Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft
Nur vier Aufführungen von Gilles Jobins “Quantum” in Buenos Aires
Von Susanne Franz
Kraft ist ein grundlegender Begriff der Physik. In der klassischen Physik versteht man darunter eine Einwirkung, die einen festgehaltenen Körper verformen und einen beweglichen Körper beschleunigen kann. Der physikalische Kraftbegriff geht wesentlich auf Isaac Newton zurück, der im 17. Jahrhundert in den drei newtonschen Gesetzen die Grundlagen der klassischen Mechanik schuf. Dabei definierte er die Kraft als zeitliche Änderung des Impulses und identifizierte sie als Ursache für jede Veränderung des Bewegungszustandes eines Körpers.
In der Quantenphysik wird der Begriff Kraft auch in einem übertragenen Sinn verwendet, gleichbedeutend mit dem Begriff Wechselwirkung. Es gibt vier “fundamentale Wechselwirkungen”, die auch als Grundkräfte der Physik bezeichnet werden. Sie bilden die Ursache nicht nur aller bekannten Erscheinungsformen der Kräfte, sondern auch aller in der Physik bekannten Prozesse. Eine der vier Grundkräfte, die Gravitation, wird in der allgemeinen Relativitätstheorie durch die Krümmung der Raumzeit beschrieben. Die drei anderen Grundkräfte werden im Standardmodell der Teilchenphysik durch den Austausch von sogenannten “Kraftteilchen” erklärt.
Der bekannte Schweizer Choreograf Gilles Jobin, eine der großen Figuren des Zeitgenössischen Balletts, der im Jahr 2003 in Buenos Aires im Rahmen des FIBA sein zukunftsweisendes Werk “Moebius Strip” präsentierte, erhielt im Jahr 2012 das Collide@Cern-Stipendium, eine Einladung, in der Großforschungseinrichtung CERN bei Meyrin im Kanton Genf in der Schweiz zu recherchieren und ein Stück zu entwickeln. Am CERN wird physikalische Grundlagenforschung betrieben, und Jobin war von Beginn an fasziniert – denn hier fand er im Prinzip die Theorie dessen vor, was er als Tänzer und Choreograf schon immer intuitiv in die Praxis umsetzte. Wer “Moebius Strip” und “Quantum”, sein momentan in Buenos Aires gezeigtes Werk, das aus diesem Stipendium entstand, beide gesehen hat und vergleicht, wird Parallelen feststellen.
So kompliziert die Quantenphysik für Laien sein mag, Jobin war auf vertrautem Gelände. Sein 50-minütiges Werk “Quantum” ist deshalb zugleich eine hochkomplizierte Ode an die wissenschaftliche Forschung, die er mit den Körpern seiner Tänzer auszudrücken imstande ist, und eine poetische Liebeserklärung an die Kunst, die im Zusammenspiel der Choreografie, der Beleuchtung, die von dem deutschen CERN-Forscher Julius von Bismarck nach physikalischen Gesetzen entwickelt wurde, und dem Klanguniversum, das die Komponistin Carla Scaletti auf Grundlage echter CERN-Geräusche erarbeitete, zum Ausdruck kommt.
Was geschieht anderes im CERN als die Suche nach Antworten auf die vielen ungelösten Fragen des Universums? Und tut die Kunst nicht dasselbe?
Jobin ist ein komplexes Meisterwerk gelungen, das leider beim Publikum in Buenos Aires (zumindest am Freitag) auf eher verhaltene Reaktionen stieß.
(Noch heute und morgen, 6.8. und 7.8., jeweils um 20 Uhr im El Cultural San Martín, Sarmiento 1551, Buenos Aires. Eintritt 150 Pesos.)