Wie junge Reisende Buenos Aires sehen
Von Ivana Forster
Buenos Aires ist eine teure Stadt, und so arbeite ich während meines Aufenthaltes hier an der Rezeption meines Hostels in San Telmo. Hier stranden junge Reisende aus aller Welt. Manche sind nur auf Durchreise, andere möchten vorübergehend in der argentinischen Hauptstadt leben. Im Gespräch mit den Gästen bemerkt man sehr schnell, wie stark sich ihr Empfinden von Argentinien und insbesondere Buenos Aires unterscheidet. Selbstverständlich hängt dieser Eindruck von den verschiedensten Aspekten ab: Welche Orte werden besucht und damit Teil des Bildes, das wir uns von einem Ort machen? Welche Menschen begegnen uns in welcher Stimmung und Situation?
Jeder Reisende schreibt seine eigene Geschichte. Doch Beobachtungen und Urteile sind keineswegs nur von individuellen Faktoren beeinflusst. Auch wenn wir uns dessen kaum bewusst sind, ist unsere Wahrnehmung Ergebnis der kollektiven Zugehörigkeit, also der Gemeinschaft oder Kultur, in die wir integriert sind. Sie definiert, was wir als “normal” empfinden und das dient unweigerlich als Orientierungsrahmen. Wie es Hanna Milling mit dem Titel ihres 2010 erschienenen Buches “Das Fremde im Spiegel des Selbst” auf den Punkt bringt, sind wir in der Betrachtung von Neuem befangen.
Als Studierende der Soziologie interessierte mich, wie sich die kulturell geprägte Wahrnehmung bei den Besuchern des Hostels beobachten lässt – dazu sprach ich mit drei jungen Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen.
Marie Bentrop (20) aus München
Wie lange bist du schon unterwegs? Wo warst du, bevor du nach Buenos Aires kamst?
Ich bin vor etwa einem Monat in Rio gelandet und über eine kleine Küstenstadt nach São Paulo und Iguazú weitergereist. Danach habe ich in Paraguay eine Freundin besucht und bin von dort aus mit dem Nachtbus direkt hierher gefahren – über 20 Stunden.
Buenos Aires ist also deine erste Station in Argentinien? Wie ist dein genereller Eindruck bisher?
Ich bin erst seit einer Woche hier, aber die erste Erfahrung, die mir im Gedächtnis blieb, war auf jeden Fall eine gute. Als ich am Busbahnhof ankam, bin ich einfach in den Stadtbus gestiegen und dachte, ich könnte hier, so wie in Brasilien, einfach bar bezahlen. Das ging natürlich nicht, weil mir hier ja die Sube-Karte braucht. Als der Busfahrer meinte, dass das nicht geht, hat eine Frau einfach mit ihrer für mich bezahlt. Was ich allerdings seltsam fand, war, dass die Frau weder gelächelt hat noch genervt gewirkt hat. Es war eher einfach selbstverständlich. Hier im Hostel trifft man ja wenige Argentinier, aber die, die ich kennengelernt habe, waren richtig sympathisch.
Inwieweit stimmt dein erster Eindruck mit dem überein, was dir in Deutschland durch Medien, Schule, Erzählungen vermittelt wurde?
Ich muss sagen, man bekommt in Deutschland eigentlich überhaupt keinen wirklichen Eindruck von Südamerika. Man denkt an gefährliche Gangsterbanden und Empanadas. Das war es aber auch schon fast. Vor allem ist mir aufgefallen, dass man gerade in der Schule überhaupt nichts zur Geschichte Südamerikas lernt. Vielleicht in der achten Klasse etwas zu Kolumbus und das vergisst man wieder, bis man erwachsen ist. Der Geschichtsunterricht ist immer extrem zentriert auf das, was in Europa und Nordamerika passiert. Man lernt gar nichts zu Dingen, die auf anderen Kontinenten vor sich gehen. Ich habe schon in einer Nachmittagstour, hier in Buenos Aires, von einem Guide beispielsweise von Kriegen erfahren, die die Weltgeschichte geprägt haben, aber von denen ich noch nie gehört hatte.
Was sind dir sonst für kulturelle Differenzen im Vergleich zu deiner eigenen, also zur deutschen aufgefallen?
Vor allem, wie die Männer in Südamerika sich verhalten. Der Austausch zwischen Mann und Frau spielt sich ganz anders ab. Man hat schon eher das Gefühl, dass man als Objekt oder als potenzielle Partnerin angesehen wird. Es ist sehr schwer, mit Männern auf einer freundschaftlichen Ebene in Kontakt zu kommen. Generell kommt mir schon die gesamte Lebensweise anders vor als in Deutschland oder Europa. Aber meinen großen Kulturschock hatte ich schon in Brasilien.
Was war das Verrückteste oder Überraschendste, das dir in Buenos Aires passiert ist?
Wirklich verrückt ist das nicht. Aber ich bin, ich glaube an einem Samstag, zur Plaza de Mayo gelaufen, und da war ein riesiger Umzug von Bolivianern. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich bin einfach nur rumgelaufen und mitten in einem riesigen Pulk von Menschen gelandet, die laute Musik gemacht haben und auf der Straße getanzt haben. Es war ziemlich cool, einfach über so etwas zu stolpern, ohne danach zu suchen.
Wie sicher fühlst du dich hier? Vor allem die Famlie zu Hause macht sich bei jungen Europäerinnen ja oft Sorgen, wenn die ganz alleine durch Lateinamerika reisen.
Es stimmt definitiv, dass man sich hier nicht so sicher fühlt wie in Deutschland. Man denkt darüber nach, dass es mehr Arme gibt, die darauf angewiesen sind, jemanden zu überfallen. Mir ist zum Glück noch nichts passiert, aber ich habe schon viele ungute Geschichten gehört. Aber ich denke, dass es wiederum nicht so extrem ist, wie viele Deutsche das sehen. Wenn man mit ein bisschen gesundem Menschenverstand durch die Gegend läuft und sich nachts von gewissen Orten fernhält, dann fühlt man sich auch nicht so schrecklich unsicher.
Wie ist deine Wahl gerade auf Südamerika beziehungsweise Argentinien gefallen?
Ich habe in der zehnten Klasse ein Auslandsjahr in Italien gemacht und dabei viele Südamerikaner kennengelernt. Seitdem wollte ich dorthin reisen. Ich wusste schon immer, dass es mich eher nach Südamerika als etwa Südostasien zieht. Das liegt, glaube ich, vor allem daran, dass ich mich den Latinos kulturell näher fühle, so klischeehaft das klingen mag.
Oscar Guerra (25) aus Caracas, Venezuela
Wie lange bist du schon in Buenos Aires? Hast du vorher schon andere Teile Argentiniens kennengelernt?
Nein, ich kam vor ungefähr einer Woche hier an und habe keine anderen argentinischen Orte gesehen.
Wie ist dein erster Eindruck?
Unglaublich! Ich bin an eine sehr viel belebtere Umgebung gewöhnt. In dieser Stadt ist es ganz anders. Sie ist riesengroß, aber es gibt keine solchen Menschenmengen auf der Straße.
Inwieweit stimmt deine erste Wahrnehmung mit dem überein, was dir in Venezuela durch Medien, Schule, Erzählungen über Argentinien vermittelt wurde?
Eigentlich habe ich es mir genauso vorgestellt. Wie die meisten wissen, ist Venezuela zurzeit nicht der beste Aufenthaltsort. Meine Erwartungen wurden sogar übertroffen, ich hatte ziemlich viel über die Stadt gelesen.
Verglichen mit deinem Land – sind dir kulturelle Differenzen aufgefallen?
Ich mag die Kultur in Venezuela, besonders in den Städten. Aber ich glaube, die meisten Kulturen sind fortschrittlicher als die unsrige, in jeder Hinsicht. Zum Beispiel in Hinblick auf Graffitis. Ich sprühe selbst seit sieben Jahren, aber was ich hier gesehen habe, ist von Weltrang. Was das Zusammenleben angeht, denke ich, dass jeder für sein Handeln verantwortlich ist.
Was war das Verrückteste oder Überraschendste, das dir in Buenos Aires passiert ist?
Als ich am Flughafen ankam, hat mich mein Cousin abgeholt. Wir sind im Bus hierhergefahren und haben über den Wahnsinn in den Straßen Venezuelas gesprochen und ich meinte zu ihm, dass der Verkehr hier viel geordneter ist. Und zufälligerweise hat in diesem Moment ein Motorrad den Bus überholt und ist genau vor unseren Bus gestürzt.
Wie schätzt du die Sicherheit in Argentinien – verglichen mit Venezuela – ein?
Die Sicherheit hier ist schon grandios. In Caracas ist man daran gewöhnt, auf alles vorbereitet zu sein, ausgeraubt zu werden. Die Menschen verlassen das Haus, weil sie zur Arbeit müssen und kehren dann sofort wieder zurück nach Hause. Aber hier kannst du machen, worauf du Lust hast. Weißt du, wie lange ich mich nicht mehr auf einen Platz gesetzt habe, um zu lesen? Das ist bestimmt fünf Jahre her. Hier habe ich das in der vergangenen Woche jeden Tag gemacht.
Wie ist deine Wahl gerade auf Argentinien gefallen?
Ich möchte hier ein, zwei Jahre leben. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe mich schon immer mit der argentinischen Kultur beschäftigt. Das ist nichts besonders Persönliches. Hier möchte ich anfangen und anschließend andere Orte in Südamerika oder vielleicht Europa kennenlernen.
Soudai Hirai (21) aus Tokio
Wie lange bist du schon unterwegs? Wo warst du, bevor du nach Buenos Aires kamst?
Ich war fünf Monate in Südostasien und Europa unterwegs und Buenos Aires ist meine erste Station in Südamerika.
Wie ist dein genereller Eindruck bisher?
Nach ein paar Tagen kann ich noch nicht besonders viel sagen. Aber ich war überrascht, dass hier so wenig Englisch gesprochen wird. Ich habe gemerkt, dass ich Spanisch lernen sollte.
Ist Argentinien in etwa so, wie du erwartet hattest?
Ich dachte, die Argentinier wären leidenschaftlicher und aufbrausender. Außerdem hat mich überrascht, wie entwickelt Buenos Aires ist.
Sind dir kulturelle Unterschiede zu Japan aufgefallen?
Die Leute hier scheinen sehr gern Fußball zu schauen. Und man isst hier sehr viel Fleisch.
Ist dir bereits etwas Verrücktes oder Überraschendes passiert?
Ich fand es verrückt, zu bemerken, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich ist.
Wie sicher fühlst du dich hier?
Ich habe gehört, die Stadt sei nicht sicher, aber das kommt mir nicht so vor. Verglichen mit Japan ist es hier aber natürlich weniger sicher. Aber Japan ist eben besonders in dieser Hinsicht.
Wie ist deine Wahl auf Argentinien als erstes Reiseziel in Südamerika gefallen?
Ich wollte von Süden nach Norden reisen. Zwar hätte ich auch in Brasilien anfangen können, aber dazu hätte ich im Gegensatz zu Argentinien ein Visum gebraucht.
Fotos von oben nach unten:
San Telmo ist eines der beliebtesten Stadtviertel bei jungen Reisenden.
Marie Bentrop.
(Privat)
Oscar Guerra.
(Foto: Ivana Forster)
Soudai Hirai.
(Foto: Ivana Forster)