, sich mit Plastikhaifischen und Bällen bewerfen, Sportübungen machen oder erotische Handlungen andeuten (Choreografie: Valeria Narváez).

Großes Lob auch für den Ton (Vanesa del Barco), die Beleuchtung (Julia Vega) und die Videobearbeitung (Federico Shmidt) und die durchweg sehr guten Schauspielleistungen von Norberto Laino (Titus), Juan Pablo Sierra (Saturninus), Vicente Santos (Aaron), Santiago Paciullo (Lucius) und vor allem der beiden Damen Cintia Hernández (Lavinia) und Martina Greiner (Tamora).

Das Stück kann man noch heute Abend sowie Mittwoch, den 27. April, und Mittwoch, den 4. Mai, jeweils um 20.30 Uhr im Teatro El Extranjero, Valentín Gómez 3328, Buenos Aires, sehen. Karten im Theater oder bei Alternativa Teatral.

Foto:
Titus-Adaptation mit Selfie.

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