Bollywood im Wartesaal

Der deutsche Beitrag „Big in Bombay“ beschließt VI. Internationales Theaterfestival von Buenos Aires

Von Christina Liebl

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Sturm im Glashaus – Konsum und Angst werden in „Big in Bombay“ thematisiert.

Ein Wartesaal. Menschen, die nichts zu tun haben, die sich unterhalten oder schweigen, sitzen in einem gläsernen Raum und warten. Von diesem Ausgangspunkt aus entstehen jedoch Bewegungen: Tänzer, Sänger und Musiker bilden Einzelgruppen, so dass man kaum noch weiß, wohin man blicken soll oder welcher Szene man Aufmerksamkeit schenken soll. Erst wenn die typisch schrille, indische Popmusik ertönt, das Ensemble in eine synchrone Choreographie übergeht und im Stil von Bollywoodfilmen mit Hand-, Kopf- und Augenbewegungen das Publikum zu hypnotisieren und verführen scheint, kehrt Harmonie ein.

Doch diese Gruppentänze dauern nur kurz und schon zerbricht wieder alles, um Themen wie Terror, Naturkatastrophen, Paranoia tänzerisch und schauspielerisch in den Raum zu stellen.
Passend zum Aufführungsland beispielsweise fügt das Ensemble Dorky Park unter der Leitung der in Berlin lebenden Argentinierin Constanza Macras einen auf Deutsch vorgetragenen Wortschwall über Politik und Geschichte Argentiniens, Peronismus und Menem ein, der sich in den stampfenden Schritten der Tänzer verliert und dessen Ende ungehört bleibt. Im Wartesaal erzählt kurz darauf ein Mitglied des Ensembles auf Englisch, wie organisiert Disneyworld doch sei und dass bei einer Naturkatastrophe der unterirdische Arbeitertrupp als einzige überleben würden. An späterer Stelle wird dieses Thema wieder aufgenommen, als die Darsteller einer nach dem anderen zusammenbricht und von einem einzigen Tänzer zu einem Menschenhaufen aufgestapelt werden. So endet der erste Teil mit Assoziationen über eine Katastrophe. Und auch am Ende kämpfen die Darsteller in dem Glasraum gegen einen Sturm an.
Filmausschnitte unterbrechen immer wieder und zeigen, wie die Gruppe in Disneyland unterwegs ist, dann mit Mickey-Mouse-Masken in Indien über die Straße schlendert oder eine junge Frau über ihre Todesängste beim Reisen spricht.

In „Big in Bombay“ verwandeln sich die Tänzer zu immer neuen Charakteren, schlüpfen in neue Masken, um sich mit einem Schlag wieder alle zu den fröhlichen Klängen indischer Popmusik zu gruppieren. In rascher Folge werden neue Szenen angedeutet und Assoziationen angeboten. Die Darsteller bewegen sich in einer Welt aus Müll, Konsum und gleichzeitiger Angst, in der am Ende jeder alleine bleibt, aber alles schon mal erlebt hat: „Wir kennen uns doch?“

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 29.09.07.

Schwerelos unter dem Lotushimmel

Das Butoh-Tanzwerk “Kagemi” war eines der Höhepunkte des VI. Internationalen Theaterfestivals von Buenos Aires

Von Susanne Franz

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Tranceähnlicher Theatergenuss: „Kagemi“ aus Japan.

Es sind die Bilder, die sprechen: Große weiße Lotusblüten stehen auf der Bühne. Am Boden zur Linken ist ein Kreis aus schwarzem Sand, daneben befindet sich ein weißes Quadrat. Ein Tänzer – der Choreograph und Leiter der Butoh-Tanzgruppe Sankai Juku, Ushio Amagatsu – betritt den Kreis und beginnt, die an magische Rituale gemahnenden, langsamen Bewegungen des Butoh-Tanzes zu vollführen, die alle Muskeln des menschlichen Körpers in einem einzigen metaphysischen Fluss miteinander in Einklang zu bringen scheinen. Der Tänzer betritt das Quadrat und hinterlässt als Spur die schwarzen Abdrücke seiner Schritte. Die Lotusblüten schweben nach oben und bilden bis zum Schluss des in mehrere Bilder aufgeteilten Tanzstücks einen Himmel über der Bühne. Sechs weitere Tänzer treten auf und die sieben tanzen nun die unterschiedlichen Szenen alle gemeinsam, einzeln oder in kleineren Gruppen. Mit kahlrasiertem Kopf, weiß geschminkten Gesichtern und Armen und langen weißen Gewändern sind sie geschlechtslos, zeitlos – und schwerelos, obwohl sie mit keinerlei “Tricks” oder Illusionismus arbeiten. Ihre tänzerische Perfektion und die spirituelle Dichte ihrer Körper erwecken den Eindruck, als ob sie sich wie von einer Schnur gezogen fortbewegten oder sich von einem Ort der Bühne an den anderen zauberten. Sie erscheinen einmal zerbrechlich, dann wieder wie riesige muskelbepackte Monstren. Sie wirken klein – und plötzlich “wachsen” sie in die Höhe und scheinen über dem Boden zu schweben.

Abgesehen von den lautlosen, langsamen Bewegungen der Körper, die den Zuschauer in eine Art Trance versetzen, sind die Bewegungen der Arme und Hände von zentraler Bedeutung. “Die rechte Hand fragt, die linke antwortet”, schreibt Ushio Amagatsu im Programmheft. Der Körper kann mit einer Geste, der Bewegung der Muskeln, zugleich das kleinste und das größte Geheimnis des Universums ausdrücken. Bei aller Perfektion dieser außerordentlichen Butoh-Tanzgruppe bringt doch jeder einzelne Integrant seine Individualität und Authentizität zum Ausdruck: Jeder bewegt die Hände anders, hat andere Fragen, andere Antworten.

Die einzelnen Bilder des Tanzstücks “Kagemi” setzen sich mit universellen und konkreten Fragen des menschlichen Strebens nach der Einheit von Körper und Geist auseinander. Unterstützt von der hervorragenden Beleuchtung (Satoru Suzuki) und der das Stück perfekt unterstreichenden Originalmusik (Takashi Kako, Yoichiro Yoshikawa) schenkte die Tanzgruppe Sankai Juku unter ihrem Leiter Ushio Amagatsu, der zu den Pionieren der avantgardistischen japanischen Tanzform gehört, dem argentinischen Publikum den Genuss eines der ungewöhnlichsten und exzellentesten Theatererlebnisse der letzten Jahre.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 29.09.07.

Von Kastraten, Monstren und anderen Außergewöhnlichkeiten

Teatro de Ciertos Habitantes aus Mexiko zeigte auf dem VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires „De monstruos y prodigios“

Von Christina Liebl

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Ein Leben als Star – „De monstruos y prodigios“ erzählte die Geschichte der Kastraten.

Im 17. Jahrhundert in Europa, in der Epoche des Barocks mit ihrem Geschmack für das Außergewöhnliche und Exotische: In dieser Zeit ist der mexikanische Beitrag zum VI Festival Internacional de Buenos Aires, „De monstruos y prodigios“, angesiedelt. Die Darsteller des Teatro de Ciertos Habitantes agieren dabei nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Musiker, Sänger oder Tänzer und stellen so ihre vielseitigen Talente unter Beweis.

Vor einem denkbar einfachen Bühnenbild, in dem nur ein Klavier dauerhaft zu sehen war, präsentierten sich siamesische Zwillinge, Kastraten und ein Zentaur als eigenwillige Protagonisten. Mit vielen komödiantischen Effekten und Sarkasmus wird die Geschichte der Kastraten von einem siamesischen Doktorenpaar erzählt. Um seine schöne Sopranstimmen auch als Erwachsener erhalten zu können, wird der Sänger bereits im Kindesalter zur Operation gezwungen und lebt fortan als Protegé ranghoher Personen ein Leben in Luxus. Im Gegensatz dazu steht ein Sklave, der wie ein Tier abgerichtet ist und von den beiden Doktoren auch so behandelt wird. Alles ändert sich mit dem Zeitalter der Aufklärung – auf der Bühne sichtbar durch den lautstarken Auftritt Napoleon Bonapartes – in dem Kastraten und andere „Monster“, darunter auch die siamesischen Zwillinge, als unmenschlich erklärt werden und sowohl ihre Stellung als auch ihr Ansehen verlieren. Der Sklave ist nicht mehr Sklave, sondern übernimmt die Rolle des Erzählers, und die Zwillinge gehen von nun an als einarmige Einzelpersonen durchs Leben. So sieht sich ein jeder der Darsteller, abgesehen vom vorherigen Sklaven, degradiert und seiner Identität beraubt.

Das Ensemble unter der Leitung von Claudio Valdés Kuri verstand es, das Publikum zum Lachen zu bringen und trotz Klamaukszenen vor allem durch schauspielerisches Leistung in ihren Bann zu ziehen. Erstaunlich war vor allem die Sopranstimme Javier Medinas, die er mit humoristischer Mimik bestens zu ergänzen wusste. Insgesamt gelang den Mexikanern ein sehr gelungener Beitrag, der durch eine perfekte Mischung an Können und Komik überzeugte.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 29.09.07.

Ganz neue Töne

Arditti Quartett begeisterte auf dem VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires mit zeitgenössischen Kompositionen

Von Christina Liebl

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Im Rahmen den VI. Internationalen Festivals von Buenos Aires trat am 15. September im Theater Coliseo das Arditti Quartett auf. Die Streicherensemble, 1974 vom ersten Geiger Irvine Arditti gegründet, hat sich ausschließlich auf zeitgenössische Komponisten spezialisiert. Die anderen Mitglieder des Quartetts sind Ashot Sarkissjan, ebenfalls Violine, Ralf Ehlers mit der Viola und der Cellist Lucas Fels. Einige der vorgetragenen Werke sind in der Zusammenarbeit der Musiker mit den Komponisten entstanden.

Vor leider nur halb gefüllten Rängen überzeugten die Musiker mit ihrer Darbietung die Zuschauer, die sich auf das Erlebnis ganz neuer Klänge einließen. Das Programm begann mit dem Streichquartett von James Clarke aus dem Jahr 2003, welches speziell für das Arditti Quartett geschrieben wurde. Das Stück des bedeutenden englischen Komponisten, dessen Grundlage ein Folkloretanz ist, arbeitet mit rhythmischen Brüchen und Assonanzen. Es folgte das im Jahr 2005 komponierte Streichquartett Nr. 5 von Pascal Dusapin, welches leisere und sanftere Töne anschlug. Das letzte Stück vor der Pause, Tetras (1983) von Iannis Xenakis beeindruckte durch ein breites Spektrum an Geräuschen und Klängen, die sich mit oder ohne Bogen erzeugen lassen.

Den Auftakt zur zweiten Hälfte machte das jüngste Werk, Quartett Nr. 5, komponiert vergangenes Jahr von Brian Ferneyhough. Auffällig an dieser Komposition im Stil der „neuen Komplexität“ waren die Pausen zwischen den einzelnen Phrasen und Sequenzen. Helmut Lachenmanns Quartett Nr. 3 „Grido“ (2001) bildete einen beeindruckenden Abschluss und gab einen Einblick in die Möglichkeiten der Geräuscherzeugung und die Vielfalt der Effekte, die sich mit Saite und Bogen erzielen lassen. Teilweise kaum noch wahrzunehmende Töne, ein leises Streichen des Bogens über die Saite oder ein kaum zu hörendes Anzupfen sind nur ein paar Beispiele aus der Klangvielfalt.

Unter höchstem Einsatz des Materials, was sich beispielsweise durch immer wieder reißende Bogensaiten zeigte, bot das Arditti Quartett modernsten Musikgenuss. Mit der technisch feinen Umsetzung der zeitgenössischen Werke überzeugten die Streicher, dass sich die Auseinandersetzung mit neuen Klängen durchaus lohnt und wurden mit Bravorufen gefeiert.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 29.09.07.

Pippo Delbono im Doppelpack

VI. Internationales Theaterfestival von Buenos Aires: Publikum strafte “Il silenzio” ab und bejubelte “Racconti di giugno”

Von Christina Liebl

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Der Regisseur und Schauspieler Pippo Delbono.

Pippo Delbono und seine Theatergruppe lieferten zum VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires gleich zwei Beiträge. Mit “Il silenzio” machte der Italiener den Anfang. Das Stück nimmt seinen Ausgangspunkt in dem Erdbeben, welches die süditalienische Stadt Gibellina im Jahr 1968 beinahe dem Erdboden gleichmachte und zahlreiche Opfer forderte. In Anspielung daran war die Bühne auch mit weißem Sand bedeckt, welcher die Schicht aus Steinen und den Staub über der Stadt darstellen sollte. Vom Schweigen aus Trauer spinnt der Regisseur und Autor des Stücks, Delbono, den Faden weiter. Um die Texte zu diesem Thema, wie beispielsweise von Ludwig van Beethoven, vorzutragen, erscheint der Italiener selbst ständig auf der Bühne, während die anderen Schauspieler in Schweigen verbleiben.

An Anspielungen ist “Il silenzio” reich: Fellinis Meisterwerk “Otto e mezzo” darf da natürlich nicht fehlen, und so wird der Marsch aus der Endszene des Films inszeniert. Ebenso deutet Delbono das Gesetz des Schweigens in Süditalien, das durch die Mafia erzwungen wird, an. Um kritisch auf Machtstrukturen des Landes hinzuweisen, werden Bischof, Pate, Militär und Politiker an einem Tisch versammelt. Aussagekräftig in seiner Stummheit setzt der Regisseur als zentralen Schauspieler Bobò, einen Taubstummen, ein. Obwohl der Beitrag durchaus durchdacht war und einige der Darsteller auch überzeugen konnten, setzte sich in “Il silenzio” vor allem Pippo Delbono in Szene. Da das Stück jedoch wenig Originelles zeigte, waren die Reaktionen des Publikums im Theater Presidente Alvear dementsprechend verheerend, der Applaus spärlich, leise Pfiffe waren zu hören und einige der Besucher kehrten dem Ensemble den Rücken und verließen den Saal.

Weit positiver wurde der Italiener bei seinem Einzelauftritt mit “Racconti di giugno” im kleinen Theater Sarmiento aufgenommen. Nachdem wegen Stromausfalls die Vorstellung verschoben werden musste, füllte sich vergangenen Sonntag der Saal nicht mehr ganz. Dafür hatten sich offensichtlich hauptsächlich Fans eingefunden, die etwas übermotiviert auch mit Zwischenapplaus nicht geizten.

In dem Stück erzählte der Italiener mit viel Selbstironie sein Leben und versuchte die Geschichte durch unterschiedliche Textbeiträge zu bereichern. Dabei überzeugte Pippo Delbono mehr durch sein humoristisches Talent und die Sympathien, die er sich durch den offenen Umgang mit Themen wie Homosexualität und seiner Krankheitsgeschichte als Aids-Infizierter zu gewinnen wusste, als durch die schauspielerischen Einschübe. Als charis-matische Persönlichkeit gewann Delbono das Publikum, während er als Regisseur in Buenos Aires keine Erfolge verzeichnen konnte.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 22.09.07.

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Szenenbild aus „Il silenzio“.

Das Leben auf dem Präsentierteller

Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil zeigte 8-Stunden-Ritual “Les Éphémères” auf dem VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires

Von Susanne Franz

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Momente voller Glück: Nora und Aline.

1000 Jahre sind für Gott wie ein Tag, acht Stunden lässt die Theater-Göttin Ariane Mnouchkine vorbeigehen wie einen Augenblick. Mit ihrem seit 43 Jahren bestehenden Ensemble Théâtre du Soleil betrat die legendäre Französin erstmals südamerikanischen Boden und schrieb als Höhepunkt des VI. Internationalen Theaterfestivals auch in Argentinien Theatergeschichte.

Das Stück “Les Éphémères”, das die Franzosen mitgebracht haben, ist in zwei knapp dreieinhalb Stunden dauernde, mit einer Kurzpause unterbrochene Teile aufgeteilt. Zur Halbzeit gibt es eine Stunde Pause zum liebevoll von den Franzosen zubereiteten Essen, das man im speziell zu diesem Zweck eingerichteten Restaurant zu sich nimmt. Ebenfalls wichtiger Bestandteil des Stückes ist die Gelegenheit, noch vor Beginn des eigentlichen Bühnengeschehens die Akteure an ihren Schminktischen beobachten zu können.

Neugierde und Vorfreude werden geweckt, fürs leibliche Wohl ist gesorgt, es wird genau erklärt, wie die Organisation des Tages bzw. Abends vor sich geht, so dass keine Unsicherheit aufkommt – das Publikum wird umsorgt wie ein geliebtes Kind. Und hier ist man an einem zentralen Thema von “Les Éphémères”: der Kindheit, wie sie sein sollte, und den prägenden Erlebnissen, die sie zu zerbrechen drohen. Für eindrucksvoll direktes Theater sorgt in diesem Zusammenhang, dass sich unter den vielen Akteuren auch sechs Kinder befinden.

Fast sechshundert Zuschauer passen in die Ränge aus Holzbänken, die an den zwei Längsseiten einer rechteckigen Bühne aufragen. Man schaut etwas bang auf einen leeren Holzboden hinab. Zur Linken und Rechten befindet sich ein Vorhang, und von dort werden nach und nach viele verschiedene Bühnen hereingeschoben, auf denen sich die Geschichten von “Les Éphémères” abspielen: runde Dreh“teller“, die auf Räder montiert sind und von einem, zwei oder drei “Bühnen-Bewegern” vorwärts oder rückwärts geschoben und zugleich gedreht werden, so dass alle Zuschauer einen Einblick in die Szene erhalten. Neben diesem zweckdienlichen Effekt ist das Drehen und langsame Bewegen der vielen kleinen Welten auch metaphysisch als unerbittlicher Ablauf der Zeit zu verstehen.

“Les Éphémères” ist aus einer rund einjährigen Arbeit der Improvisation des Ensembles entstanden und zeigt von den Schauspielern erlebte oder erträumte Episoden um Tod, Krankheit, Wahnsinn, Gewalt und Einsamkeit, aber auch Glück, Hoffnung und Phantasie. Die nur scheinbar gewöhnlichen “Familienszenen”, jede mit allergrößter Liebe in Szene gesetzt, hinterlassen einen unvergesslichen Eindruck im Zuschauer – in dessen Innerem sich die eigene kleine Bühne dreht.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 15.09.07.

Gott, die Welt und die Vergangenheit

Jüdische Kultur und Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Polens Beitrag zum VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires

Von Christina Liebl

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Eine Braut auf Abwegen – von einem Dybbuk besessen, verändert sich die junge Frau.

Der polnische Beitrag des VI. Internationalen Theaterfestivals mit dem Titel „The Dybbuk“ präsentierte eine unsentimentale, aber dennoch berührende Beschäftigung mit dem Judentum und dem Holocaust. Gezeigt wurde die Darbietung im Theater San Martín in der ersten Festivalwoche. Der Theaterkompanie TR Warszawa gelingt es in dem Stück, sowohl Komik als auch ernste und religiös-philosophische Aspekte zu vereinen.

Der Begriff „Dybbuk“ bezeichnet in der jüdischen Kultur eine Seele, die sich nach ihrem Tod von ihren Sünden befreien will oder Gerechtigkeit fordert und zu diesem Zweck den Körper eines Angehörigen in Besitz nimmt.

Die Basis des Stücks bilden drei die Darbietung gliedernde Texte. Den Anfang machen sieben kurze Geschichten, die sich mit Bräuchen, Glaubensweisheiten und Lebenserfahrung beschäftigen. Zumeist heiter und lehrreich, geben sie einen Einblick in die jüdische Gedankenwelt.

Der zweite Teil beruht auf einer umgeschriebenen und gekürzten Fassung von „Dybbuk“, einem Werk von Szymon Anski. Darin wird die Braut kurz vor der Hochzeit von der Seele ihres verstorbenen Geliebten besessen, der sich aus dem Jenseits am Brautvater rächt, der seine Tochter aus Geldgründen mit einem Anderen verheiratet. Doch mit dieser einfachen Geschichte vermittelt das Stück auch Informationen über Kabbala und jüdische Theologie. Gleichzeitig klingen auch Tod und Gedenken der Verstorbenen an.

Den Abschluss bildet die ebenfalls „Dybbuk“ genannte Erzählung der Autorin Hanna Krall. In diesem Teil wird der Holocaust klar angesprochen. Der nach dem Krieg in Frankreich geborene Sohn eines jüdischen Polen fühlt sich von der Seele seines Bruders besessen, der dem Holocaust zum Opfer gefallen ist. Damit erhält der Begriff Dybbuk eine neue Bedeutung: Es rückt die Erinnerung in den Vordergrund. Eine Erinnerung, von der sich die Menschen nicht befreien können und wollen. In zwei Figuren werden verschiedene Umgehensweisen mit eben dieser Vergangenheit gezeigt, ohne eine Wertung vorzunehmen: Dem Grübeln über Fragen, auf die keine Antworten zu finden sind und die so für den Menschen schmerzlich werden, steht das Akzeptieren und Mit-Gelassenheit-Ertragen gegenüber.

Das Ensemble überzeugte durch seine authentische schauspielerische Leistung und das Stück durch die objektive Reflektion, ohne jedoch distanziert zu sein. Metaphysische Fragen, auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt, werden in den Raum gestellt und regen zum Nachdenken an.

Ein großes Plus von „The Dybbuk“ ist der heitere Ton, der vor allem den Anfang und das Ende kennzeichnet und eine positive Möglichkeit andeutet, wie beispielsweise ein so tragisches Thema wie der Holocaust in der Erinnerung bewältigt werden kann.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 15.09.07.

Tänzerische Reise in den Orient

„Zero Degrees“ von Akram Khan und Sidi Larbi Cherkaoui auf dem VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires

Von Christina Liebl

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Große Übereinstimmung herrschte zwischen den beiden Tänzern Akram Khan (links) und Sidi Larbi Cherkaoui.

Auf der Suche nach dem Ursprung der eigenen Familie fährt ein junger Mann nach Bangladesh und Indien. Diese Reiseerlebnisse und Anekdoten sind es, die in „Zero Degrees“ tänzerisch umgesetzt werden. Als Sohn muslimischer Einwanderer lebt der junge Mann in Europa und hier wie dort steht er zwischen zwei Kulturen. Dieser ähnliche kulturelle Hintergrund verbindet die beiden Tänzer Akram Khan und Sidi Larbi Cherkaoui, ersterer in England aufgewachsen, der andere in Belgien.

Sowohl mit Elementen des indischen und orientalischen Tanzes, als auch des Jazz-Tanzes und des klassischen Balletts wurden Szenen wie die Wut des Reisenden in der Konfrontation mit korrupten Zollbeamten oder mit ihm unverständlichen Verhaltensweisen und Bräuchen umgesetzt. Humoristische Elemente wie Synchronerzählen und dabei die gleiche Gestik verwenden und der bewusst lässige Ton kontrastierten gekonnt mit den ernsthaften, subtilen und originellen Tanzbewegungen. Besonders gelungen war das Zusammenspiel der beiden Tänzer, deren unterschiedliche Stile harmonisierten und sich ergänzten.

Dabei wurde die puristische Bühnengestaltung des Künstlers Antony Gormley mit einbezogen, die nur aus zwei weißen Puppen und gleichfarbigen Wänden bestand. Besonders überzeugte die Beleuchtung, die durch geschickte Handhabung die Schatten der beiden Darsteller zu einem verschmelzen ließ oder es trotz Distanz auf der Bühne ermöglichte, dass sich die Umrisse die Hand gaben. Die vielseitig verwendbaren Puppen nutzten Khan und Cherkaoui für eine kontrastreiche Darstellung von Fremdbestimmtheit, Bewegung und Gelähmtheit, während der auch die Tänzer in die Rolle des Bewegungslosen, vom Anderen als Spielball Verwendeten schlüpften.

Ein Quartett, bestehend aus Violine, Cello, Schlagzeug und Gesang untermalte die Vorstellung. Orientalische und indische Klänge charakterisierten die Musik, die von dem bekannten Produzenten und Komponisten Nitin Sawhney für das Stück kreiert worden war. Durch ihre witzige und kreative Darbietung bewiesen die beiden Tänzer, dass sie zu Recht Träger zahlreicher internationaler Preise sind.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 15.09.07.

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Die vielseitig verwendbaren Puppen nutzten Khan und Cherkaoui für kontrastreiche Darstellungen.

„Hamlet“ als Erfahrung

Cia. dos Atores aus Brasilien präsentierte „Ensaio.Hamlet“ auf dem VI. Internationalen Theaterfestival von Buenos Aires

Von Christina Liebl

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Mit einem Minimum an Requisiten und origineller Verwendung gestaltete Cia. dos Atores ihre Interpretation von „Hamlet“.

Shakespeare, einer der größten Autoren in der Geschichte der Menschheit und eines seiner bekanntesten Dramen, „Hamlet“: wie viele Bücher, Doktorarbeiten und Traktate wurden bereits darüber geschrieben, und dennoch hat weder Autor noch Werk an Faszination verloren. Die brasilianische Theaterkompanie Cia. dos Atores unter der Leitung von Enrique Diaz präsentierte auf dem VI. Internationalen Theaterfestival im Centro Cultural de Recoleta mit „Ensaio.Hamlet“ ihre eigene Auseinandersetzung mit Shakespeare.

Dabei geht es in dem Stück nicht nur darum, das Werk des Engländers wiederzugeben, sondern vor allem eine Montage zu kreieren aus den Fragen, die „Hamlet“ aufwirft, sowie den Erfahrungen, die sich bei der Arbeit mit dem Text ergeben. Auf diese Weise werden sowohl die Beziehung der Schauspieler zu den Figuren, die sie darstellen, die Relation zwischen Publikum, Stück und Darstellern und durch den Text hervorgerufene Assoziationen in den Mittelpunkt gerückt.

Die Aktion findet in der Mitte zwischen den Zuschauerreihen statt, um das Publikum näher an das Geschehen heranzurücken. Minimalistische Mittel wie Lampen, Kerzen, Mikrofon und Videokamera werden von den Schauspielern für theatralische Effekte benutzt.

Im Zentrum der Handlung steht der dänische Prinz Hamlet, der durch den Geist seines Vaters in Kenntnis davon gesetzt wird, dass er durch seinen Bruder, den Onkel Hamlets, gewaltsam zu Tode gekommen ist. Hamlet, mehr Dichter und Denker als finsterer Rächer, versinkt ins Grübeln, und durch ihn wird das Publikum mit philosophischen und moralischen Fragen, Zweifeln und inneren Zwiespälten konfrontiert. Auch in „Ensaio.Hamlet“ konzentriert sich die Darstellung auf die Reflexion des Protagonisten, in dessen Rolle die Schauspieler abwechselnd schlüpfen. So können verschiedene individuelle Interpretationen des einen Charakters gezeigt werden. Mit Ironie stellt sich das Ensemble der Herausforderung, „Sein oder Nicht-Sein“ dem Publikum näherzubringen und die umfassende Symbolik der Shakespeare-Zeit in die Gegenwart zu übertragen.

Eine der zentralen Szenen aus „Hamlet“, der Selbstmord der Ophelia aus Liebe zu Hamlet, kann repräsentativ für die Darstellungsweise der brasilianischen Gruppe stehen: Die Schauspielerin, die in dieser Szene Ophelia verkörpert, übergießt sich mit Wasser aus einer Glasflasche, wobei das dabei entstehende Geräusch an das Glucksen einer untergehenden Person erinnert. Somit wird der Tod abstrahiert und ästhetisiert.

Ideenreichtum und überzeugendes Schauspiel machten „Ensaio.Hamlet“ zu einer wirklichen Theatererfahrung, welche dem Publikum meta-fiktionale Anstöße offerierte und einen neuen Blickwinkel auf Shakespeares Werk vermittelte.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 15.09.07.

Gelungener Auftakt des VI Festival Internacional de Buenos Aires

Tanz zwischen Schatten und Licht

Von Christina Liebl

Conjunto.jpgAm vergangenen Dienstag begann das VI Internationale Theaterfestival, das drei Wochen lang Theater, Tanz, Musik und Kunst präsentieren wird. Am Abend des ersten Tages fand im Centro de Exposiciones die Auftaktfeier statt, bei der sich unter den geladenen Gästen auch Noch-Bürgermeister Jorge Telerman zeigte. In entspannter Atmosphäre wurde bis spät zu elektronischer und Musik aus den 80er Jahren getanzt.

Nachdem am Dienstagnachmittag die Eröffnugsveranstaltung des Théâtre du Soleil wegen technischer Schwierigkeiten verschoben werden musste, startete das Festival am Mittwoch für die Öffentlichkeit mit dem holländischen Beitrag „Conjunto di NERO“ im Theater Presidente Alvear.

Das Ensemble Emio Greco | PC arbeitet in diesem Tanzstück mit Extremen, um so zu neuen Formen des Tanzes zu gelangen. Licht und Schatten, Ruhe und höchste Anspannung, Stille und für die Ohren beinah schmerzliche Klänge; diese Oppositionen formen das Ambiente, in dem sich die Tänzer bewegen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Beleuchtung, deren Konzept ebenfalls von den beiden Choreographen Emio Greco und Pieter C. Scholten entworfen wurde: Scheinwerfer malen geometrische Formen auf den Boden, Bewegungen verschwimmen in Blaulicht, die Tänzer verschwinden im Schatten, um gleich darauf plötzlich wieder beleuchtet zu werden, und sich kreuzende Lichtstraßen, welche diagonal die Bühne durchmessen, geben den Tänzern Bahnen vor, auf denen sie sich mit höchster technischer Präzision in immer schneller und heftiger werdenden Sprüngen und Schritten bewegen.

Wohlausgefeilt ist auch die Choreographie, die den Körper in den Mittelpunkt stellt. Einzeldarstellungen wechseln sich mit Gruppenszenen ab, in denen die Tänzer entweder die gleichen, oft leicht zeitversetzten Bewegungen ausführen, synchron tanzen oder aber sich gegenseitig ablösen. Dabei werden die Extreme körperlicher Leistung gezeigt: höchste Anspannung wie die ganze Bühne durchmessender Spitzentanz im Gegensatz zu scheinbar völliger Erschlaffung und dem Fall als Konsequenz. Untermalt von anschwellender Musik, werden die Bewegungen immer schneller, bis die Einzelaktion nicht mehr sichtbar ist und Arme und Beine geschlossene Kreise in den Raum malen. Daraufhin folgt wiederum Stille, in der die Atmung der Tänzer in Szene gesetzt wird und als einzige Lautkulisse den Raum vereinnahmt.

So soll in „Conjunto di NERO“ nicht eine Botschaft übermittelt, sondern der Körper mit seinen Grenzen, seinen Möglichkeiten und Ausdrucksformen gezeigt werden. Neben der gelungenen Lichtgestaltung überzeugte das Stück vor allem durch den ausdrucksstarken und exakten Tanz der Interpreten.

Erschienen im “Argentinischen Tageblatt” vom 08.09.07.

Countdown fürs Theaterfestival

Am Dienstag wird das 6. Internationale Theaterfestival von Buenos Aires eröffnet

Von Susanne Franz

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Deutscher Beitrag: “Big in Bombay”.

Mit angehaltenem Atem wartet das theaterbegeisterte Publikum von Buenos Aires auf diesen Moment: Am Dienstag, dem 4.9., wird mit der achtstündigen Aufführung von “Les Éphémères” des legendären, von Ariane Mnouchkine geleiteten Théâtre du Soleil aus Frankreich das 6. Internationale Theaterfestival von Buenos Aires eröffnet.

Bis zum 23. September präsentiert das Theaterfest – wie immer unter der kompetenten Leitung seiner Direktorin Graciela Casabé – 11 internationale Gastspiele aus Belgien, Brasilien, Großbritannien, Holland, Italien, Mexiko, Polen, Japan – und natürlich Deutschland, für das das Goethe-Institut Buenos Aires einen besonderen Leckerbissen nach Buenos Aires geholt hat bzw. holen wird: Die in Argentinien geborene und in Berlin lebende Choreographin Constanza Macras inszeniert mit der Truppe Dorky Park das Stück “Big in Bombay” (zu sehen im Teatro Presidente Alvear am 21. und 22.9. jeweils um 21 Uhr sowie am 23.9. um 15 Uhr).

Das hervorragende Programm mit argentinischen Stücken ist gratis, man kann die Karten jeweils ab 10 Uhr morgens des Vorführungstages an den Theatern abholen (zwei pro Person). Alle weiteren Informationen findet man auf der Webseite des Festivals.