16. Deutsches Kino-Festival startet heute
Filmliebhaber, aufgepasst!
Heute abend startet die 16. Ausgabe des Deutschen Kinofestivals von Buenos Aires. Wie jedes Jahr wartet eine breit gefächerte Auswahl der besten deutschen Filme des letzten Jahres darauf, von den Filmliebhabern in Argentinien entdeckt zu werden.
Das Festival findet bis zum 21. September in den Kinosälen der Village Recoleta und des Village Caballito statt. Das Goethe-Institut Buenos Aires organisiert wie immer als Abschlussfilm einen Stummfilmklassiker mit Live-Musik – in diesem Jahr “Der müde Tod” von Fritz Lang, live untermalt vom “Cue Trío”. Darüber hinaus bietet die Filmabteilung des Kulturinstituts dieses Jahr die neue Festivalsektion “La movida berlinesa” (Die Berliner Bewegung) mit zwei interessanten Beiträgen: “Lust & Sound in West Berlin 1979-1989” und “Tod den Hippies!! Es lebe der Punk”.
Alle Informationen sind auf der Webseite des Festivals zu finden.
Hier einige Kritiken der diesjährigen Festivalbeiträge:
“Grüße aus Fukushima” (109 Min.)
Von Susanne Franz
Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft: Die junge Marie (Rosalie Thomass) kommt ins japanische Fukushima, um mit der Organisation Clowns4Help den Opfern der Reaktorkatastrophe von 2011, die immer noch in Auffanglagern leben, da sie nicht in ihre Häuser zurück können oder nicht wie die jungen Leute fortgehen möchten, ein wenig Mut zu machen. Bald erkennt das Mädchen, das vor einer persönlichen Katastrophe aus Deutschland davongelaufen ist, dass sie das nicht schafft, und sie will gerade das Handtuch werfen, als sie auf die etwas rechthaberische Satomi (Kaori Momoi) trifft, die Marie überredet, sie in ihr Haus, das mitten in der verstrahlten Zone liegt, zu fahren.
Marie entschließt sich, Satomi zu helfen, und trotz aller Unterschiede – Satomi ist eine elegante, ehemalige Geisha und Marie ein zu groß geratenes tollpatschiges Wesen – nähern sich die junge und die alte Frau einander an. Beide kämpfen mit ihren inneren Dämonen, wobei sie auch nicht vom Besuch der Geister der Toten verschont werden.
Doris Dörrie hat Japan 25 Mal bereist und mehrere sehr erfolgreiche Filme dort gedreht, darunter “Kirschblüten – Hanami” oder “Erleuchtung garantiert”. Aber diese kleine, poetische Perle in Schwarz-Weiß, für die Dörrie auch das Drehbuch geschrieben hat, ist ihr bester aus dieser Reihe und auch überhaupt einer ihrer gelungensten Filme. Ein Muss für jeden Filmliebhaber!
“24 Wochen” (103 Min.)
Von Michaela Ehammer
Ein Kind auf die Welt zu bringen, ist nicht leicht. Ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, noch viel schwerer. Doch wenn dieses Kind dann auch noch an einem schweren Herzfehler leidet, stellt uns das Leben wohl auf die härteste Probe: Abtreiben oder nicht? Wer sind wir, dass wir über Leben oder Tod entscheiden dürfen? Und wie soll ein Mensch diese Kluft zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen ertragen? Die Hebamme sagt, solche Entscheidungen könne man nur treffen, wenn man sie treffen muss. Doch selbst dann erweisen sich unbändige Angst und nagender Zweifel als ständige Begleiter – ein Leben lang.
Vom Gewissensnotstand geplagt, halten Star-Kabarettistin Astrid Lorenz (Julia Jentsch) und ihr Lebensgefährte Markus Häger (Bjarne Mädel) auf einfühlsame Weise zusammen und beweisen nicht nur einmal ihre tiefe Liebe zueinander. Eine Liebe, die sie am Scheideweg ihres Lebens ihrer bereits vorhandenen Tochter Nele nicht geben können.
Mit “24 Wochen” ist der Regisseurin Anne Zohra Berrached, die zugleich auch für das Drehbuch verantwortlich war, ein wahrhaftes Meisterwerk gelungen. Mit jeder Bewegung der Kamera ist der Film dem echten Leben ganz nah und zeigt mit realer Grausamkeit, wohldosierter, melancholischer Musik und einer ergreifenden Dramatik, wie erbarmungslos das Schicksal zuschlagen und das gewohnte Leben aus der Bahn werfen kann. Ein bis aufs Tiefste berührender Film, der uns an moralische Grenzen stoßen lässt und der viele Fragen aufwirft – vor allem, ob Astrids Entscheidung, die sie am Ende vollkommen allein trifft, moralisch, politisch, rechtlich und ethisch vertretbar ist.
“Rico, Oskar und das Herzgebreche” (95 Min.)
Von Michaela Ehammer
Die kleinen großen Helden sind zurück: Nach dem Vorgänger “Rico, Oskar und die Tieferschatten” wartet nun mit “Rico, Oskar und das Herzgebreche” ein neues Abenteuer auf die unzertrennlichen Freunde. Rico lebt immer noch mit seiner Mutter in Berlin. Sein gewohntes Leben droht jedoch wie eine Seifenblase zu zerplatzen, als ihn sein bester Freund, der ebenso schlaue wie ängstliche Oskar, besuchen kommt. Was führt die fürchterliche Ellie im Schilde? Wer ist Bruno? Und wieso verheimlicht ihm seine Mutter (Karoline Herfurth) ihre illegalen Geschäfte? Mit beherzter Courage und ausgeklügelten Plänen schaffen es die beiden letztendlich, den Verbrechern auf die Spur zu kommen und sie schlussendlich mit der Hilfe ihrer Bekannten zu überführen. Dabei merken Rico und Oskar, dass sie nur gemeinsam stark sind und sich gegenseitig brauchen, um ihre Ängste zu überwinden.
Regisseur Wolfgang Groos versetzt uns in dem herzerwärmenden Kinderfilm in unsere eigene Kindheit und lässt uns in Erinnerungen an Abenteuer, Spaß und Action schwelgen. Mit Anton Petzold als Rico und Juri Winkler als Oskar in den Hauptrollen treffen wir auf zwei Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch gerade das macht dieses Duo so liebenswert. Für Abwechslung sorgen die in die Handlung eingestreuten Trickfilm-Szenen, auch die Musik übernimmt bereits von Anfang an eine emotionale Rolle. Ein Film zum Zurücklehnen und Genießen, der mit vielen kleinen Pointen garantiert den Tag versüßen wird!
“Coconut Hero” (97 Min.)
Von Susanne Franz
Die Pubertät ist eine schwierige Zeit. Als Mikes Mutter sich von seinem Vater trennte, änderte sie ihren Ehenamen Burger zurück in ihren Mädchennamen, weil sie nicht wollte, dass ihr Sohn wie ein Fleischklops hieße und dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt sei. Dummerweise war Tyson auch nicht das Wahre, und der 16-jährige “Mike Tyson – nicht der Boxer!” (Alex Ozerov) wird von seinen Mitschülern unsäglich gehänselt. Als das Mobbingopfer sich schließlich umbringen will, geht auch das schief. Bei den Untersuchungen seiner Kopfverletzung stellt sich jedoch heraus, dass Mike einen Hirntumor hat. In seiner Besessenheit, sterben zu wollen, wehrt er sich gegen eine Operation. Eine Therapie hilft ihm zwar, seinen Vater wiederzutreffen, bringt ihn aber nicht wirklich von seinem Ziel ab. Erst die Begegnung mit der Tanzlehrerin Miranda (Bea Santos) und dramatische Ereignisse führen dazu, dass Mike den Wert des Lebens schätzen lernt.
Regisseur Florian Cossen, bekannt durch sein in Argentinien spielendes Verschwundenen-Drama “Das Lied in mir”, hat diesmal in Kanada und mit kanadischen Ko-Produzenten gedreht. Der Diplomatensohn hat an vielen Orten der Welt gelebt und setzt mit seinen Filmen seinen ehemaligen Heimatstätten oft ein Denkmal.
So ernst der Inhalt des Filmes klingt, so schwarzhumorig, warmherzig und frisch ist dieser Independent-Streifen gelungen, in dem einfach jede Einstellung stimmt. Auch kleinste Rollen sind überzeugend besetzt und kleinste Szenen liebevoll ausgestaltet. So meint etwa Udo Kier als der Therapeut zu Mikes Frage, wie Deutschland sei: “Klein. Und voll von Deutschen.”
“Er ist wieder da” (116 Min.)
Von Marcus Christoph
Schon die Roman-Vorlage von Timur Vermes war ein Riesenerfolg. Und auch die Kinovariante der Hitler-Satire “Er ist wieder da” entpuppte sich als Kassenschlager: 2,4 Millionen Kinobesucher haben den Streifen von Regisseur David Wnendt seit seiner Premiere im Oktober vorigen Jahres gesehen. Die Grundidee des Films ist die Annahme, dass Adolf Hitler – im Film gespielt von Oliver Masucci – knapp 70 Jahre nach seinem Selbstmord wieder auftaucht im Berlin des Jahres 2014. Aus dieser Konstruktion ergeben sich zahlreiche komische Situationen, bei denen einem gelegentlich das Lachen im Halse stecken bleibt. Denn letztlich wirft der Film auch ein bezeichnendes Schlaglicht auf das moderne Deutschland mit seiner oberflächlichen Populärkultur und der Gier nach Quoten und Marktanteilen.
Hitler, den seine Mitmenschen in dem Film für einen etwas durchgeknallten Comedian halten, hat unter den für ihn neuen Rahmenbedingungen Erfolg: Schnell entwickelt er sich zum gefeierten Entertainer, der die Kunst der Massenbeeinflussung beherrscht. Lediglich der Umstand, dass er vor laufender Kamera einen kleinen Hund erschießt, kratzt zeitweise an seiner Popularität. Der Film geht über das rein Unterhaltsame hinaus und hält der Gegenwart den Spiegel vor. Inwieweit jedoch der Menschheitsverbrecher Hitler sich überhaupt als Komödienfigur eignet, muss wohl jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden.
“Herbert” (109 Min.)
Von Marcus Christoph
Es ist keine leichte Kost: Das Langspielfilmdebüt “Herbert” von Regisseur Thomas Stuber erzählt von einem ehemaligen Boxer, der einen Kampf kämpfen muss, den er nicht gewinnen kann: Bei Herbert Stamm (Peter Kurth), einst Leipziger Boxchampion und später Knacki, wird die unheilbare Muskelschwundkrankheit ALS festgestellt, an der auch der Physiker Stephen Hawking leidet. Der Zuschauer wird Zeuge, wie der einstige Kraftprotz Herbert, der seinen Lebensunterhalt als Boxtrainer, Türsteher und Geldeintreiber bestreitet, zusehends verfällt und am Ende bewegungs- und sprachunfähig im Pflegeheim sitzt.
Je weniger Herbert in seinem bisherigen Umfeld gebraucht wird, desto mehr entdeckt er seine emotionalen Seiten. Er intensiviert seine Beziehung zu seiner Freundin Marlene (Lina Wendel) – und er versucht vor allem, den abgebrochenen Kontakt zu seiner Tochter Sandra (Lena Lauzemis) wieder herzustellen, die mittlerweile Mutter der kleinen Ronja (Lola Liefers) geworden ist. Dies ist sein “letzter Kampf”, wie Herbert selbst sagt, bei dem er zunächst auch einige harte Schläge einstecken muss.
Der Film, der auf einer Buchvorlage von Paul Salisbury basiert, ist Milieu- und Charakterstudie zugleich. Er zeigt Lebens- und Wohnverhältnisse der Unterschicht, das Nachtleben, die Boxschule – kurz eine harte, teils brutale Wirklichkeit, schonungslos ins Bild gesetzt. “Herbert” besticht aber vor allem durch die große schauspielerische Leistung von Peter Kurth, der im Laufe der Filmarbeiten zahlreiche Kilos abspecken musste, um den körperlichen Verfalls des Ex-Boxers darzustellen. Zum Schluss beschränkt sich die Darstellung auf reines Mienenspiel – traurig, aber zum Teil auch rührend. Auf jeden Fall sehenswert.
“Ich und Kaminski” (124 Min.)
Von Susanne Franz
Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Daniel Kehlmann durch Regisseur Wolfgang Becker (“Good-Bye Lenin”) nimmt die Gier nach Ruhm und die Tricksereien des Kunstbetriebs auf oft vergnügliche Weise aufs Korn. Der Journalist und Schriftsteller Sebastian Zöllner (Daniel Brühl) ist ein egoistischer Besserwisser, was er selbst nicht zu bemerken scheint. Er behandelt die Menschen um sich herum auf herablassende Art und Weise und stolpert dabei von einem Fettnapf in den anderen – oft zur Erheiterung des Zuschauers. Zöllner schreibt an einer Biografie über den berühmten Maler Manuel Kaminski (Jesper Christensen), die er aus Zeugnissen über den legendären, jetzt abgeschieden lebenden Künstler zusammengestellt hat. Denn Kaminski hat so gut wie alle Größen des vergangenen Jahrhundert beeinflusst – von Picasso bis Warhol.
Ist der als “blinder Künstler” berühmt Gewordene aber tatsächlich blind oder hat er das aus Kalkül der Welt nur vorgegaukelt? Um das herauszufinden und O-Töne für sein Buch zu bekommen, reist Zöllner in die Schweizer Berge, um den Künstler aufzusuchen. Dort wirft ihn schon die erste Frage des Alten aus der Bahn: “Warum machen Sie das?” Denn das kann der Jüngere nicht beantworten, auch sich selbst gegenüber nicht. Handelt er aus Verzweiflung oder getrieben vom Neid auf erfolgreichere Kollegen? Um Geld zu machen, wenn das Buch nach dem Tod des Alten ein Erfolg wird? Oder etwa, um die hehre Wahrheit herauszufinden?
Die beiden ungleichen und sich doch ähnelnden Menschen nähern sich an und machen eine gemeinsame Reise, um eine verflossene Liebe Kaminskis aufzusuchen. Während Zöllner anfangs glaubt, kurz davor zu sein, den Alten zu entlarven, muss er bald feststellen, dass er Kaminski in keinster Weise gewachsen ist.
“Miss Sixty” (98 Min.)
Von Susanne Franz
Die Errungenschaften der Medizin machen es möglich: Man kann 100 Jahre alt werden, und auch Frauen können heute im Alter noch ihre eigenen Kinder zur Welt bringen, wenn sie rechtzeitig ihre Eier eingefroren haben und sich entsprechenden Hormonbehandlungen unterziehen. Wie sieht jedoch die Gesellschaft eine Frau an, die sich genau das vorgenommen hat?
Die brillante Biologin Luise Jansen (Ingrid Berben) ist 60 und wurde gerade in Frührente geschickt, weil sie selbst nach 40 Jahren im Betrieb keinen einzigen Freund besitzt und einer Kollegin den Finger gebrochen hat, weil diese ihre Zentrifuge benutzte. Ihre Mutter Doris (Carmen-Maja Antoni), bei der Single Luise immer noch lebt, denkt, jetzt könne man endlich gemeinsam auf Kreuzfahrt gehen, aber Luise hat sich das mit dem eigenen Baby fest in den Kopf gesetzt. Der Samenspender soll einer sein, der nicht ganz so brillant ist wie sie selbst, so gerät sie an den 30-jährigen Journalisten Max (Björn von der Wellen). Mit dessen Vater, dem Galeristen Frans Winther (Edgar Selge) hatte die schlagfertige Luise schon einen Zusammenstoß, auf den noch einige folgen sollen. Auch Frans ist 60 und will sich nicht mit seinem Alter abfinden. Mit seiner jungen Geliebten fühlt er sich wie 18 – nur das Kreuz macht nicht mit. Nach und nach werden Luise und Frans Freunde – und mehr.
Regisseurin Sigrid Hoerner hat für ihre herrliche Romantik-Komödie gehörig in die Slapstick-Kiste gegriffen. So werden in “Miss Sixty” ernste Themen zwar angesprochen, aber der Spaß steht im Vordergrund.
“B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989” (92 Min.)
Von Marcus Christoph
“Die Mauer war der Rahmen für grenzenlose Freiheit”. Der Satz klingt ein wenig verrückt – genauso wie die Situation der “Insel” West-Berlin während der 80er Jahre. Ein Raum für Kreativität, Hausbesetzungen, ein wildes Nachtleben, umgeben von der kommunistischen DDR.
Der Dokumentarfilm “B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989” von Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange führt den Zuschauer in die Musikszene jener wilden Jahre bis zum Fall der Mauer. Hauptperson ist der englische Musikfreak Mark Reeder, der von seiner Heimatstadt Manchester in die Halbstadt an Havel und Spree geht. Inspiriert von deutschen Bands wie “Kraftwerk” oder “Tangerine Dream” zieht er in ein besetztes Haus ein und taucht in die Boheme und Musikszene ein. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er als Tontechniker, Schauspieler, Musiker, TV-Journalist und er organisiert eine Tour der Toten Hosen in Ost-Berlin.
In dem Dokumentarfilm kommen Szenegstalten wie Blixa Bargeld von den “Einstürzenden Neubauten” oder der Ärzte-Gitarrist Farin Urlaub zu Wort. Der Film ist eine grandiose Zeitreise, die einen von Beginn an fesselt. Fast vergessene Bilder kommen zurück, wie etwa die Fahrt auf der Transitautobahn durch die DDR nach West-Berlin, wo an vielen Straßenzügen immer noch die Zerstörungen des Krieges sichtbar sind: das alternative Kreuzberg in seiner großen Zeit, das durch die Grenzlage gleichsam am Ende der Welt liegt und wo im legendären Musikclub “SO 36” wilde Konzerte abgehen. Die Zeitenwende deutet sich jedoch an mit den Bildern von der ersten Loveparade im Sommer 1989, damals noch auf dem Ku’damm, und schließlich mit dem Fall der Mauer. In der Silvesternacht 1989/90 sieht man den US-Sänger und Schauspieler David Hasselhoff vor dem Brandenburger Tor sein unsägliches “Looking for Freedom” singen – es klingt wie ein böser Abgesang auf eine einmalig-verrückte Zeit.
Unter dem Strich: “B-Movie” ist absolut sehenswert. Er wird übrigens in der neuen Festivalkategorie von Filmen mit Berlin-Bezug gezeigt.
“Im Spinnwebhaus” (93 Min.)
Von Michaela Ehammer
“Es hat nichts mit euch zu tun”, hören die Kinder immer wieder von ihren Eltern, auch dann, als die Mutter am Boden kniend den Vater mit den Worten “Du kannst sie haben, ich will sie nicht mehr” erfolglos um Hilfe bittet. So schnuppert Jonas mit seinen zarten zwölf Jahren ungewollt Luft des Erwachsenendaseins. Zuversichtlich übernimmt er die Verantwortung für seine beiden jüngeren Geschwister, den hyperaktiven Nick (Lutz Simon Eilert) und die noch in den Kindergarten gehende Miechen (Helena Pieske), als seine völlig überforderte Mutter Sabine, gespielt von Sylvie Testud, sie allein im Haus zurücklässt, um im Sonnental gegen ihre Dämonen anzukämpfen. Doch ihre Abwesenheit zu verheimlichen, um nicht ins Heim zu müssen, überfordert Jonas (Ben Litwinschuh) zusehends. Er isoliert sich und die Geschwister, und gemeinsam gleiten sie in eine eigene Phantasiewelt ab, eine Welt, in der Käfer zu Haustieren werden und Spinnen als Teleportal für ferne Orte dienen.
Was für die Geschwister als lustiges Abenteuer beginnt, entpuppt sich schon bald als harter Kampf um Leben und Tod. Wird Mama je wieder zurückkommen? Und um welche Dämonen handelt es sich eigentlich? Allein die Freundschaft mit dem geheimnisvollen Grafen Felix (Ludwig Trepte), einem in Reimen sprechenden Schutzengel, gibt Jonas Hoffnung und Mut im nicht enden wollenden Überlebensdrama und zeigt ihm, wie man sich ohne Hilfe von Erwachsenen durchschlagen und dennoch Kind bleiben kann.
Mara Eibl-Eibesfeldt hat mit ihrem Debütfilm ein kunstvolles Märchen geschaffen, dessen besonderer Glanz von Jürgen Jürges Schwarz-Weiß-Bildern hervorgehoben wird. Die Spinnweben, die im Haus nach und nach zunehmen, hängen wie bedrohliche Schatten von der Decke und halten die Kinder gefangen wie eine Spinne ihre Beute. Ein psychologisches Meisterwerk, basierend auf wahren Begebenheiten.
“Freistatt” (104 Min.)
Von Marcus Christoph
Bei “Freistatt” muss man sich auf einige Härten gefasst machen. Rau und derb geht es zu in dem christlichen Erziehungsheim, auf das sich der Name des Films von Marc Brummund bezieht. Im Mittelpunkt der 1968 in Niedersachsen spielenden Handlung steht der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann), der auf Betreiben seines Stiefvaters (Uwe Bohm) in das genannte Internat geschickt wird. Die Jugendlichen dort leben wie Strafgefangene. Sie müssen zum Torfstechen ins Moor. Vor Arbeitsantritt haben sie bezeichnenderweise das “Moorsoldatenlied” zu singen, das einst von Häftlingen des KZ Börgermoors geschaffen wurde. Die Jugendlichen werden misshandelt, teilweise auch sexuell missbraucht. Wolfgang rebelliert, mehrfach versucht er zu fliehen. Einmal schafft er es, aus dem Moor zu entkommen. Doch sein Stiefvater und der zynische Anstaltsleiter Brockmann (Alexander Held) sorgen dafür, dass der Junge wieder zurück muss.
Eine fragwürdige Rolle spielt die Mutter, dargestellt von Katharina Lorenz, die das Martyrium ihres Sohnes letztlich zulässt, um die Beziehung zu ihrem Lebenspartner nicht zu gefährden. Erlöst wird Wolfgang erst, als der Stiefvater stirbt und er die Anstalt verlassen darf. Doch er ist menschlich verroht und innerlich heimatlos geworden.
“Freistatt” entlässt den Zuschauer zu keinem Zeitpunkt aus dem Gefühl tiefer Bedrückung. Immer wieder stellt man sich bei dem Film, der sich auf wahre Begebenheiten bezieht, die Frage, wie in der Bundesrepublik des Jahres 1968 solche Zustände möglich waren. In einigen Szenen deutet sich jedoch der gesellschaftliche Wandel an: In Gestalt von US-amerikanischer Rockmusik als Zeichen des Protests und einem Willy Brandt-Wahlplakat, das bei Wolfgangs Fluchtversuch im Hintergrund zu sehen ist.
Fazit: Sehenswert, aber nicht geeignet, wenn man sich im Kino vergnügen will.
“Verfehlung” (95 Min.)
Von Susanne Franz
Das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche, von innen betrachtet: Regisseur Gerd Schneider, der Theologie studierte und Priesteranwärter war, beleuchtet das Schicksal dreier Freunde, die in der Kirchenhierarchie unterschiedliche Wege eingeschlagen haben: Der Priester Jakob (Sebastian Blomberg) arbeitet als Gefängnisseelsorger, Dominik (Kai Schumann) hat eine Gemeinde unter sich und widmet sich besonders der Jugendarbeit, und Oliver (Jan Messutat) bekleidet ein Amt innerhalb der Verwaltung. Als Dominik beschuldigt wird, einen Jungen sexuell missbraucht zu haben, beginnen sich die Räder des Machtapparates zu drehen, wobei dies ganz automatisch geschieht – Anweisungen von oben sind gar nicht notwendig. Diese innere Maschinerie der Kirche offenzulegen, die wie ein geschlossener Kreis funktioniert, in dem die Opfer als Kollateralschäden angesehen werden, ist eines der großen Verdienste dieses Films.
Der Protagonist Jakob ist vollkommen erschüttert von den Verbrechen, die sein Freund begangen hat. Während Dominik selbst seine Taten bagatellisiert und Oliver Vertuschungsmaßnahmen ergreift, bricht Jakobs Welt zusammen, und er ist unglaublich wütend, aus seiner komfortablen Zone herausgerissen zu werden. Seine seelsorgerische Arbeit gerät zu hohlen Phrasen, aber er will keine Hilfe annehmen. Er sucht überall anders nach Verantwortlichen, und bis er endlich, sehr spät, erkennt, was er selbst tun muss, ist es ein langer, schmerzlicher Weg.
“Verfehlung” ist ein schonungsloses Drama, ein hervorragender Film, den man jedem nur empfehlen kann!
“Wir Monster” (95 Min.)
Von Michaela Ehammer
Sarah und Charlie sind zwei 14-jährige, pubertäre Mädchen: Sie streiten sich, lieben sich und würden einfach alles füreinander tun. Wirklich alles? Es war ganz sicher ein Unfall, versucht der Vater Paul (Mehdi Nebbou) nicht nur seine Tochter, sondern auch sich selbst zu trösten, als er Charlies Rucksack im Stausee vorfindet – von dem Mädchen fehlt jedoch jede Spur. Doch Sarah bleibt dabei: Sie hat Charlie mit purer Absicht von der Staumauer in den See geschubst und setzt ihre Eltern somit vor die Qual der Wahl – sollen sie zur Polizei gehen oder den Vorfall vertuschen? Wie weit kann man als Elternteil für sein Kind gehen?
Paul und Christine (Ulrike C. Tscharre) wissen: Seit ihrer Trennung ist Sarah alles zuzutrauen, auch der Mord an ihrer besten Freundin. Diese Bürde und gemeinsame Schuld zwingt die zerrüttete Familie wieder zusammen und verändert ihr Leben drastisch. Sarah, verkörpert von Janina Fautz, verhält sich von Tag zu Tag merkwürdiger, so, als wäre überhaupt gar nichts geschehen. Kann sie einfach nicht mit der Situation umgehen? Oder ist Charlie (Marie Bendig) gar nicht tot und alles war nur eine geschickt eingefädelte Intrige? Aus dem Geflecht von Lügen und dunklen Geheimnisse gibt es kein Entrinnen mehr, auch dann nicht, als klar wird, was wirklich geschehen ist.
Der Regisseur Sebastian Ko, der gemeinsam mit Marcus Seibert auch für das Drehbuch zuständig war, schafft es, eine packende und mitreißende Spannung aufzubauen – von der ersten Sekunde an. Nicht nur einmal stellt man sich die Frage, wie es weitergeht und ist vom Ende, welches dann für den Zuschauer offen bleibt, völlig geschockt.
“Wild” (97 Min.)
Von Susanne Franz
Es ist ein Ausflug ins Reich der Perversion: In Nicolette Krebitz’ Spielfilm “Wild” verliebt sich die Protagonistin Ania (Lilith Stangenberg) in einen Wolf. Die junge Frau sieht das prachtvolle Tier im Park auf dem Weg zu ihrer Wohnung in einer Plattenbausiedlung, und es ist um sie geschehen. Nach einer Zeit des Werbens – sie hängt dem Wolf Steaks an Zweige und setzt Kaninchen für ihn aus – fängt sie ihn ein und sperrt ihn in die verlassene Nachbarswohnung, wo ihr Großvater lebte, der im Krankenhaus und im Sterben liegt. Durch ein Loch in der Wand beobachtet sie ihn fasziniert und stellt sich in lustvollen Phantasien erotische Begegnungen mit dem Tier vor. Schließlich reißt der Wolf die Wand ein, er scheint Ania jedoch als Gefährtin zu akzeptieren und tut ihr nichts.
Im “wahren Leben” verwahrlost die junge Frau zusehends und erscheint immer öfter ungewaschen und -gekämmt und mit blutigen Kratzern bei der Arbeit. Die Kollegen und ihr seltsamer Chef (Georg Friedrich) sagen nicht viel dazu: Ania ist ohnehin Außenseiterin. Ihre neue “animalische” Ausstrahlung bewirkt, dass sie anscheinend auf einige Menschen anziehender wirkt als zuvor.
Wer nicht aus dem Film rausgeht, schaut ihn mit einer Mischung aus Faszination und Ekel. Da man die Geschichte kaum richtig glauben kann, legt man sich Erklärungen zurecht: Ist Ania durch den nahenden Tod des Großvaters, der sie aufgezogen hat, wahnsinnig geworden und bildet sich das Alles nur ein? Was bedeutet “wild”? Das Animalische, die “Freiheit”, die die junge Frau anscheinend zu erreichen imstande ist, ist entweder Wahnsinn oder – tja, was? Eine Vision von einem “freieren” Menschen bzw. einer freieren Frau? Man ist mehr als skeptisch, aber man muss Frau Krebitz zugute halten, dass ihr Film zu denken gibt. Und Hut ab vor der Schauspielleistung von Lilith Stangenberg; Was die sich traut!