Bien rugido, león

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Carlos Regazzoni en el Centro Cultural Borges

Por Svenja Beller

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Con un cigarrillo en una mano y con una lata de cerveza en la otra, camina con paso pesado por su exposición. Se mueve entre pinturas coloridas y salvajes, pequeñas chatarras de avión e invitados elegantes. Se acerca al micrófono, ruge pidiendo un poco de silencio, él no lo necesita. Carlos Regazzoni no combina con la refinada sala del Centro Cultural Borges. Con su campera de bombero amarilla y negra, que no logra esconder su panza, y sus formas desestructuradas, se comporta al lado del director del C.C. Borges, Roger Haloua, más como un bebé gigante que como un artista. Pero así es Carlos. Regazzoni es un artista excéntrico, delirante, que hace lo que quiere, que no necesita explicar su arte, que prefiere aullar como un lobo y eructar.

En la apertura de la exposición “Vol de nuit”, el último miércoles a la noche, el director Roger Haloua les contó a los invitados de la vernissage que Carlos Regazzoni se encuentra entre los artistas argentinos más reconocidos en Francia. Su obra, dice Haloua, rinde homenaje a pilotos como Antoine de Saint-Exupéry y Jean Mermoz, pioneros de la aviación. Hasta el 15 de junio le concede su espacio a la obra de Regazzoni. Haloua lo ha invitado a exponer, ya que hace tiempo sigue la obra del artista.

Las pequeñas y grandes esculturas sobre aviones están hechas todas de chatarra. Regazzoni recogió este material de la calle, no tuvo que comprar nada en particular para hacer sus obras. Las concibió durante los últimos años, entre París y Argentina. Todas las pinturas, ruge orgulloso, las realizó en doce horas. Le gusta shockear a la gente, ser diferente. Sus pinturas también tienen un carácter salvaje. Rasgos dinámicos, colores fuertes, composiciones turbulentas. Se corresponden con su melena gris: impetuosa, bruta, no obstante, fascinante y originalmente bella. Es inútil buscar pinceladas finas. Su obra vive de la dinámica del instante. Igual que él.

  • Carlos Regazzoni, “Vol de Nuit”. Centro Cultural Borges, Viamonte/San Martín. Lunes a sábado, 10-21, domingos 12-21 horas. Entrada: 8 pesos, jubilados y estudiantes 5 pesos. Del 20 de mayo al 15 de junio.

Foto arriba:

Las esculturas de Carlos Regazzoni están hechas todas de chatarra.

(Foto: Svenja Beller)

Publicado en “Argentinisches Tageblatt” el 29 de mayo de 2009.

Organische Innen-Räume

Miguel Angel Giovanettis jüngste Werke bei RO Galería de Arte

Von Susanne Franz

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Werke mit Charakter: Giovanetti is back in town.

Nach 10 Jahren in den USA ist der argentinische Künstler Miguel Angel Giovanetti zurück in Buenos Aires. In den Vereinigten Staaten hat er sich mit großem Erfolg am Kunstmarkt bewegt, war auf wichtigen Messen vertreten und hatte zahlreiche Ausstellungen mit bedeutenden internationalen Künstlern wie Sigmar Polke, Bernd und Hilla Becher oder den US-Amerikanern Roy Lichtenstein und Julian Schnabel. Giovanetti spricht mit Stolz über seine Erfolge, besonders freut ihn, dass seine Werke in zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen wie dem MoMA in New York zu finden sind. Nicht die geringste Spur von Arroganz mischt sich in die Erzählungen des 60-jährigen, jung gebliebenen Intellektuellen, der am liebsten in der Bibliothek des Goethe-Instituts Buenos Aires seinen kulturellen Wissensdurst stillt.

Zu Jahresbeginn hat Giovanetti an einer Gemeinschaftsausstellung abstrakter Künstler in einem Museum in La Boca, das künftig dieser Kunstrichtung gewidmet werden soll, teilgenommen. Nun präsentiert er in der Galerie RO seine jüngsten Werke von 2008 und 2009, alle bereits wieder in seiner Heimat Argentinien entstanden. Die Farben seiner Kompositionen scheinen einer herbstlichen Natur zu entstammen, warme Rottöne, Grün, Ocker, Gelb und Braun herrschen vor. So wie Blätter, Äste, Laub und Moos am Waldboden ein Geflecht bilden, fügen sich die Elemente, mit denen Giovanetti komponiert, zu einer organisch-fruchtbaren Einheit.

Die geometrische Ordnung, Giovanettis künstlerische Gesetzgebung, ist ein klares Regelwerk, das er mit Meisterhand variiert: indem er scheinbar buntes Chaos schafft, Tapetenbahnen einarbeitet oder mit geometrischen Figuren wie dem unberechenbaren Oval für Überraschung sorgt. Gezielt bearbeitet Giovanetti seine Werke dabei in einer Weise, dass sie wie “abgenutzt” erscheinen. Das Verwaschene, Zerkratzte, Benutzte symbolisiert für den Künstler die Vergänglichkeit, den Lauf der Zeit.

Mit dem Element der Tapete verweist der Künstler augenzwinkernd auf Räumlichkeiten, die Menschen bewohnen, ursprünglich hieß Giovanettis Serie “Inside” (Innen). Zugleich spricht er von inneren Befindlichkeiten. Giovanetti zeigt mit liebevollem Blick sowohl die Begrenzungen des Menschen als auch sein grenzenloses Potenzial.

  • Miguel Angel Giovanetti, Gemälde 2008/2009. RO Galería de Arte, Paraná 1158. Mo-Fr 11-20 Uhr. 7.5.-5.6.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 29.05.09.

Werke zum Mit-Denken und -Fühlen

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Anahí Roitmans Ausstellung “Magia” bei agalma.arte

Von Susanne Franz

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Im Fenster der Recoleta-Galerie agalma.arte hängt ein bunter Vorhang. Ein kleines Mädchen zerrt im Vorbeigehen an der Hand seiner Oma: “Da will ich reingehen!” Die bunten Streifen aus Kunststoff und Kabeln scheinen mit verführerischer Stimme zu locken: Hereinspaziert in die Welt der Magie!

Die Stimme verspricht nicht zuviel. Wer ins Zauberkabinett der Ausstellung der Cordobeser Künstlerin Anahí Roitman eintritt, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Rechts neben dem Eingang sind zum Beispiel unterschiedlich große Aluminiumringe auf eine Leinwand montiert – gedacht ist das Werk als flexible Installation an einer Wand. Wenn man direkt davorsteht, sieht man “nur” silber, von der Seite erkennt man, dass die Aluminiumkreise im Inneren mit bunten Papierstreifen beklebt sind. Das Werk bekommt eine neue Dimension. Weiß man, dass es sich bei den farbenfrohen Schnipseln um Ausschnitte aus Kunstzeitschriften handelt, die Namen und Daten von Ausstellungen angeben, kommt eine weitere Lesart hinzu.

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Obras para completar con el pensamiento y la empatía.

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“Magia”, la muestra de Anahí Roitman en agalma.arte

Por Susanne Franz

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En la vidriera de la Galería agalma.arte en Recoleta hay una cortina multicolor. Una niña tira la mano de su abuela al pasar, diciendo: “¡Quiero entrar aquí!” Las cintas de colores de material sintético y los cables parecen llamarla con una voz tentadora: ¡Entrar en el mundo de la magia!

La voz no exagera. Quien ingresa en el gabinete mágico de la muestra de la artista cordobesa Anahí Roitman no deja de asombrarse. A la derecha, al lado de la entrada, por ejemplo, vemos anillos de aluminio de distintos tamaños montados sobre una tela. La obra ha sido creada como instalación flexible en una pared. Cuando uno esta directamente delante de la obra, “únicamente” se ve plateado, desde el costado se reconoce que el lado interior de los círculos de aluminio está revestido con cintas de papel de colores. La obra adquiere una nueva dimensión. Otra lectura se presenta al saber que se trata de recortes coloridos de revistas de arte con nombres y datos de exposiciones.

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Um Leben und Tod (1998)

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Lydia Galegos inspirierte Skulpturen

Von Susanne Franz


“Impulsión”, 60 x 40 x 30 cm, 1998.

Unaufhaltsam ist der Weg vom Beginn des Lebens, der Geburt, zu seinem Ende, dem Tod. Wem einmal Leben gegeben wurde, dem ist unweigerlich auch der Keim zu seiner Zerstörung “einprogrammiert”.

Unser Leben ist die Gegenwart, das Jetzt, das wir nie mit Abstand betrachten können, weil wir jeweils gerade mitten in einem Moment stecken. Geburt und Tod, Vergangenheit und Zukunft bergen Geheimnisse, die unser ganzes Leben bestimmen – indem wir versuchen, den Sinn des Lebens zu verstehen, indem wir den Tod verdrängen und immerzu so leben, als seien wir unendlich.

Einen Zustand vor dem Leben und nach dem Tode evoziert Lydia Galego in ihren wunderschön inspirierten Skulpturen. Gleichzeitig abschreckend und einzigartig schön, wie in der Natur, sind ihre Figuren Behältnisse werdenden Lebens – das Ei, die Puppe eines Schmetterlings, die Fruchtblase, in der der Fötus schwimmt. Was sich hier in diesen Gebilden entwickelt, sind alle Möglichkeiten des Lebens – Hohes und Niedriges, Kreativität und Zerstörung – es ist der Keim, die Chance. Die Gefäße sind kompakt, unzerstörbar, wie ein Chamäleon den Erdfarben angepaßt. Seltsame Öffnungen, Höhlungen und Kanäle können Ver- und Entsorgungswege des werdenden, geschützten Lebens sein, das sich – noch ohne Bewußtsein – im Inneren des Gebildes entwickelt.

Galegos Skulpturen können aber gleichzeitig auch Gefäße sein, die die sterblichen Reste eines Wesens enthalten – Urnen vielleicht, oder Totenschiffe auf dem Hades. Lydia Galego spielt, wie sie selbst in einem kurzen Vorwort zu ihrem Katalog sagt, ein Doppelspiel mit den Bedeutungen ihrer Werke – die Interpretation sei dem Betrachter überlassen.

Monumental und schwer wirken die beeindruckenden Figuren, doch wenn man sie anhebt, wird man bemerken, daß sie federleicht sind. Die Künstlerin verwendet ein leichtes Material, das ihr erlaubt, immer selbständig zu arbeiten, ohne jemanden fragen zu müssen, ihre monumentalen Werke zu drehen oder zu transportieren. Den gewünschten Effekt der Schwere und Dichte erreicht sie durch die einzigartige Bearbeitung der Oberflächen – hier wendet sie unterschiedliche Techniken an. Sie verkleidet mit Stoffen, übermalt, verschnürt, nietet und näht, bis der Eindruck entsteht, daß die Figuren bereits Jahrhunderte überdauert haben, ohne je ihr Geheimnis preiszugeben.

Lydia Galegos Skulpturen sind in den Raum gestellte Ge-dichte.

Der Artikel erschien im “Argentinischen Tageblatt” zu Lydia Galegos Ausstellung in der Galerie Atica vom 10.8.-5.9.1998.

De vida y muerte (1998)

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Las esculturas inspiradas de Lydia Galego

Por Susanne Franz


“Impulsión”, 60 x 40 x 30 cm, 1998.

Una vez iniciado, es imparable el camino desde el comienzo de la vida, el nacimiento, hasta su fin, la muerte. A quienes fue dada la vida, ya se les “programó” también —sin falta— el disparador para su destrucción.

Nuestra vida transcurre en el presente, en un “ahora” imposible de juzgar desde la distancia. Estamos, por siempre, parados en el momento. El nacimiento y la muerte, el pasado y el futuro, son secretos que determinan nuestra vida, sea porque tratamos de encontrar un sentido, sea porque dejamos de lado la idea de la muerte y vivimos como si no tuviéramos fin.

Las esculturas inspiradas de Lydia Galego evocan un estado antes del nacimiento y después de la muerte. Repugnantes y al mismo tiempo hermosas, como la naturaleza, sus figuras son fuentes para la vida emergente —huevos, larvas de mariposas, bolsas de útero, con el feto nadando adentro. Lo que evoluciona dentro de estos artefactos son todas las posibilidades de la vida: lo altamente diferenciado y lo bajo, la creatividad y la destrucción: el germen, la promesa.

Las figuras son compactas, indestructibles. Como camaleones, se adaptan a los colores de la tierra. En la superficie hay aberturas raras, huecos, canales. Podrían ser caminos de nutrición o de limpieza para esta vida en camino de hacerse —todavía sin conciencia— dentro del artefacto.

Las esculturas de Galego también podrían ser fuentes que contienen los restos de un ser: urnas quizás, o las barcas de los muertos viajando en el río Hades. Lydia Galego juega un doble juego con los sentidos de sus obras —quiere dejar la interpretación al espectador.

Las figuras, impresionantes, parecen monumentales y pesadas, pero cuando uno las levanta, se va a dar cuenta que son como plumas. La artista usa materiales livianos, porque le dan independencia en su trabajo. No tiene que pedir ayuda a nadie para girar o transportar las esculturas. Para que tengan la apariencia deseada de pesadas y densas, Lydia Galego trabaja la superficie de una manera única. Cubre con telas, pinta encima, ata con hilos, cose, abrocha, hasta que logra que sus figuras parezcan haber sobrevivido siglos, sin nunca haber revelado sus secretos.

El artículo salió en el “Argentinisches Tageblatt” con motivo de la muestra de Lydia Galego en la Galería Atica del 10/8/98 hasta el 5/9/1998.

Schutz vor teuflischen Mächten

Diego Perrottas “El País Volcán” in der Galerie Empatía

Von Susanne Franz

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“El Luchador”, Acryl, 200 x 200 cm, 2008.

Er steht bis zu den Oberschenkeln im Sumpf, vor seinen Körper hält er wie einen Schild ein Objekt, das zugleich Baum und Vulkan ist. Hinter ihm, in einer kargen Landschaft, stehen vier weitere Vulkankegel; aus ihnen wird Rauch geschleudert. Den Baumvulkan in seinen Händen scheint der Kämpfer gezähmt zu haben, er spuckt keine Asche. Die Ruhe vor dem Sturm? Der “Luchador” jedenfalls strahlt konzentrierte, gespannte Erwartung aus. Seine Augen sind gelbe Schlitze, in ihnen offenbart sich seine gebündelte Energie. Komm nur her, sagen sie, ich mag hier feststecken, aber ich habe keine Angst vor Dir. In mir brodelt geballte Kraft.

Die Figur des Kämpfers, der als Beschützer oder Bewacher auch auf anderen großformatigen Leinwänden auftaucht, ist neu im Werk des argentinischen Künstlers Diego Perrotta, dessen jüngste Ausstellung “El País Volcán” (Das Vulkanland) momentan in der Galerie Empatía zu sehen ist. In ihr ist Perrotta wieder zur Malerei und der Keramik zurückgekehrt, nachdem seine letzte große Exposition im Centro Cultural Borges ganz der Zeichnung gewidmet war.

“Meine Figuren sind menschlicher geworden”, beschreibt Perrotta seine Gemäldeserie aus diesem Jahr, die ihn weg von Monstern und anderen Phantasiegestalten zu Themen geführt hat, die das Leben – und mit ihm den Tod – unmittelbarer betreffen.

So schuf er erstmals ein zeitgeschichtlich inspiriertes Werk, “Cromañón”, das die Brandkatastrophe bei einem Rockkonzert in der gleichnamigen Diskothek zum Thema hat, bei der am 31.12.2004 fast 200 Jugendliche verbrannten. “An diesem Tag tat sich im Himmel ein Tor zur Hölle auf”, beschreibt Perrotta ein Element im oberen Bildbereich. Unten malte er 194 Särge, die die jungen Opfer symbolisieren, darunter steht ein Text, der beschreibt, wie ein Mensch erstickt. Und Sätze von Jugendlichen, die der Künstler bei der Gedenkstätte der Cromañón-Katastrophe gelesen hat.

Ebenfalls neu in dieser Ausstellung Diego Perrottas sind Schwarz-Weiß-Gemälde und Schwarz-Weiß-Keramiken von verzaubert wirkenden Tierköpfen. Dabei stellt Perrotta die Nicht-Farben einander immer gegenüber – zur gegenseitigen Ergänzung, nicht als feindliche Gegensätze. Wer an Perrottas barocke Farbgebung gewöhnt ist, ist uberrascht, wie intensiv auch diese Werke wirken. Der Künstler selbst stellt fast erstaunt fest, er sei wohl im Begriff, seine künstlerische Sprache zu glätten und zu einer Synthese zu gelangen.

Im Land der ausbrechenden Vulkane brauchen wir allen Schutz, den wir nur kriegen können. Diego Perrottas Werk macht uns auf den stärksten Beschützer aufmerksam, den wir haben: unsere eigene innere Kraft, auf die wir vertrauen können.

  • Bis 22.11. in der Galerie Empatía, Carlos Pellegrini 1255. Mo-Fr 11-20, Sa 10-13 Uhr.

Konstrukteur anderer Welten

Ingo Günther stellte in Buenos Aires eine Anthologie seiner Werke vor

Von Hanna Jochims

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“Ich möchte die Welt verstehen”, ist die Motivation des deutschen Künstlers Ingo Günther.

“Wenn man sich für Kunst interessiert, aber kein Talent hat, ist es sehr schwierig, etwas zu machen. Und so hat bei mir Technologie Talent ersetzt.” Ingo Günther, 1957 in Dortmund geboren und aufgewachsen, kann auf eine sehr sympathische Art und Weise bescheiden sein. Das Euroamerikanisches Festival für Film, Video und Digitalkunst, MEACVAD08 hat ihn eingeladen, eine Anthologie seiner Werke vorzustellen. Mit mehreren Preisen ausgezeichnet, lehrte er an verschiedenen Kunsthochschulen, wurde in den renommiertesten Kunstzentren der Welt ausgestellt – unter anderem auf der Biennale in Venedig und Fukui in Japan, auf der documenta in Kassel oder auf der Ars Electronica in Linz – und eröffnete seinen Vortrag im Goethe-Institut Buenos Aires am vergangenen Donnerstag so: “Danke, dass Sie 1 ½ Stunden Ihrer Zeit opfern, ich hoffe, es wird nicht langweilig.”

Wurde es nicht. Auch nach zwei abendfüllenden Präsentationen des in New York lebenden Künstlers bleibt das Gefühl, gerade erst einen kleinen Einblick in die umfangreiche und extrem vielschichtige Arbeit Günthers bekommen zu haben.

Anfang der 80er Jahre entstehen seine ersten Projekte – “die übrigens sehr preiswert waren – Ökonomie ist in den Medien ja immer ganz wichtig”, erzählt Günther und fährt fort: “Ich wollte früher nie Videokünstler sein, denn das bedeutete, sich in eine Art Ghetto zu begeben.”

Technische Probleme, Schwierigkeiten mit der Präsentation machen normale Ausstellungen unmöglich. Schlechte Bedingungen, die für Günther aber auch Antrieb waren: Aus seiner Frustration habe er auch Motivation schöpfen können. Eine Motivation, die sich aus Ärger über bestehende Zustände entwickelt – diese Dynamik steht hinter vielen von Ingo Günthers Arbeiten.

1987 wird aus dem Video-Ghetto, aus der Nische, “plötzlich eine Art Refugium”. Günther erhält eine Einladung zur documenta nach Kassel. Er gestaltet einen Raum, der komplett mit Marmor ausgekleidet ist. In der Mitte ein Block, auf den aus der Decke Satellitenaufnahmen von AWACS-Flugzeugen projiziert wurden. Für die nicht an Projektionen gewöhnten Zuschauer sah das Ganze nach Magie aus. “Sie fragten sich: Kommt das Bild aus dem Stein?”, berichtet der Künstler. Die Daten stammten aus einem “Ausflug in den Journalismus” – Günther war als Korrespondent bei den Vereinten Nationen in New York akkreditiert.

Nach dem Fall der Berliner Mauer sieht Ingo Günther eine Chance, seine als passiv empfundene Position als Medienkünstler zu verlassen. Er fliegt nach Deutschland und baut innerhalb von zwei Wochen in Leipzig einen Piratensender auf. “Die Mediengesetze waren außer Kraft gesetzt, diese Situation haben wir genutzt.” Im Sender werden später Journalisten ausgebildet, er sendet mehrere Jahre lang aus dem Leipziger Haus der Demokratie.

Staatskonkurrent und Geschichtsschreiber

“Ich bin ein zutiefst politischer Mensch, der gerne auf allen Ebenen mit dem Staat konkurriert, nicht nur in den Medien”, sagt Günther über sich. Staatssymbole, insbesondere Flaggen wecken sein Interesse. “Flaggen sind als Symbol eines Staates extrem abstrakt, ein paar Farbbalken reichen aus, um Menschen zu Tränen oder sogar in den Tod zu treiben.” Er beginnt, eigene zu entwerfen, so zum Beispiel zu Beginn des Golfkriegs 1990 Flaggen für Märtyrer, Überlebende, Flüchtlinge.

Anfang der 90er Jahre recherchiert und schreibt Günther für die taz über kambodschanische Flüchtlingscamps in Thailand. Die Berichterstattung empfindet er als “ständiges Lamento über die Situation der armen Flüchtlinge” und als für ihn unbefriedigend. Aus dem Versuch, eine positive Geschichte zu schreiben, entsteht das Projekt “Refugee Republic”, an dem Günther seitdem kontinuierlich weitergearbeitet hat. In der Refugee Republic sind – in Anlehnung an Beuys` “Kunst = Kapital” – die Flüchtlinge Kapital. Die Republik hat eine Flagge, deren “RR” stark an das Rolls Royce-Logo erinnert, Geld, Pässe, eine eigene Homepage. Diese sieht zeitweilig der offiziellen Seite des Flüchtlingshilfswerks der UNO (UNHCR) so ähnlich, dass Günthers Versuch, über die Seite “Flüchtlingsaktien” zu verkaufen, zu empörten Anfragen führt: Finanziert sich so etwa die UNO?

In einer seiner Installationen findet sich der Flüchtlingstext auf Neonröhren gedruckt. Diese hängen über den auf dem Fußboden eingezeichneten Ländergrenzen – um den Text zu lesen, müssen Grenzen überschritten werden. In der platzsparenden Version sind die Röhren um einen Globus gewickelt.

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Eine andere Sicht auf die Welt – Globen aus dem Projekt Worldprocessor.

Globen sind es auch, die den zweiten Teil des Vortrags dominieren. Das von Günther so bezeichnete “Mapping”, die ganze Welt als Thema, taucht schon in seinen frühen Arbeiten auf. Seit Ende der 80er Jahre vorwiegend in Kugelform: Innerhalb von 20 Jahren produziert er über 1000 Globen zu mehr als 350 verschiedenen Themen. “Dinge sichtbar machen, die unanschaulich sind – das war mir ein Anliegen”, so Günther, und: “Ich dachte: Den Globus kann ich neu erfinden.”

Das Projekt “Worldprocessor” wäre wohl am Finanziellen gescheitert – wenn Günther nicht das weltpolitische Geschehen in die Hände gespielt hätte: Nach dem Fall der Mauer und der Neuordnung der alten Ostblockstaaten mussten neue Globen her. Die alten, die zuvor 100 DM kosteten, waren nun für fünf zu haben. “So konnte ich meinen enormen Bedarf decken – viele gingen ja schon bei der Produktion kaputt”, erinnert sich Günther. Auf den Weltkugeln zu sehen: Das Vorkommen von Landminen auf der Welt, Länder ohne direkten Zugang zum Wasser, das Volumen und die Vernetzung der Kommunikation über Fiberoptikkabel, die Routen, über die die US-Airforce innerhalb von drei Stunden fast jeden Ort der Erde erreichen kann – so politisch brisant und schwer verdaulich die Aussagen der dargestellten statistischen Werte oft sind, immer sind sie sehr ästhetisch.

Am Ende des zweiten Vortragsabends, eine der Fragen aus dem Publikum: Wie versteht er, Ingo Günther, sich selbst, sich als Künstler? Günthers Antwort: “Mich selbst zu verstehen, habe ich schon lange aufgegeben. Ich möchte die Welt verstehen.”

Mehr Informationen zu Ingo Günther und seinen Arbeiten in der “Republik” und auch im Worldprocessor.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 08.11.2008.

Begegnung mit der Pachamama

Teresa Peredas Projekt “Flores para un desierto” in der Salzwüste Boliviens

Von Susanne Franz

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Das mit bunten Bändern geschmückte Wollknäuel, das Teresa Pereda in ihrer Performance in Bolivien verwendete.

Die Pachamama ist eine anspruchsvolle Gottheit. Zum Beispiel hat sie es gern, mit Süßigkeiten verwöhnt oder besänftigt zu werden. Diese werden mit etwas Alkohol besprenkelt und dann sorgfältig verbrannt. Ein kleines Loch wird in die Erde gegraben und die zu Asche gewordene Gabe hineingelegt. Die Gebete der Schamanen oder die konzentrierte Andacht derjenigen, die das Opfer darbringen, tragen zur guten Verdauung und dem resultierenden Wohlwollen der Pachamama, der Mutter Erde, bei. Und zur Gewissheit ihrer Kinder: Sie wird unsere Ernte, unser Vieh beschützen, uns Nahrung und Kleidung geben, das, was wir zum Leben brauchen.

Gutes Essen und bunte Farben liebt die Pachamama. Es gefällt ihr, wenn das schönste Tier der Herde für sie geopfert wird und man ihr sein Blut zu trinken gibt, und wenn die Gaben mit Coca-Blättern bestreut sind. Sie mag es, wenn die Lamas der Herde mit bunten Bändern geschmückt sind und jeden Tag, wenn sie über die Erde schreiten, dies ihr zu Ehren tun. Dann sorgt sie für Nahrung und Fruchtbarkeit – für Leben.

Die Pachamama wird heute wie einst von den Ketschua oder Amaya in Nordargentinien, Nord-Chile, Bolivien, Peru und Ecuador verehrt. Einen Konflikt mit dem christlichen Glauben gibt es nicht, die meisten Verehrer der Pachamama sind zugleich Katholiken. Sogar in der Weltstadt Buenos Aires ist es bei vielen Menschen üblich, einen kleinen Schluck ihres Weines zu verschütten, bevor sie selbst trinken: “Erst etwas für die Pachamama!”

Die argentinische Künstlerin Teresa Pereda ist eine dieser aufgeklärten, modernen, globalisierten Personen. In ihrem Atelier in Buenos Aires sitzt sie an ihrem Laptop und bearbeitet mit dem neuesten Programm für Filmschnitt die Videos von ihrer letzten Performance. Eine, die ein so einschneidendes Erlebnis, eine so tiefe Begegnung mit der Pachamama und den sie umgebenden Ritualen war, dass Teresa vier Monate lang nicht einmal die Fotos ansehen konnte, die sie und die Künstler Charly Nijensohn und Juan Pablo Ferlat bei ihrem zwanzigtägigen Aufenthalt im Januar in der Salzwüste von Bolivien gemacht hatten.

Ausgangspunkt Ushuaia

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(Zurück-)geben statt immer nur nehmen: Teresa Pereda (links) bei der Darbringung von Erde aus verschiendenen argentinischen Provinzen in Ushuaia 2007. Rechts: René Vergara.

Im April 2007 hielt sich der in Berlin lebende, international anerkannte argentinische Video-Künstler Charly Nijensohn in Ushuaia auf, wo er sich an der “I. Bienal del Fin del Mundo” (I. Biennale am Ende der Welt) beteiligte. Teresa Peredas Beitrag zur Biennale war die Performance “Recolección en el bosque: cita en Yatana”. Diese bestand aus der “recolección”, also Sammlung, von Erde des Ortes Yatana, die Teresa Pereda von der feuerländischen Künstlerin Mónica Alvarado überreicht bekam; dann folgte die “restitución”. also Rückgabe, von Erde, die Teresa Pereda zu anderen Gelegenheiten an anderen Orten Argentiniens gesammelt (bzw. von dortigen Schamanen überreicht bekommen) hatte, an den Ort Yatana, und das Darbringen dieser Erde als Opfergabe durch Teresa Pereda und den feuerländischen Schamanen René Vergara. Bei dieser Performance verwendete Teresa auch zum ersten Mal das Wollknäuel als “Werkzeug”: 38 kg zu einem Strang gedrehte Schafswolle, die sie im Wald von Yatana ausrollte und wieder einholte.

Charly Nijensohn lud Teresa Pereda ein, mit ihm in Januar 2008 in die Salzwüste von Uyuni zu fahren, wo er unter Mithilfe des Künstlers Juan Pablo Ferlat sein Video-Projekt “El naufragio de los hombres” (Der Schiffbruch der Menschheit) verwirklichen wollte. Er hatte den besonderen Zugang gesehen, den die Künstlerin Pereda zur alteingesessenen Bevölkerung hatte und den gegenseitigen Respekt, der für die Verwirklichung ihrer Performance in Ushuaia unerlässlich gewesen war, und bat sie um Mithilfe beim Aufbau eines Kontaktes zur Bevölkerung seines Zielortes in Bolivien. Teresa bat Nijensohn im Gegenzug, dass er dort ihr Projekt “Recolección en el salar: cita en Jaruma”, später “Flores para un desierto”, dokumentieren möge.

Blumen in der Wüste

Die 20 Tage in der Salzwüste werden für die drei Künstler unvergesslich bleiben. Schon bei ihrer Ankunft hatten sie Glück: Teresa kam mit dem Taxifahrer, der sie am 7. Januar 2008 vom Flughafen abholte, ins Gespräch, und dieser stellte ihr nicht nur einen Schamanen vor, der ihr die in der Region üblichen Rituale für die Pachamama erläuterte, sondern brachte sie und die beiden anderen Künstler zu seiner umfangreichen Familie, deren Mitglieder fortan Protagonisten der beiden Kunstprojekte wurden.

Fast jeden Tag, bevor sie zum Drehen in die Salzwüste fuhren, brachten sie der Pachamama ein Opfer dar und stimmten sie milde für das Gelingen ihrer Arbeit. Sie wurden so sehr Teil der Familie, dass diese Teresa schließlich einlud, an ihrem wichtigsten Feiertag, dem 21. Januar (dem Tag des Hl. Sebastian, dem Schutzpatron der Schafe und Kamele) beim “Florear”-Ritus, dem Mit-Blumen-Schmücken der Lamas, mit ihrer Performance und ihren Gaben mitzuwirken. Bei der “Florear”-Zeremonie werden die Ohren der Lamas mit bunten Bändern geschmückt, so dass sie jedesmal, wenn sie ihren Kopf beugen, um zu fressen, der Pachamama ihre Ehrerbietung beweisen.

Am 21. Januar wurde das schönste Tier der Herde (im Falle der betreffenden Familie ein Schaf, ein weißer Hammel), geopfert und sein Blut wurde mit anderen Gaben der Pachamama dargebracht. Zu diesen Gaben gehörte auch Erde, die Teresa Pereda von verschiedenen Orten Argentiniens mitgebracht hatte, und die mit den “ofrendas” der Familie zusammen der Pachamama in der den ganzen Tag dauernden Zeremonie geopfert wurde. Darauf wurden die Lamas der Familie geschmückt. Teresa vollzog ihre Performance “Flores para un desierto”, indem sie das 40 kg schwere Schafswoll-Knäuel, das sie mitgebracht und in den vergangenen Tagen mit bunten Bändern geschmückt hatte, in der kargen Landschaft ausrollte und wieder einholte.

Die von Charly Nijensohn gefilmten Szenen der Zeremonie und der Woll-Performance geben eine Atmosphäre wieder, die fast überirdisch ist. In der Luft liegt eine ungeheure Spannung, und doch werden alle Bewegungen mit Bedacht und Langsamkeit ausgeführt. Hier gibt es keinen Selbstzweifel, kein individuelles Zaudern, sondern die jahrhundertealte Gewissheit eines Kollektivs um die Richtigkeit und den Wert jedes einzelne Details des Rituals.

Es hat die drei argentinischen Künstler sehr stark bewegt, dass sie bei einer solchen Zeremonie als gleichwertige Akteure mitwirken durften und nicht lediglich wie “Voyeure” einen alten Ritus aufgezeichnet haben. Teresa Pereda hat immer noch einen Kloß im Hals, wenn sie von dem Erlebnis erzählt und Filmauszüge oder Fotos zeigt. Aber sie ist zusammen mit Juan Pablo Ferlat jetzt fleißig dabei, die Dokumentation ihres flüchtigen Kunstwerks voranzutreiben. Sie bearbeitet Videosequenzen, wählt Bilder aus. 20 kg ihres Wollknäuels hat sie der Familie in Bolivien geschenkt, aber ein 20-kg-Knäuel, das mit vielen bunten Bändern geschmückt ist, hat sie nach Buenos Aires mitgebracht. Es steckt in einem Plastiksack und riecht etwas streng nach Naphthalin, und doch umweht es etwas von der Weite des unendlichen bolivianischen Himmels und dem heiligen Boden der Pachamama, den es berührt hat.

Als Plattform für Teresa Peredas Kunstwerk könnte man sich einen Museumssaal vorstellen, darin ein Podest, auf dem das Wollknäuel ausgestellt ist. Daneben einen Bildschirm, auf dem die Zeremonie zu sehen ist, und einen anderen mit dem Film der Performance, an den Wänden schließlich die Fotos.

Die bisherige Karriere – in einem Buch

Teresa Pereda ist bekannt im argentinischen Kunstbetrieb, und sie stammt aus einer Künstlerinnenfamilie. In ihrem Buch “Tierra”, das die bisherige Karriere der 52-Jährigen dokumentiert, findet man ein Foto aus dem Jahr 1991, das sie mit ihrer Mutter, der Künstlerin Estela Pereda, ihrer Großmutter, der Schriftstellerin und Künstlerin Estela Lacau, und ihrer Urgroßmutter Ana Laplace, die Gobelins schuf, zeigt.

Teresa ist auf dem Land großgeworden und hatte schon immer einen direkten Bezug zur Erde. Auch heute lebt sie mit ihrer Familie zwischen der Provinz und der Hauptstadt, wo ihre Kinder jetzt studieren. Das Atelier in Buenos Aires ist mehr für die “saubere” Arbeit da, für die Computerarbeit, das Synthetisieren ihres Tuns. In ihrer Werkstatt “auf dem Dorf” arbeitet sie mit den Materialen Erde, Sand, Schlamm, hier krempelt sie die Ärmel hoch und legt Hand an.

Schon seit 14 Jahren sammelt Teresa Erde in ganz Argentinien, immer im respektvollen Zusammentun mit dem jeweiligen Schamanen der Region. Sie hat diese Erde in ihre Mischtechniken oder Künstlerbücher eingearbeitet. Aber erst im Oktober 2006, als sie im Dorf Mechita, das durch die Feuer-Arbeiten des argentinischen Künstlers Juan Doffo bekannt ist, ihre erste Performance durchführte – in der sie Mechita “ein Feuer schenkte” – wurde ihr bewusst, dass ihre Arbeit von jeher eine konzeptuelle gewesen war. Ihr wurde klar, dass hier nicht ein neuer Weg war, um sich als Künstlerin weiterzuentwickeln, sondern dass dies immer schon ihr Weg gewesen war.

Das Mitte 2008 im Verlag “El Ateneo” erschienene, sehr liebevoll gemachte Buch “Tierra” hat Teresa Pereda dennoch dazu gedient, eine Art Strich unter ihre bisherige Karriere zu ziehen. Hier ist dokumentiert, was sie bisher gemacht hat, jetzt ist sie frei für neue Projekte. Und man kann allerhand von ihr erwarten.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 01.11.08.

Ohne Titel

Kunst von Félix González-Torres wird im Malba präsentiert

Von Diana Hörger

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„Untitled“ (Para un hombre en uniforme), 1991.

Ein funkelndes Meer an silbern verpackten Bonbons erwartet den Besucher, wenn er sich seinen Weg durch den schweren glitzernden, den Eingang versperrenden Türvorhang in den großen Saal im ersten Stock des Museums Malba gebahnt hat. Nicht mehr als ein riesiges teppichartiges Rechteck, das aus der Summe tausender Einzelteile hervorgeht. Aber auch nicht weniger als ein leuchtender Augenschmaus für den Betrachter. Viele der Werke des auf Kuba geborenen Künstlers Félix González-Torres erfüllen auf den ersten Blick scheinbar nur den Zweck, zu gefallen. Die meisten tragen den Namen „Untitled“, ohne Titel, verschweigen dem interessierten Besucher auch hier zunächst ihre Botschaft. Erst in Klammern erfährt man, dass etwa das Bonbon-Beet den Untertitel „Placebo“ und damit einen bitteren Beigeschmack hat.

Auch die anderen ausgewählten Plastiken und Fotografien der Werkschau in Buenos Aires ermöglichen jeweils zwei Lesarten. Der 1996 mit 38 Jahren in Miami verstorbene Künstler ist bis heute besonders für jene Werke berühmt, die gesellschaftskritisch sind oder das Verhältnis von Kunst und Betrachter auf die Probe stellen. So kann dann auch jeder der Gäste ein Bonbon, und damit einen Teil des Kunstwerks, an Ort und Stelle aufessen oder mit nach Hause nehmen. Auch Drucke etwa mit dem Schriftzug „Nowhere better than this Place“ (Nirgendwo besser als hier) darf der Besucher aus dem Museum mitnehmen, selber verorten, und somit selbst aktiver Teil des Prozesses werden. So löst González-Torres das starre Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter auf, bringt Variablen ins Spiel, macht seine Werke zu einem sich auflösenden und immer wieder erneuerbaren Zeichen.

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„Untitled“, Stellwand/Bett, 1991, auf der Terrasse des Malba.

Jeden Tag wird das Bonbonmeer aufgefüllt und die Posterstapel wieder auf Höhe gebracht. Ein simpler und doch effektiver Gedanke, der als das Markenzeichen des Künstlers gelten kann. Verdeckt und verspielt macht er auch auf Probleme aufmerksam, die sein Leben, das der homosexuellen Szene der USA und auch die der Weltbevölkerung betreffen. 1992 wurden in Manhattan 24 große Stellwände des Künstlers verteilt, auf denen ein Foto eines leeren, durchwühlten Bettes zu sehen war. González-Torres spielt damit auf die Intimität eines jeden Liebespaares an und auf die Tatsache, dass dieses natürliche Privileg schwulen Paaren in den Vereinigten Staaten bis 1986 verwehrt blieb. Ein Gesetz erlaubte es dem Staat bis dahin, rechtmäßig in die Häuser und damit in die Privatsphäre von homosexuellen Paaren einzubrechen. Das riesige leere Bett erinnert aber auch an den an Aids gestorbenen Lebensgefährten des Künstlers und damit an den Tod. Eine dieser Stellwände findet man auf der Terrasse im Malba.

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„Untitled“ (Perfect Lovers), 1987-1990.

Wenn man von dort einen Blick in den Museumsraum wirft, kann man die beiden unscheinbaren Uhren erkennen, die dicht nebeneinander die Zeit messen. Wären sie sich auf dieser einsamen weißen Fläche gegenüber der Rolltreppe nicht so nahe, man könnte meinen, sie gehörten einfach zum Museumsinventar. Aber auch diese Installation namens „Untitled“ (Perfect Lovers) erinnert an den verstorbenen Geliebten und ist eine Hommage an perfektes und vielleicht unwirkliches Liebesglück: Zwei Herzen schlagen im gleichen Takt. In einem Interview sagte González-Torres einmal, es gefalle ihm, unterschwellig auf etwas hinzuweisen. Wie ein Spion, der kaum zu erkennen ist, wolle er Spuren hinterlassen, die gerade durch ihre Unscheinbarkeit wirkungsvoll sind. Der Betrachter denkt von nun an beim Anblick einer schwarzen Analoguhr vielleicht nicht mehr nur an die Zeit. Er denkt nach seinem Besuch im Malba möglicherweise an González-Torres. Ganz sicher jedenfalls beim Anblick der mitgebrachten Poster.

  • Félix González-Torres, Kuba/USA 1957-1996, „Somewhere/Nowhere – Algún lugar/Ningún lugar“. Bis zum 3. November im Malba, Saal 5 (2. Stock), Saal 3 (1. Stock) und Terrasse, Av. Figueroa Alcorta 3415. Do-Mo und feiertags 12-20 Uhr, Di geschlossen, Mi bis 21 Uhr, Eintritt frei. An den anderen Tagen: Eintritt 15 Pesos, Lehrer und über 65-Jährige 7,50 Pesos, Studenten, Kinder unter 12 Jahren und Behinderte gratis.

Erschienen im „Argentinischen Tageblatt“ vom 20.09.08.

Soziale Ästhetik

Juan Carlos Castagnino im Museo Nacional de Bellas Artes

Von Katharina Guderian

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Aus der Serie „Cordobazo“.
(Foto: Katharina Guderian)

Unterschiedlicher könnten die Stilrichtungen kaum sein – farbenfrohe Ölgemälde, Acryl und Aquarelle, klare Tintenzeichungen, anatomische Zeichenstudien, Collagen mit Zeitungsausschnitten, Wandmalereien. Die Werke des argentinischen Künstlers Juan Carlos Castagnino haben eine Bandbreite, die ihresgleichen sucht. Sie werden vereint nicht nur von dem ästhetischen Bedürfnis des Künstlers, sondern auch von seinem sozialen und politischen Anspruch. Die Ausstellung „Humanismo, poesía y representación“ im Museo Nacional de Bellas Artes zeigt bis zum 28. September etwa 100 Werke des am 18. November 1908 in Mar del Plata geborenen Künstlers.

„Castagninos Wandmalereien werden oft vergessen, für mich bilden sie aber das Herz dieser Ausstellung“, betont Kuratorin Clelia Taricco. Nach Kunststudien am MEEBA (Escuela Superior de Bellas Artes) und Seminaren bei den Meistern Lino Eneo Spilimbergo und Ramón Gómez Cornet wurde Castagnino im Alter von 25 Jahren von dem Mexikaner David A. Siqueiros in die Gruppe einberufen, welche die Wandmalerei in der Quinta von Natalio Botana in Don Torcuato gestalten sollte. Danach schuf er zahlreiche weitere Wandbilder an den unterschiedlichsten öffentlichen und privaten Orten weltweit.

Sein wahrscheinlich bedeutendstes Werk in Argentinien schuf er 1945 zusammen mit Antonio Berni, Spilimbergo, Demetrio Urruchúa und Manuel Colmeiro Guimarás in den Galerías Pacífico in Buenos Aires. Die Ausstellung im Bellas Artes zeigt Kohlestudien auf Pergament, die der Künstler im Vorfeld für seine Wandmalereien fertigte, an welchen sich der Entstehungsprozess der Arbeiten nachvollziehen lässt. Faszinierend ist die auf eine große, weiße Wand projizierte Diashow seiner Wandmalereien, die laut Taricco so zum allerersten Mal überhaupt in einer Ausstellung gezeigt wird.

Bei den Wandmalereien kommt Castagninos besondere Beziehung zu seinem Publikum am stärksten zu tragen: „Ein Werk ist so lange nur ein potenzielles Kunstwerk, bis es seinen Betrachter trifft.“ Castagnino trieb die Wandmalerei in Argentinien voran und versuchte so, die Trennung zwischen der Öffentlichkeit und der Malerei zu bewältigen. Er spricht dem Betrachter eine wichtige Rolle zu, denn der Mensch vor dem Werk sieht, richtet, transformiert, ersinnt, liest und versteht. Für Castagnino galt Kunst als soziale Gegebenheit. Somit flossen neben seinen ästhetischen Ansprüchen auch die politischen und sozialen Interessen in seine Produktion ein. Er wollte Visionen und Ängste der Personen im sozialen Umfeld seiner Zeit als Bild des ganzheitlichen Menschen einfangen. „Die Kunst muss das Zeugnis unserer Welt sein, unserer Ideen und der sozialen Phänomene, in denen wir leben“, lautete Castagninos Dogma.

Der Künstler lernte 1939 bei einer Studienreise durch Europa unter anderem Braque, Léger und Picasso kennen. Doch seine 40 Schaffensjahre sind am stärksten geprägt von einem tiefen humanistischen Gefühl. In der Ausstellung sind Castagninos Werke sowohl thematisch wie auch chronologisch angeordnet. Der Mensch ist das Leitmotiv seiner gesamten Produktion. In den 40ern schuf er eine Serie von expressiven Landschaftsbildern, in den 50ern konzentrierte er sich auf Landarbeiter und Fabriklandschaften. Auch der Kontrast zwischen Stadt und Land ist ein allgegenwärtiges Thema seines Schaffens. Ende der 60er entstanden die Serien „Vietnam“ und „Cordobazo“. Diese beschäftigen sich mit der in den Medien gezeigten Gewalt. Die Collagen aus aufgeklebten Zeitungsausschnitten und schwunghaften Tuschezeichnungen schaffen verschiedene Bedeutungsebenen, die einen simultanen Dialog über Wirklichkeit und Interpretation ermöglichen. Castagnino illustrierte außerdem eines der wichtigsten Werke argentinischer Literatur, die Gaucho-Gedichte „Martín Fierro“ von José Hernández.

Der Künstler wurde mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet, unter anderem der Ehrenmedaille in Malerei des internationalen Kunstfestes in Brüssel (1958), dem großen Ehrenpreis des Salón Nacional (1959) und dem Sonderpreis für Zeichnungen bei der II. Biennale von Mexiko (1962). Ein Jahr später wurde er zum Mitglied der Academia Nacional de Bellas Artes ernannt. Am 21. April 1972 verstarb er in Buenos Aires. Insbesondere seine Wandmalereien überall auf der Welt, werden aber seinen Dialog mit den Menschen weiterführen.

  • Bis 28.9. im Museo Nacional de Bellas Artes, Av. del Libertador 1473. Di-Fr 12.30-19.30, Sa und So 9.30-19.30 Uhr. Eintritt frei.