Ein zeitgenössisches Märchen
Der deutsche Komponist Helmut Lachenmann läutete mit seinem Werk “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” die Spielzeit 2014 des Colón ein
Von Susanne Franz
Das Märchen von Hans Christian Andersen ist mit einfachen, kindlichen Worten erzählt, und doch ist es der reine Horror. Die Musik-Geräusch-Komposition des deutschen Komponisten Helmut Lachenmann, die “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” als Grundlage nimmt, wobei Lachenmann auch Textstücke von Gudrun Ensslin und Leonardo Da Vinci verwendet, lässt dem Zuhörer – passend dazu – immer wieder das Blut in den Adern gefrieren. Da geht ein kleines Mädchen am Weihnachtsabend nach draußen in die eisige Kälte, um Streichhölzer zu verkaufen. Beim Überqueren der Straße wird sie fast überfahren und verliert in der Hast ihre Schuhe. Barfuß geht sie weiter. Überall in den Häusern ist warmer Lichtschein zu sehen, und der Geruch von Essen dringt nach draußen. Das Mädchen friert und hat Hunger. Keinerbeachtet sie an oder kauft ihr etwas ab. Ohne Geld traut sie sich nicht nach Hause. Irgendwann brennt sie die Streichhölzer ab, um etwas Wärme zu spüren. Sie sieht eine Sternschnuppe und beginnt zu halluzinieren – sie sieht die verstorbene Großmutter vor sich. Dann stirbt das Mädchen. Kein Mensch kümmert sich darum, und am nächsten Morgen lehnt die Erfrorene immer noch an der Häuserwand.
Helmut Lachenmann hat mit der Konzertversion seiner Oper “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” am vergangenen Samstagabend und Sonntagnachmittag die Spielzeit 2014 des renommierten Colón-Theaters eröffnet. Mit der Unterstützung des Goethe-Instituts Buenos Aires, fand der von Martín Bauer geleitete Zyklus “Colón Contemporáneo” (Zeitgenössisches Colón) im Hauptsaal des ehrwürdigen Opernhauses statt. Das Publikum der Lateinamerikapremiere des Lachenmann-Werkes war in der Mehrzahl etwas jünger und freakiger als das “normale” Opernpublikum und nahm das experimentelle Musiktheaterwerk mit großem Wohlwollen auf.
Unter der Stabführung des jungen Schweizer Dirigenten Baldur Brönnimann gaben Orchester und Chor des Colón sowie verschiedene Solisten ihr Bestes, ihren Instrumenten bzw. Stimmen die ungewöhnlichsten Klänge zu entlocken. Auch die Stimmen der beiden Sopranistinnen wurden als Instrumente eingesetzt. Das Pfeifen des Windes, die Kälte, die Schwärze der Nacht wurden heraufbeschworen. Evoziert werden die Kälte und Gefühllosigkeit der Gesellschaft, die sich um ihre schwächsten Mitglieder nicht schert.
Lachenmann lotet die Grenzen der Musik und auch der Sprache aus. Er selbst fungierte in der Aufführung in einer Szene als Erzähler. Doch getragen wurde sein beeindruckendes Werk vor allem durch die hochkonzentrierte, virtuose Glanzleistung aller beteiligten Musiker. Der in Stuttgart geborene Lachenmann war sichtlich gerührt vom Applaus des Publikums, aber mehr noch von der Darbietung seines Werkes durch die Künstler – er hörte gar nicht mehr auf, den Musikern und Brönnimann auf die Schultern zu klopfen und die Hände zu schütteln oder sie zu umarmen.
Fotos von oben nach unten:
Das ehrwürdige Colón-Opernhaus in Buenos Aires erlebte eine ungewöhnliche Lateinamerika-Premiere.
Helmut Lachenmann bei einer Probe im Colón.