Vorfahrt für Pedalritter

Mobilität auf zwei Rädern: Das Hamburger Museum der Arbeit untersucht in einer großen kulturgeschichtlichen Ausstellung, wie das Fahrrad den Stadtraum erobert hat

Von Nicole Büsing & Heiko Klaas

fahrrad2Hochrad, Bonanza-Rad, Tandem, Mountain-Bike, Rennrad, BMX-Rad: In Deutschland gibt es 71 Millionen Fahrräder und 45 Millionen Autos. Die Kulturgeschichte des ökologisch korrekten Fortbewegungsmittels, seine technischen Finessen und viele weitere Aspekte zum Thema pedalbetriebener Mobilität in urbanen Metropolen beleuchtet jetzt die Ausstellung “Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität” im Hamburger Museum der Arbeit. “Es war unser Anliegen, das Auf und Ab des Fahrrads zu erzählen”, erläutert Kurator Mario Bäumer.

Im Zentrum der abwechslungsreichen Schau steht eine Galerie mit rund 70 Ikonen des Fahrradbaus: Die erste Laufmaschine von 1817, ein Hochrad, wie es wagemutige Dandys im ausgehenden 19. Jahrhundert als exzentrisches Spielzeug liebten, aber auch Beispiele für Lastenräder, wie sie in früheren Zeiten Bäcker zum Ausliefern benutzten, ein Damenrad, das durch das Montieren einer Stange zum Herrenrad umfunktioniert werden kann, oder diverse historische Rennräder im Stil der belgischen Radrenn-Legende Eddy Merckx.

“Das Fahrrad erlebt heute eine Renaissance”, sagt Mario Bäumer. So konzentriert sich die Schau nicht nur auf Fahrradaccessoires wie sorgsam restaurierte historische Fahrradlenker oder alte Schließanlagen für das umweltbewusste Großstadtgefährt. Die breit aufgestellte Ausstellung widmet sich auch ausgiebig dem Thema Mobilität in typischen Fahrradstädten wie Amsterdam, Kopenhagen oder Münster, wo schon frühzeitig durchdachte Konzepte für radelnde Verkehrsteilnehmer entwickelt wurden. Aber auch in Städten wie Paris, Hamburg oder Brüssel wird das Fahrradfahren attraktiv gemacht: Moderne Leihfahrradstationen ermöglichen Mobilität ohne Auto und Parkplatznot für Stadtbewohner und Besucher.

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“In der Nachkriegszeit hat das Auto die Infrastruktur der Städte verändert und das Fahrrad verdrängt”, erläutert Mario Bäumer. Mit der Ölkrise und der Ökobewegung in den 1970er Jahren feierte das Fahrrad dann sein Comeback, und es erfolgte ein Umdenken. Heute jedoch ist das Fahrrad längst nicht mehr nur das Vehikel von Umweltfreaks. Manche Liebhaber investieren viel Geld in liebevoll restaurierte Zweirad-Oldtimer, E-Bikes oder Luxus-Drahtesel.

Als besonders exklusives Exponat präsentiert die Ausstellung ein Kultrad des Pariser Nobel-Labels Hermès für 8100 Euro. Bastler und Tüftler tunen ihr geliebtes Zweirad mit Extraausstattungen, als schnittiges Liegerad oder als praktisch ausgestattetes Beförderungsmittel samt Anhänger für den Nachwuchs. Ob sportiv durch die Stadt, gemütlich durch die Landschaft oder als kopfsteinerprobter Profi beim 1896 gegründeten Radrenn-Klassiker Paris-Roubaix: Das Velo ist ein Vehikel für viele Gelegenheiten, und jeder Fahrradbesitzer hat eine andere Haltung zu seinem Gefährt.

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Die Hamburger Ausstellung bietet eine kurzweilige Bestandsaufnahme rund ums Fahrrad, will aber nicht moralisieren. Trotzdem stellt Mario Bäumer fest: “Vielleicht beobachten wir zur Zeit den Abschied vom Auto. Auf jeden Fall ist das Fahrrad das neue Statussymbol.”

  • Ausstellung: Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität
  • Ort: Museum der Arbeit, Hamburg
  • Zeit: 9.5.2014-1.3.2015, Mo 13-21 Uhr, Di-Sa 10-17 Uhr, So und Feiertage 10-18 Uhr
  • Katalog: Junius-Verlag, 216 S., ca. 250 Farbabb., 24,90 Euro
  • Internet: Webseite des Museums, Webseite zur Ausstellung

Fotos von oben nach unten:

Französisches Werbeplakat, Entwurf Jean de Paléologue, um 1900.

“Quatruplet”, Adler, 1898.
(SDTB, B. Huth)

SkyCycle: Vision des Architekten Norman Foster für eine oberirdische Fahrradautobahn in London 2014.
(Foster & Partners)

“Die gehen weg wie warme Würstchen”

Zwei deutsche Bratwurst-Brutzler schreiben in Buenos Aires an einer Erfolgsgeschichte

Von Tobias Zwior

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Auf den ersten Blick erinnert er ein wenig an den jungen Gerard Depardieu, doch der Schein trügt. Mit Schauspiel hat Michael Schnirch nichts zu tun, sein Handwerk ist das Würstemachen. Schnirch, 35, ist einer der beiden Gründer von “Bratwurst Argentina”, dem ersten Unternehmen in Buenos Aires, das sich allein auf das Brutzeln deutscher Würste spezialisiert hat. Schnirch lebt seit neun Jahren in Argentinien und arbeitet hauptberuflich in einer Softwarefirma in Palermo. Die Mittagspause hat er sich für das Gespräch freigeschaufelt.

Seit zwei Jahren gibt es “Bratwurst Argentina” nun schon. Bestellen kann der Kunde im Onlineshop so ziemlich alles, was das Herz eines Wurstliebhabers begehrt und, was man bisher in Argentinien nicht bekam: Currywurst, Nürnberger, Pankower, Käsebeißer, Hähnchen- und sogar Chilibratwurst. “Das Unternehmen floriert, und diesen Weg wollen wir weitergehen”, sagt Schnirch zufrieden. “Auch wenn wir niemals erwartet hätten, dass wir so schnell einen solchen Erfolg haben würden.”

Die Geschichte von “Bratwurst Argentina” begann damit, dass sich Schnirch und sein heutiger Geschäftspartner André Kalisch bei einem Public Viewing im Rahmen der Fußball-EM 2012 kennenlernten. “Es war wie Liebe auf den ersten Blick”, erinnert sich Schnirch. Kalisch kommt aus Berlin und hatte auch dort schon eine eigene Pizzeria betrieben, während der gebürtige Nürnberger Schnirch als Student die ersten Erfahrungen in der Gastronomie sammeln konnte.

Es vereint sie – das wurde den beiden schnell klar – der Wunsch, in Argentinien etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Die Idee zur Bratwurstschmiede lag auf der Hand: “Immer, wenn wir zwischendurch mal privat oder beruflich in Deutschland waren, haben wir Bratwürste und andere deutsche Spezialitäten nach Argentinien mitgebracht”, sagt Schnirch. Einmal war auch seine argentinische Frau dabei, ebenfalls mit deutschen Lebensmitteln in der Tasche. Doch sie hatte Pech: “Der Zoll hat ihre ganze Tasche leergeräumt und den gesamten Inhalt geschreddert.” Extrem schade um die guten Lebensmittel sei das gewesen und habe den Wunsch bestärkt, auch in Argentinien einfacher an deutsche Bratwürste zu kommen.

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Ein zweiter Grund für Schnirch und Kalisch, ins Bratwurstgeschäft einzusteigen, war die in ihren Augen irritierend falsche Vorstellung, die Argentinier von deutschem Essen haben: “Wenn man hier in Buenos Aires auf eine ‚Feria de las Naciones‘ geht, bekommt man am deutschen Stand Bockwürste, Sauerkraut und Kartoffeln. Sonst nichts. Und das wird dann als typisch Deutsch hingenommen”, sagt Schnirch. Dabei habe die deutsche Küche viel mehr zu bieten: “Wir haben so viele leckere Wurstsorten in Deutschland, zum Beispiel die Currywurst.” Letztere sei aktuell der Verkaufsschlager bei den Kunden von “Bratwurst Argentina”.

Wenn Michael Schnirch an die Anfänge des Unternehmens zurückdenkt, muss er unweigerlich schmunzeln. Die ersten selbstgemachten Bratwürste gaben Kalisch und er noch ihren Freunden und Bekannten zu probieren. Deren positive Reaktionen brachten die beiden dann auf die Idee, einen Stand beim monatlichen BA Underground Market aufzumachen. “Beim ersten Mal hatten wir 15 Kilo Wurst produziert und dachten, das reicht locker. Doch dann standen wir da mit unserem kleinen Elektrogrill vor einer Schlange von 30 Metern”, sagt Schnirch.

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Daraus wollten die jungen Unternehmensgründer lernen und rückten beim nächsten Mal mit 30 Kilo Wurst und einem Gasgrill an. Auch das reichte nicht. Als “Bratwurst Argentina” schließlich kurz darauf von der argentinisch-deutschen Handelskammer eingeladen wurde, die Verpflegung beim Oktoberfest zu übernehmen, produzierten die beiden 50 Kilo. Mehr als positiv kalkuliert. “Nach zwei Stunden waren wir ausverkauft”, sagt Schnirch mit einem immer noch leicht ungläubigen Blick in den Augen. “Die Würstchen gingen weg wie warme Semmeln.” Oder eben wie warme, deutsche Würstchen in Argentinien.

Während der WM vor rund einem Monat sei natürlich Hochkonjunktur gewesen. Auch die Deutsche Botschaft war mittlerweile auf “Bratwurst Argentina” aufmerksam geworden. Bei den Viertel- und Halbfinalspielen der Deutschen Mannschaft versorgten Schnirch und Kalisch die zum Public Viewing eingeladenen Gäste der Botschaft. Das hätten sie auch beim Finale gerne getan, doch die Botschaft entschied sich gegen eine Übertragung des Spiels der beiden Nationen, ohne die es “Bratwurst Argentina” nicht geben würde. “Die Botschaft hat aber im Vorfeld des Finales alle Anfragen an uns weitergeleitet, so dass wir letztendlich eine ganze Pizzeria mit Gästen füllen konnten”. Auch der Botschafter und seine Frau waren gekommen. “Es war so voll, dass wir den Botschafter durchschieben mussten”, erinnert sich Schnirch grinsend.

Wie der WM-Titel der deutschen Mannschaft scheint auch die Entwicklung von “Bratwurst Argentina” eine Erfolgsgeschichte zu werden. Deutschland bestach im Fußball durch mannschaftliche Geschlossenheit, Schnirchs und Kalischs Würste durch Frische, den Verzicht auf Konservierungsstoffe und den für die von Hand gefertigten Würste fairen Preis.

Heute gehen jeden Tag Bestellungen ein. Die Kundschaft sei hauptsächlich international, aber von der Bestellmenge her mittlerweile sehr heterogen. Vom Einzelbesteller, über ein englisches Hotel, das die Würste zum Frühstück serviert, bis hin zum Kreuzfahrtschiff.

Die ersten Schritte sind gemacht, nun muss das junge Geschäft beweisen, dass es sich behaupten kann. Zum Beispiel, wenn es aufgrund der Einnahmen demnächst in eine höhere Steuerklasse aufsteigt. Oder wenn es darum geht, noch mehr Argentinier von den Produkten zu überzeugen. Ernst ist es den beiden Gründern in jedem Fall: So hat André Kalisch seinen Job gekündigt und arbeitet jetzt Vollzeit bei “Bratwurst Argentina”. Noch werden die Bratwürste bei ihm zu Hause produziert. Im Oktober soll dann endlich der erste eigene Laden eröffnet werden.

Nächste Termine: 3.9. Botschaft (Public Viewing Deutschland-Argentinien), 27.9. AHK-Oktoberfest.

Fotos von oben nach unten:
Michael Schnirch beim Mittagessen in Palermo.
(Foto: Tobias Zwior)

André Kalisch und Michael Schnirch in ihrem Element: Am Grill.
(Foto: Privat)

Unerwartet großer Andrang am Stand von “Bratwurst Argentina”.
(Foto: Privat)

Skat in den Bergen von Córdoba

Skatturnier der Reizenden Jungs von Bialet Massé

Von Helmut Pomrehn

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Am 23. August besuchte uns Marcus Christoph vom Argentinischen Tageblatt aus Buenos Aires in privater Mission, um einmal am eigenen Leib zu spüren, was die Skatjugend aus Bialet Massé spieltechnisch zu bieten hat. Marcus war dann positiv überrascht über die Spielstärke der Teilnehmer am Turnier und vor allem über das Tempo, das beim Reizen und Spielen vorgelegt wurde.

Gespielt haben wir in den Cabañas del Mirador, wo wir wieder sehr herzlich aufgenommen und toll bewirtet wurden. Da Marcus auch Schleswig Holsteiner-Jung ist, lag es nahe, mit Sauerfleisch und Bratkartoffeln ein typisch norddeutsches Gericht auf den Tisch zu bringen. Wir hatten viel Spaß und das Ergebnis war eigentlich Nebensache, der Ordnung halber hier aber die Namen der drei ersten Positionen und Gewinner eines schönen Skat-T-Shirts: 1. Mario Aro 2. Helmut Pomrehn 3. Marcus Christoph (alle Achtung … es war immerhin sein erstes Turnier in der argentinischen Skathochburg Bialet Massé). Insgesamt nahmen acht Spieler an dem an zwei Tischen ausgetragenen Turnier teil.

Unser Skatklub würde sich auch über den Besuch von Skatspielern aus anderen Regionen Argentiniens freuen. Wir sind immer bereit, spontan ein Freundschaftsturnier zu organisieren (Kontakt: fietemoinmoin@gmail.com).

Foto:
(v.l.n.r.) Vanesa Ferrario, Ignacio Molina, Mario Aro, Marcus Christoph, Helmut Pomrehn, Roberto Arnolfo (vorne) und Bruno Antonio Jasilewicz.

Lehreralltag

Ein Tag im Leben von Alejandro Fuentes

Viel wurde zuletzt berichtet über den Zustand der öffentlichen Schulen in Argentinien. Wenig Positives. Anfang des Schuljahres wurde landesweit wieder wochenlang gestreikt. Doch wie sieht er aus, der Alltag an diesen Schulen? Tobias Zwior hat für seine Reportage einen Lehrer in Mendoza einen Tag lang begleitet.

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Es klingelt. In einem beigen, länglichen Schulgebäude, das von Hektik und Kinderkreischen erfüllt ist, sollte es jetzt eigentlich still werden. Aber das wird es nicht. Am Ende des Flurs greift die Direktorin zum Mikrofon und versucht sich mit einem beherzten “Buenas Tardes” Gehör zu verschaffen. Denn die Schüler der Grundschule “Tomas Godoy Cruz” in Mendoza haben jetzt Nachmittagsunterricht. Mehr als ein beiläufiges Raunen als Antwort bekommt sie nicht. Überall wuseln Schüler in grauen mantelartigen Schuluniformen umher, die sie von weitem aussehen lassen wie eine Kreuzung aus Momos grauen Herren und Harry Potters Mitschülern. Eltern ziehen ihren Kindern den Rolltornister hinterher, Mädchen springen Seil und mehrere Lehrer versuchen ihre Klassen um sich herum zu versammeln.

Einer von ihnen ist Alejandro Fuentes. Der 43-Jährige unterrichtet heute Mathematik in einer sechsten Klasse. “Sind alle da?”, fragt er. Die Schülertraube vor ihm bejaht einstimmig. Ein Trugschluss, wie sich wenig später herausstellt. Denn im Klassenraum angekommen, ist an Unterricht nicht zu denken. Alle paar Minuten trudeln neue Schüler ein, einige mit rund 20 Minuten Verspätung. Der “Profe”, wie die Schüler Fuentes nennen, lässt sich davon nicht irritieren und erledigt am Pult etwas Papierkram. Er sieht gemütlich aus mit seinem im Gegensatz zu den Beinen kurz geratenen Oberkörper, dem wohlgenährten Bauch und dem leicht ergrauten Bart im Bernd-Stromberg-Stil. Auffällig sind die vertrauenerweckenden braunen Augen, die hinter seiner Brille hervorlugen.

Als ein weiteres Mädchen verspätet eintrudelt, muss Fuentes dann doch ein erstes Mal eingreifen: Es gibt keinen freien Stuhl mehr für sie und so überlässt er ihr seinen eigenen. 33 Schüler sitzen nun dicht an dicht in einem engen Raum. Er wirkt durch die Blumenmustergardinen vor den notdürftig geklebten Fensterscheiben und die rissige Schiefertafel wie aus der Zeit gefallen.

lehreralltag221In der Gegenwart will Alejandro mehrmals die Mathestunde beginnen, doch jeder Versuch verläuft durch eine neue Unterbrechung im Sande. Unter lautem Gejohle schafft er es schließlich nach rund einer halben Stunde, eine Textaufgabe an die Tafel zu schreiben. Langsam und gleichmäßig schwingt er die Kreide über das Holz, während hinter ihm Papierflieger durch den Raum segeln und Sticker getauscht werden. “Tolerance, Respect, Compromise” steht neben der Tafel auf einem kleinen Blatt. Diese Leitlinien werden kurz darauf auf die Probe gestellt: In Vierergruppen sollen die Schüler die Aufgabe lösen, doch die Gruppen müssen sie erst einmal bilden. Facundo will nicht mit Oriana zusammenarbeiten, Rocío nicht mit Augusto. Tische und Stühle werden auf engstem Raum gerückt, Stifte und Geodreiecke fallen zu Boden. Und dann klingelt es wieder. Pause.

Alejandro Fuentes sitzt im Lehrerzimmer und saugt am Strohhalm seines Matetees. “Bisschen laut in der Klasse, oder?”, sagt er grinsend. Seit 20 Jahren arbeitet er nun schon als Lehrer. Auf das kurz zuvor erlebte Chaos angesprochen erzählt er, dass diese Schule noch eine der besseren in der Region Mendoza sei. “An Argentiniens Schulen läuft es schlecht: Wir Lehrer werden mies bezahlt und viele haben daher zwei, drei Stellen gleichzeitig. Die Qualität der Lehre sinkt und darunter leiden die Schüler. Und, ja, es gibt an vielen Orten große Probleme mit der Disziplin der Schüler und deren Respekt vor den Lehrern.” Diese Probleme reichen soweit, dass es auch für Fuentes selbst schon mehrmals brenzlig wurde. Einmal musste er an einer früheren Schule den geladenen Revolver eines Zwölfjährigen einsacken, ein anderes Mal einen seiner Schüler ins Krankenhaus bringen. Ein Klassenkamerad hatte diesen zuvor mit einem Messer niedergestochen. “Vor allem in den Außenbezirken der größeren Städte geht es oft schlimm zu. Daher bin ich froh, dass ich jetzt im Zentrum arbeiten kann – das sind hier fast paradiesische Zustände”, sagt er.

Zurück im Klassenraum ist von dem Paradies nicht mehr viel zu erkennen. Die Schüler arbeiten an ihrer Aufgabe, viele lenken sich dabei jedoch immer wieder gegenseitig ab. Am Ende sind es vier oder fünf Schüler, die Fuentes‘ Fragen beantworten können und mit ihm gemeinsam das Ergebnis an der Tafel durchrechnen. Doch der Lehrer bleibt gelassen. Er hat Schlimmeres erlebt. “Lief doch ganz gut heute. Es bringt nichts, herumzuschreien. Die Schüler haben Respekt vor mir, weil auch ich sie respektvoll behandle”, sagt er. Dann klingelt es.

Fotos von oben nach unten:

Ruhe bitte: Alejandro Fuentes erklärt eine Rechenaufgabe.

Der Zeitplan der Schüler am Nachmittag.
(Fotos: Tobias Zwior)

Neue Wege statt Rekonstruktion

Podiumsgespräch über jüdisches Leben im heutigen Deutschland

Von Marcus Christoph

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Wie gestaltet sich jüdisches Leben im heutigen Deutschland? Wie gegenwärtig ist die Vergangenheit? Wie geht das Land mit der Geschichte von Krieg und Holocaust um? Fragen, um die es vor wenigen Tagen bei einem Diskussionsabend im Jüdischen Museum von Buenos Aires ging. Eingeladen waren drei jüdische Teilnehmer von Besucherreisen in Deutschland, die vom Auswärtigen Amt in Berlin organisiert wurden. Die Veranstaltung stellte zugleich den Schlusspunkt der Ausstellung “250 Jahre Jüdisches Krankenhaus Berlin” dar, die Anfang April im Beisein von Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit eröffnet worden war. Ehrengast des Podiumsgesprächs war der deutsche Botschafter Bernhard Graf von Waldersee.

Als erste Gesprächsteilnehmerin schilderte Ana Epelbaum de Weinstein, die Direktorin des Dokumentationszentrum “Marc Turkov”, ihre Reiseerlebnisse. Für die Tochter von Überlebenden des Holocausts war es der zweite Aufenthalt in Deutschland. Doch auch diesmal sei die Wirkung enorm gewesen, schildert sie. Auf dem Programm der Reisegruppe, die sich aus Juden und Nichtjuden aus 21 verschiedenen Ländern zusammensetzte, standen Berlin und Dresden, wo verschiedene Orte mit historischem Bezug aufgesucht wurden.

Beispielsweise die Neue Synagoge in Dresden, ein Neubau, der vor einigen Jahren an derselben Stelle entstand, wo am 9. November 1938 die alte Synagoge in den Flammen der Pogromnacht aufging. Zwischen diesem Geschehen und dem Bombardement Dresdens im Februar 1945, zwischen Judenverfolgung und Untergang Deutschlands, sieht Epelbaum de Weinstein einen Zusammenhang: “Die Feuer von 1938 haben die Feuer von 1945 provoziert.” Heute gehe es nicht so sehr um das Rekonstruieren von etwas Altem, sondern um das Entstehen eines ganz neuen jüdischen Lebens, fasst Epelbaum den Tenor der Gespräche mit Vertretern der jüdischen Gemeinde in der sächsischen Hauptstadt zusammen.

In Berlin hinterließen vor allem das Holocaust-Mahnmal nahe dem Brandenburger Tor sowie das Jüdische Museum in Kreuzberg großen Eindruck. Beide Orte, die erst im zurückliegenden Jahrzehnt entstanden, spiegelten den langen Weg zu einem Konzept wider, wie die deutsche Gesellschaft mit der Vergangenheit umgehen könne. Epelbaum de Weinstein erinnerte an den schwierigen Neuanfang nach dem Krieg. Nur wenige Tausend Juden hatten das Inferno des Holocausts in Deutschland überlebt. In den folgenden Jahrzehnten waren es vor allem aus der Sowjetunion stammende Juden, die die alten jüdischen Einrichtungen in Deutschland wiederbelebten.

Der bundesdeutsche Staat habe dabei viele Hilfestellungen gegeben, urteilt Epelbaum. In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch die Gesetze gegen Antisemitismus, die es in dieser Form nur in Deutschland gebe. Heute seien das Land und besonders Berlin sehr kosmopolitisch. Wobei für die Bundesrepublik auch eine große Herausforderung darin bestehe, die zahlreichen muslimischen Einwanderer zu integrieren.

Dass es in Sachen Verständigung aber auch noch manches zu tun gibt, habe die Reisegruppe am Ende ihrer Reise erfahren, als der Konflikt im Gazastreifen eskalierte. Dies habe vielerorts zu einer Dämonisierung Israels und des Judentums geführt, schildert Epelbaum. Sie sprach von daher von “zwei Realitäten”: einerseits aufrichtiges Bemühen, aus der Vergangenheit zu lernen, andererseits aber auch Ressentiments.

Mit Julián Schvindlerman schilderte ein weiterer Reiseteilnehmer seine Eindrücke. Die Erinnerung an den Holocaust sei in Deutschland immer noch sehr präsent, meinte der Autor und Politikwissenschaftler. Zwar sei der damals entstandene Schaden nie wiedergutzumachen. Dennoch lobte er den Umgang des heutigen Deutschlands mit seiner Geschichte. Andere Länder stellten sich nicht in dieser Form ihrer Vergangenheit. Auch die gesetzliche Praxis, dass die Meinungsfreiheit dort ihre Grenzen habe, wo Antisemitismus beginne, hält Schvindlerman für richtig. “Da gibt es eine klare rote Linie, die nicht überschritten werden darf.”

Der Politikwissenschaftler beschrieb, wie sich im Laufe der Jahre sein eigenes Bild von Deutschland verbessert habe. Die erste Wahrnehmung waren Bilder vom Holocaust, die Schvindlerman im Grundschulalter sah. Es habe lange gedauert, ehe dieser schreckliche Eindruck durch eine differenziertere Betrachtungsweise ergänzt wurde. Als Leitmotiv für den Umgang mit der heutigen Generation von Deutschen nannte Schvindlerman den Ausspruch des Schriftstellers Elie Wiesel, dass die “Kinder der Nazis nicht Nazis, sondern Kinder” seien. Die nachfolgende Generation könne nicht für die Verfehlungen der Eltern haftbar gemacht werden.

Als beeindruckend hob Schvindlerman das Jüdische Museum in Berlin hervor. Dieses setze alleine schon durch seine auffällige Zickzack-Architektur ein Ausrufezeichen. In Bereichen wie dem “Holocaust-Turm” oder den Leerräume (Voids) bekomme der Besucher eine Ahnung davon, welche Angst und Verzweiflung die Opfer des Holocausts hätten durchleben müssen.

Bemerkenswert findet der Politikwissenschaftler auch die von dem Künstler Gunter Demnig initiierten “Stolpersteine”. Dabei handelt es sich um Gedenktafeln, die dort gelegt werden, wo NS-Opfer lebten. Mittlerweile gibt es europaweit 45.000 solcher Steine, was die Aktion zum weltweit größten “dezentralen Mahnmal” gemacht hat.

Berlin sei voll von Geschichte, aber auch von Kultur, fasst Schvindlerman seine Eindrücke von der deutschen Hauptstadt zusammen. Unter dem Strich ist er zuversichtlich, dass die Anstrengungen der Deutschen in Sachen Aussöhnung nachhaltig sind: “Ich glaube nicht, dass das eine Blase ist.”

Liliana Olmeda de Flugelman, die Kuratorin des Jüdischen Museums in Buenos Aires, war im Rahmen einer weiteren Besucherreise in Deutschland, die sich speziell an Ausstellungsgestalter in jüdischen Museen richtete. Auch hier standen Aufenthalte in Berlin und Dresden auf dem Programm. Die deutsche Hauptstadt nahm Olmeda als eine “Metropole in Bewegung” wahr, in der viel Neues entstehe, in der es aber auch viele historische Narben gebe.

Die Kuratorin ging in ihrem Reisebericht vor allem auf den architektonischen Umgang mit der Geschichte ein. Dieser reiche von der detailgetreuen Rekonstruktion wie bei der Dresdner Frauenkirche bis hin zur kompletten Neugestaltung wie im Falle der Neuen Synagoge in der sächsischen Hauptstadt. Dazwischen gebe es Mischformen zwischen Alt und Neu wie beim Jüdischen Museum oder der teilweisen Rekonstruktion wie die der Neuen Synagoge in Berlin, bei der die Außenfassade wiederherstellt wurde. Olmeda lobte das Holocaust-Mahnmal, dem es gelinge, eine Vorstellung vom Ausmaß der Tragödie zu vermitteln.

Anerkennende Worte hatte die Kuratorin auch für die Staatspolitik der Bundesrepublik übrig, die dazu beitrage, dass die Vergangenheit nicht dem Vergessen anheim falle. Eine große Herausforderung für das heutige Deutschland sieht Olmeda darin, das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen zu meistern.

Botschafter Bernhard Graf von Waldersee erläuterte auf Nachfrage aus dem Publikum die Diskussion um die rituelle Beschneidung von Jungen, die Deutschland 2012 intensiv beschäftigte. Vorausgegangen war ein Urteil des Landgerichts Köln, das in der Beschneidung aus rein religiösen Gründen eine strafbare Körperverletzung sah. Juden und Muslime empörten sich daraufhin gleichermaßen. Der Bundestag sah sich zum Handeln veranlasst und beschloss ein Gesetz, das religiöse Beschneidungen erlaubt, sofern sie “nach den Regeln der ärztlichen Kunst” durchgeführt werden. “Ein klares Bekenntnis zum jüdischen Glauben in Deutschland”, bewertete von Waldersee den Beschluss des Bundestags.

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(v.l.n.r.) Julián Schvindlerman, Ana Epelbaum de Weinstein, Liliana Olmeda de Flugelman, Museumsdirektor Dr. Simón Moguilevsky und Botschafter Bernhard Graf von Waldersee.
(Foto: Marcus Christoph)

Innenstadtbesuch

Zwei Behördengänge in nur fünf Stunden!

Von Friedbert W. Böhm

Business StempelIch wohne in einer nahen Vorstadt von Buenos Aires – kaum 10 km von der City entfernt. Den Weg kenne ich bestens, mache ihn aber nur noch, wenn es unumgänglich ist, denn ein fröhliches Fahrerlebnis bietet er weder in öffentlichen Verkehrsmitteln noch im Auto. Heute aber muss ich in den sauren Apfel beißen, weil ich mir in der Botschaft eine Lebensbescheinigung abstempeln lassen und in meiner Bank den Eingangscode für Onlinebanking erneuern muss.

Die Botschaft liegt auf halbem Weg. Sie hat keinen Besucherparkplatz. Die umliegenden Straßen sind mit parkenden Autos überfüllt. Die nächstgelegene Parkgarage ist voll. Nach etwa 20 Minuten habe ich eine andere gefunden, eine von denen, deren dunkle, unbeleuchtete, kurvige Einfahrt eine Steigung von ca. 30 Grad aufweist und deren Stellplätze dem Vehikel höchstens 10 cm Freiraum lassen bis zur Wand, einer Säule oder dem nächsten Auto. Zur Botschaft muss ich jetzt nur noch 6 Blocks laufen, über zwei stark befahrene Durchgangsstraßen hinweg.

Die Botschaft hat vier Schalter, von denen drei besetzt sind. Lebensbescheinigungen werden in dem bearbeitet, der auch für Rentenanträge und allerlei Sonstiges zuständig ist. Das scheinen recht langwierige Dinge zu sein; der Mann, der schon bei meiner Ankunft da steht, tut das noch 10 Minuten länger. Dann sind noch vier andere vor mir. Das könnte noch ein kleines Stündchen dauern.

Ich habe aber das unverhoffte Glück, von einer mir bekannten Botschaftsdame außer der Reihe herbeigewinkt zu werden. Sie hat mein in den Pass eingeklemmtes Lebensbescheinigungsformular erkannt und in fünfzehn Sekunden abgestempelt. Ich überlege, ob ich der Botschaft als Betriebsverbesserungsvorschlag empfehlen soll, dem Publikum alle 10 Minuten von einem gerade unbeschäftigten Mitarbeiter anbieten zu lassen, solche Bescheinigungen zwischendurch abzustempeln, womit er einige Minuten verlöre, dem Publikum jedoch einige Stunden Zeit ersparte. Als in noch jünger, naiver und unbelasteter war, schrieb ich solche Vorschläge.

Zur Bank gelange ich im 2. Gang und nachdem ich den Wagen im 5. Untergeschoss einer Großgarage lassen konnte, die nur 5 Blocks entfernt ist. Ich bin seit über 20 Jahren Kunde der Bank und wurde in einem früheren Leben bei Eintritt von der Hälfte der Angestellten freundlich begrüßt, dann von meinem Betreuer bedient, der mich und mein Konto kannte. Jetzt muss ich erst vor der Auskunftsstelle anstehen. Dort wird mir gesagt, dass mein Anliegen von irgendeinem der drei Kundenbetreuer im 1. Stock bearbeitet wird.

Die erste Betreuerin will erst wissen, welcher Art von Konten meines angehört, dann verweist sie mich auf das zweite Kabuff. Als der dortige Betreuer mit seinem längeren Telefongespräch fertig ist und ich ihm sage, dass ich meinen Onlinecode wechseln will, sagt er, das müsse ich mit meiner Bankkarte am Automaten machen. Ich erkläre ihm, dass ich eine solche Karte nicht besitze und schon dreimal abgelehnt habe, weil ich sie so selten benutzen würde, dass der Aufwand größer wäre als der Nutzen. Dann lässt er mich einen Revers unterschreiben, mit dem ich bestätige, den Code gewechselt zu haben. Ich unterschreibe, darauf vertrauend, dass er mir dabei nun helfen würde. Das tut er aber nicht, denn dafür gibt es eine Spezialistin, die neben den Automaten steht und deren einzige Aufgabe offenbar ist, dem Publikum zum Verständnis des Systems zu verhelfen.

Sobald sie frei ist, ruft sie die entsprechende Maske auf, wo ich meine üblichen Daten eingeben muss. Dann soll ich eine vierstellige neue Codenummer eingeben. Sie wird vom System abgelehnt. Die Betreuerin will sie nun wissen. Ach nein, sagt sie, Du (sie könnte ja meine Enkelin sein) darfst weder mit 19 noch mit 20 beginnen (vermutlich aus Sicherheitsgründen, weil wohl 80 % der Kunden Jahreszahlen benutzen). Mein zweiter Versuch hat auch keinen Erfolg, wahrscheinlich, meint die Betreuerin, weil ich eine Ziffer wiederholt habe, was man “natürlich” nicht darf. Beim dritten Versuch klappt es dann. Nun muss ich aber noch einen Benutzerspitznamen eingeben, wohl als zusätzliche Sicherheit. Er muss mindestens 8 Stellen haben. Das System ist aber schon wieder nicht zufrieden, ich muss den Spitznamen der Betreuerin offenbaren. “Aber das sind ja alles Buchstaben!”, wirft sie mir vor, “es muss doch mindestens eine Ziffer enthalten sein”.

Irgendwann ist das System endlich zufrieden. Ich prüfe und freue mich, wieder Onlinezugang zu besitzen. Die Betreuerin guckt mir dabei über die Schulter, damit ich auch alles richtig mache. Sie verabschiedet mich froh und stolz über unseren gemeinsamen Erfolg. Als ich sicher bin, dass mir niemand mehr zusieht, ändere ich Code und Spitznamen.

Auf der Heimfahrt höre ich im Radio, dass das Mutterhaus meiner Bank soeben zur effizientesten Bank Europas erklärt wurde. Wie mag wohl die Bürokratie der anderen aussehen? Bloß gut, dass ich in Argentinien wohne, wo es möglich ist, in kaum fünf Stunden einen Stempel auf ein Formular und einen neuen Onlinezugang zu bekommen!

Ein Gott im Theater

Seit einer Woche ist der junge Journalist Tobias Zwior gerade mal in Buenos Aires – Diego Maradona zu treffen, kann er schon von seiner To-do-Liste streichen

maradona2Eigentlich wollte ich nur ins Theater gehen. Wollte mich kurzweilig unterhalten lassen von Dalma Maradona, der “Tochter Gottes”, wenn man dem Titel des Theaterstückes Glauben schenkt. Wollte wissen, wie man sich das Leben einer solchen Tochter vorstellen kann. Man kann schließlich über die Familie Maradona vieles sagen, aber nicht, dass sie keine Unterhaltung böte. Das Stück lief vergangenes Wochenende zum letzten Mal und ich sagte daher noch drei deutschen Freunden Bescheid, die es ebenfalls noch nicht gesehen hatten.

Zunächst wollten wir am Sonntag gehen, doch dann kam mir ein anderer Termin dazwischen. Danach stand der Freitag zur Debatte, den sagten meine Freunde jedoch in letzter Minute noch ab. Also blieb wohl oder übel nur noch der Samstag übrig. Typisch deutsch treffen wir uns eine Stunde vor Beginn des Stücks vor dem Theater, um die Karten an der Abendkasse zu kaufen. Es ist so früh, dass der Portier uns zunächst noch gar nicht ins Gebäude lassen will. Doch als wir nach rund einer Stunde Wartezeit und einem halben Liter Cola pro Person als erste den Theatersaal betreten, hat es sich gelohnt: Die erste Reihe ist noch frei. Denken wir.

Aber als wir näher kommen, leuchten uns schon die weißen “Reserviert”-Schilder entgegen. Zu einem meiner Freunde sage ich noch im Spaß “So dick kann der Diego doch nicht geworden sein, dass er gleich die ganze Reihe reservieren muss.” “Als ob der heute hier ist”, antwortet mein Freund. “Stimmt auch wieder.” Gut, so setzen wir uns eben in die dritte Reihe. Der Saal füllt sich zügig bis auf den letzten Platz. Kurz vor Beginn des Stücks wird es noch einmal für einige Sekunden stockdunkel, doch dann erscheint Dalma auf der Bühne. Erzählt die großen und kleinen Geschichten ihrer Kindheit und Jugend. Wie ihre Idole, die Backstreet-Boys, ein Autogramm ihres Vaters haben wollten. Wie sie zum 12. Geburtstag ein Auto geschenkt bekam. Wie sie bei Fidel Castro auf dem Schoß saß. Als sie das Video des Maradona-Tores gegen England 1986 auf der Leinwand zeigt, brechen im Saal spontane Jubelstürme aus.

Irgendwann, gegen Mitte des Stückes, fällt mir in der ersten Reihe ein Herr auf, der bei vielen von Dalmas Anekdoten besonders laut lacht und meistens als erster klatscht. Ab und zu ruft er auch etwas rein. Meinem Freund neben mir ist er auch aufgefallen. Wir schauen genauer hin. “Von hinten sieht der aus wie…”, flüstert mein Freund. “Das kann nicht sein”, entgegne ich. Aber auch ich muss zugeben, dass es tatsächlich derjenige sein könnte, wegen dem wir alle hier sitzen, als ich seine markanten Ohrringe sehe. Von diesem Moment an kann ich mich nicht mehr auf das Stück konzentrieren. Mag ja lustig sein, was Dalma und ihr kongenialer Bühnenpartner noch erzählen, aber ich will nur noch wissen, ob der Kerl dort vorne tatsächlich Diego Maradona ist, oder nicht. Meinen Freunden geht es genauso. Genau können wir es nicht erkennen. Zähes Warten. Dann, endlich, folgen Dalmas abschließende Worte: “…er ist nicht Gott. Er ist mein Papa. Und er ist heute Abend hier.”

Von einem Moment auf den nächsten verwandelt sich der ganze Saal in ein Tollhaus. Als dann tatsächlich Diego Maradona auf der Bühne erscheint, seine Tochter umarmt und kurz flüchtig ins Publikum winkt, hält es keinen mehr auf seinem Sitz, auch uns Deutsche nicht. Alle singen, klatschen und rufen immer wieder “Diego, Diego” und “Dios”. Es herrscht eine Stimmung, als hätte Argentinien gerade die WM-Finals von 1990 und 2014 doch noch gewonnen. Nach rund fünfzehn Sekunden Bühnenpräsenz verschwindet der Umjubelte dann schnell durch den Hinterausgang. Doch jetzt geht die Party erst richtig los.

Ein Großteil der Zuschauer rennt Richtung Ausgang, um “D10S” noch für ein Autogramm abzufangen. Selbst das Rentnerehepaar vor mir hat schon den schwarzen Filzstift gezückt. Und einer meiner Freunde kann sich nicht anders behelfen und ruft tatsächlich noch aus dem Theatersaal heraus seine Eltern in Deutschland an. Dass dort gerade vier Uhr nachts ist, geschenkt. Er: “Mama, ich bins.” Sie: “Ist was passiert?” Er: “Ja, ich habe gerade Diego Armando Maradona getroffen.” Sie (zugegeben für diese Uhrzeit sehr originell): “Wo, in der Disco?”. Er: “Nein, im Theater”. Sie: “Schön, dann lass mich jetzt weiterschlafen.” Recht hat sie. Einen Mann, dessen schöpferische (in diesem Fall: fußballerische) Glanzzeit fast 30 Jahre zurückliegt als Gott zu verehren, wo gibt’s denn sowas?, denke ich mir in einem ruhigen Moment. Doch die Antwort ist eigentlich klar: Überall dort, wo Diego Armando Maradona auftaucht, egal ob in Argentinien oder sonst wo auf der Welt. Gracias a Dios.

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Vater und Tochter: Diego und Dalma Maradona auf der Bühne.
(Foto: Tobias Zwior)

Zurück aufs Dorf?

Großstadtflüchter auf den Spuren eines verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühls

Von Friedbert W. Böhm

kinder (1)In meiner Familie gibt es etwa ein Dutzend junger Leute zwischen 40 und 45. Lauter intelligente, lebensfrohe, gut ausgebildete und schon ziemlich herumgekommene Mittelklässler. Nur zwei davon besitzen eine feste, ordentlich bezahlte Anstellung. Die anderen sind Schauspieler, Künstler, Schriftsteller oder andere Freiberufler; Ich-AG heißt das wohl heutzutage.

Bei meinen vorherigen Deutschlandbesuchen lebten die allermeisten von ihnen in München, Köln oder Berlin, mitten im Mainstream des anscheinend unaufhaltbaren Fortschritts von Kultur und Wirtschaft. Es wäre übertrieben zu sagen, dass meine jungen Verwandten auf die Dorfbewohner herabgesehen hätten, es schien ihnen aber doch wohl ein wenig altmodisch, nicht besonders cool, seine Zeit weitab von den vielfachen Möglichkeiten und Vergnügungen zu verbringen, welche die Großstadt bietet.

Welche Überraschung, sie jetzt alle auf dem Dorf anzutreffen! Ich habe mich nicht dadurch unbeliebt gemacht, durch gezielte, womöglich als hochnotpeinlich empfundene Umfragen die Gründe hierfür in Erfahrung zu bringen. Wenn ich allerdings meine Beobachtungen vor den gesellschaftlichen Nachrichten sehe, die uns in letzter Zeit erreichen, glaube ich, diese Gründe ziemlich zweifelsfrei zu erkennen:

Da ist zunächst einmal (wo nicht?) der Kostenfaktor. Ich habe mir im Dorf nahe Köln die Haare schneiden lassen – in einem modernen, geschmackvoll dekorierten Lokal, von einer sehr netten, sehr kompetenten Friseuse, die mir nebenbei die Dorfgeschichte erzählte. Das Alles für die Hälfte des in Berlin üblichen Preises. Auch andere Dinge des täglichen Lebens dürften – nicht im Dorf, wo es kaum noch Läden gibt, aber im meistens nahen Einkaufszentrum – günstiger sein als in der City. Ausschlaggebend jedoch sind die Wohnungspreise. Kauf oder Miete in einer wohnlichen Großstadtgegend scheinen für Mittelklässler nicht mehr erschwinglich zu sein.

Zumindest nicht für solche, die dem Vermieter oder der Bank nicht eine stabile, gut honorierte Arbeitsstelle mit Aufstiegsmöglichkeiten nachweisen können. Solche Konditionen sind aber schon seit Jahren überaus schwer beizubringen für eine Minderheit (ist sie es noch?), die aus irgendwelchen Gründen mit 40 noch nicht in einer mittleren Führungsposition eines guten Unternehmens sitzt, so kompetent, verlässlich, arbeitsam und vielsprachig sie auch sei. Die Wirtschaft bevorzugt billige Universitätsabgänger, die einige Jahre hindurch als Praktikanten benutzt werden können (oder, neuerdings, bestens ausgebildete Südeuropäer, deren anfängliches Sprachmanko durch einige Berufserfahrung ausgeglichen wird).

Es gibt aber noch zwei andere wesentliche Gründe für den Umzug ins Dorf. Der weniger wichtige ist die steigende Mühsal, sich in der Großstadt zu bewegen. Der Angestellte tut es in überfüllten U- oder S-Bahnen, der Freiberufler verliert man-hours bei der Suche nach Parkplätzen; beide sind ständig hautnah von Musik Hörenden oder ins Handy Sprechenden Mitstädtern oder Touristen umgeben, womöglich auch nachts. Für nicht Wenige macht dies den Vorteil der nahen Verfügbarkeit von Waren und gewissen Dienstleistungen hinfällig (zumal einfache Dienstleister auf dem Dorf schneller, verlässlicher, freundlicher und preisgünstiger zu sein pflegen).

Der andere Grund sind die Kinder. Nicht nur Eltern, die im Grünen aufgewachsen sind, wissen oder erkennen, dass eine natürlich(er)e Umgebung ein unschätzbarer Erziehungsvorteil ist. Dass die Milch nicht von einer Tüte produziert, der Apfel nicht in einer Kiste gewachsen ist, kann man einem Kind zehnmal erklären. Wirklich beGREIFEN wird es dies erst, wenn es mehrmals beim Melken zugeschaut und dabei die Kuh gestreichelt oder beim Nachbarn halbreife Frühäpfel geklaut hat. Auch wird es Verantwortungs- und Pflichtgefühl eher in sein Verhalten integrieren, wenn es den Eltern bei der Gartenarbeit oder beim Schneeschippen helfen muss, als wenn es diese Begriffe in der Schule – oder am ersten Arbeitsplatz – erklärt bekommt. Die Kinder meiner Verwandten machen den Eindruck, auf dem Dorf glücklich zu sein. Lesen und Schreiben werden sie dort auch nicht schlechter lernen als in der Großstadt.

Während mehrerer Wochen habe ich zwei Dörfer mitbewohnt, die mir recht symptomatisch erscheinen für kleine Ortschaften in Stadtnähe. Beide liegen eine knappe Autostunde von München bzw. Köln entfernt und in greifbarer Nähe kleinerer Städte. Beide sind kommunalpolitisch in größere Dörfer oder benachbarte kleine Städte eingegliedert. Beide sind umgeben von einer Vielzahl anderer Dörfer, die ähnlichen Charakteristiken entsprechen. Sie alle entzücken durch eine große Mehrzahl adretter, neu erscheinender, mit hübschen Gärten umgebener (oder aufgeputzter ehemaliger Bauern-) Häuser, durch Sauberkeit und perfekte Infrastruktur. Die Landwirte, die es dort noch gibt, leben mehr von der Betreuung städtischer Reitpferde als – in einem Fall ein Einziger in einer 1000-Seelen-Gemeinde – noch von Ackerbau und Viehzucht.

Im Grunde sind es Schlafdörfer. In dem mir am besten Bekannten gibt es keine Kirche, keine Polizeiwache, keine Kneipe mehr, der letzte Kramladen wurde vor einem Jahr aufgegeben, und selbst der einzige Zigarettenautomat ist außer Betrieb. Auf der Straße fühlt man sich in nordamerikanische Ferienorte versetzt. Bürgersteige gibt es nicht mehr. Wozu auch? Die vorbeikommenden Menschen sind in Autos versteckt. Kaum spielende Kinder, keine schwatzenden Nachbarinnen oder Kegelbrüder, höchstens dann und wann ein einsamer Jogger. Geselligkeit findet im kleinen Kreis auf der hinteren Terrasse statt oder dem schattigen Grillplatz. Den “Volks”festen, die anlässlich des Feuerwehrjubiläums oder der Maibaumaufrichtung obrigkeitlich ausgerichtet werden, fehlt der Stallgeruch.

Die hier lebenden Großstadtflüchter scheinen ein typisches Merkmal der Massengesellschaft mitgebracht zu haben: die Abkapselung vom Nächsten. Diese ist unvermeidlich, wenn man in einer Wohnwabe im vierten Stock lebt und seine ständig wechselnden Nachbarn höchstens mal im Fahrstuhl gesehen hat. Natürlich ist die zeitgemäße Megamobilität auch im Dorf ein Hindernis für schlichte Geselligkeit. Wäre es nicht aber ersprießlicher, an einem warmen Sommerabend mit Nachbarn auf dem Dorfplatz ein Bier zu trinken und sich über die Fußball-WM zu unterhalten oder winters eine Schlittenpartie am nahen Hang zu organisieren, als jeden freien Tag zu entfernten, schicken Ausflugszielen zu rasen? Ist nicht die Möglichkeit zur Wiederherstellung des weitgehend verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühls eine weitere Attraktion des Dorfes?

Vielleicht kommen die Stadtflüchter mit der Zeit darauf.

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Kinder sind auf dem Dorf meist glücklicher als in der Großstadt.

Tango bei Wind und Wetter

Buenos-Aires-Festival in Hamburg unter erschwerten Bedingungen

Von Marcus Christoph

lombardi hamburgPetrus meinte es nicht gut mit dem Hamburger Hafengeburtstag am vorigen Wochenende. Pausenloser Regen und Sturm mit Orkanböen bis zu acht Windstärken zogen auch das Buenos-Aires-Argentinien-Festival an der Kehrwiederspitze in Mitleidenschaft. Dennoch war Veranstalter Michael Wendt nicht unzufrieden: “Zusammengefasst kann man sagen, dass cirka 80.000 Besucher an den drei Tagen das Festival besucht haben. Das ist weniger als erwartet und erhofft – aber weitaus mehr als nach Bekanntgabe des Wetterberichtes befürchtet.” Buenos Aires und Argentinien hätten sich als für die Besucher sehr interessante Themen und Destinationen erwiesen, sagt Wendt.

Buenos Aires hatte sich in einem gut besuchten 150 Quadratmeter großen Zelt informativ und unterhaltend dargestellt. Der Fußboden war eine getreue Nachbildung der Pflastersteine aus San Telmo. Von dort inspiriert waren auch die Straßenlampen. Die großformatigen Fotos vom “Teatro Colón”, der Plaza de Mayo und der “Avenida 9 de Julio” sowie von den Tangopaaren in der Stadt machten bei vielen Besuchern Lust auf eine Reise an den Río de la Plata. Natürlich war auch der Obelisk – in verkleinerter Form der Mittelpunkt in dem Zelt – genau so wie in Buenos Aires.

Viele Gäste nutzten den Besuch, um sich mit einem Glas Trapiche-Wein über Buenos Aires zu informieren. Wendt schätzt die Zahl der Ausstellungsbesucher auf mehr als 5000. Aber auch die beiden Nachbarstände, der Infoposten der Hotellerie Buenos Aires und das “Café Argentino” hatten, großen Zulauf. Letzterer lockte mit einem urigen Holzkohlegrill, auf dem Asado zubereitet wurde. Auch die argentinischen Biere und der Mate-Tee kamen bei den Besuchern gut an.

Die Bühne stand ganz im Zeichen des Tangos. Die Unterrichtsstunden fanden auf der geschützten Bühne statt – oder wenn die Bühne wegen zu starker Böen geschlossen werden musste – auch mal in einem der beiden Garderobenzelte. Zwei der renommiertesten Tango-Paare Argentiniens, Maximiliano Cristiani und Jésica Arfenoni (Tango-Weltmeister 2013) sowie Roberto Zucarino und Magdalena Valdes zeigten den aktiven Tänzern Tangofiguren und Tricks und verzauberten das Publikum mit herausragenden Shows. Aber es konnten sich auch Laien am Tango versuchen. Insgesamt haben mehr als 150 Tanzpaare dort getanzt, schätzt Veranstalter Wendt.

Zu den Höhepunkten gehörten auch die beiden Konzerte der Gruppe “Otros Aires” mit modernem Tango zum Zuhören und Mittanzen. “Es wurde gefeiert, getanzt, gehört, geklatscht. Die Stimmung war immer bestens, die Nachfrage und das Interesse an den Ständen sehr groß”, fasste Wendt zusammen.

Zusätzlich zum Open-Air-Event fand ein von Dr. Matthias Kleinhempel, dem Hamburg Ambassaor in Buenos Aires, organisiertes Treffen zwischen Hamburger Vertretern und einer Delegation aus Argentinien statt. An der Spitze Letzterer standen der hauptstädtische Kabinettschef Horacio Rodríguez Larreta sowie die beiden Minister Hernán Lombardi (Kultur) und Daniel Chain (Stadtentwicklung). Es gab zahlreiche Gespräche, Meetings, Workshops und Vorträge. Der Meinungsaustausch soll in den kommenden Jahren vertieft werden.

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Auch Kulturminister Hernán Lombardi schwang in Hamburg das Tanzbein.
(Foto: Jaffé)

Folklore-Sängerin als erste Kulturministerin

Teresa Parodi löst als erste Kulturverantwortliche im Ministerrang Staatssekretär Jorge Coscia ab

Von Marcus Christoph

cfk kultur
Teresa Parodi ist die erste Kulturministerin Argentiniens. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner nahm der populären Folklore-Sängerin am Mittwoch in der Casa Rosada den Amtseid ab. Der Vorgang ist gleich in zweierlei Hinsicht ein Novum: Erstens übernimmt damit in Argentinien erstmals eine bekannte Persönlichkeit aus der Musikbranche ein hohes Regierungsamt – wie es beispielsweise in Brasilien mit dem Sänger Gilberto Gil als Kulturminister sowie in Peru mit der Sängerin Susana Baca in dem gleichen Amt bereits Vorbilder gibt. Zweitens gibt es in Argentinien erstmals einen Kulturverantwortlichen im Ministerrang. Bislang wurde das Ressort lediglich als Staatssekretariat verwaltet. Erst durch ein Dekret der Präsidentin in dieser Woche wurde das Kulturministerium geschaffen. Somit gibt es aktuell 16 Ministerien.

Der bisherige Staatssekretär für Kultur, der Filmemacher Jorge Coscia, hatte zuvor auf persönlichem Wunsch der Präsidentin seinen Rücktritt erklärt und so den Weg freigemacht für Parodi, die mit bürgerlichem Namen eigentlich Teresa Adelina Sellarés heißt. Gemäß Darstellung der Zeitung “La Nación” sei Cristina mit Coscias Amtsführung nicht zufrieden gewesen. Diese sei “träge und ermüdend” gewesen und habe nur “dürftige Ergebnisse” erzielt, wie das Blatt unter Berufung auf nicht näher bezeichnete Quellen aus dem Regierungsumfeld berichtet. Zudem ist von Missmanagement die Rede.

Cristina entschied sich zu einer Neuaufstellung der Kulturverwaltung. Sie griff am Dienstagabend zum Telefonhörer und bot Parodi an, am Folgetag die erste Kulturministerin des Landes zu werden. Die ersten Stellungnahmen der Folklore-Sängerin nach ihrer Nominierung standen dementsprechend noch ganz im Zeichen der Überraschung: “Es ist eine Ehre. Ich bin immer noch völlig erstaunt, aber ich bin bereit zu arbeiten”, erklärte Parodi. Die neue Kulturministerin kündigte an, dass ihre Behörde ein “Haus der offenen Türen” sein werde. Man werde darauf hinwirken, dass “die wunderbare kulturelle Vielfältigkeit Argentiniens deutlicher sichtbar” werde.

Parodi gilt als treue Anhängerin der Präsidentin und deren “Regierungsmodell”. Sie bringt Erfahrung mit Ämtern mit: In Buenos Aires war sie in der Regierungsmannschaft des einstigen Bürgermeisters Aníbal Ibarra für Musik zuständig. Später fungierte sie als Leiterin von Ecunhi, der Kultureinrichtung der “Mütter der Plaza de Mayo”, die ihren Sitz in der ESMA-Gedenkstätte hat.

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Teresa Parodi (r.) wird von Cristina als Kulturministerin vereidigt.
(Foto: Presidencia)

Mit Solarenergie in den Lüften

Flugpionier Bertrand Piccard als Ehrengast bei “ECO Suiza”

Von Marcus Christoph

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“Bertrand Piccard ist ein Pionier, der Träume realisiert, die für alle von Nutzen sind.” Der Schweizer Botschafter Johannes Matyassy war voller Freude, den weltbekannten Fieger, Abenteurer und Wissenschaftler aus Lausanne als Ehrengast des Projekts “ECO Suiza” in Buenos Aires begrüßen zu können. Dieses widmete sich in diesem Jahr mit mehreren Veranstaltungen dem Thema “Erneuerbare Energien”. Piccard (56) stellte in diesem Zusammenhang sein Vorhaben vor, mit dem Flugzeug “Solar Impulse 2” im kommenden Jahr die Erde umfliegen zu wollen.

Der Flugpionier, der bereits 1999 zusammen mit dem Briten Brian Jones als erster Mensch die Erde in einem Ballon umkreiste, stellte in der hiesigen Schweizer Residenz die Vorzüge des mit Solarenergie betriebenen Luftfahrzeuges dar: Es komme gänzlich ohne Treibstoff aus und könne theoretisch unbegrenzt lange fliegen – Tag und Nacht. Auf diese Weise könne die Luftfahrt zukünftig sehr viel umweltverträglicher sein, als sie es heute ist.

Piccard plant, seine Weltumrundung in der nördlichen Hemisphäre zwischen März und Juli 2015 zu starten und nach 25 Tagen am Ziel zu sein. Der Schweizer hatte bereits im Vorjahr mit seiner ersten Öko-Maschine 5000 Kilometer von San Francisco bis New York in mehreren Tagesetappen zurückgelegt. Der neue Prototyp “Solar Impulse 2” verfügt im Vergleich zum Vorgängermodell über eine größere Kabine, was den Piloten das Zurücklegen längerer Strecken ermöglichen soll.

Bei der geplanten Weltumrundung sind jeweils knapp einwöchige Etappen vorgesehen. In den Ländern, in denen das Flugzeug landet, sollen Infoveranstaltungen stattfinden. 2016 will Piccard dann auch die Südhalbkugel mit seinem Öko-Flugzeug besuchen und bei den Olympischen Spielen in Rio Station machen.

Piccard führte aus, dass erneuerbare Energien immer wichtiger würden. Sowohl mit Blick auf die Umwelt, aber auch für die Wirtschaft. Umwelttechnik generiere schließlich auch Arbeitsplätze. Wenn man es schaffe, wirtschaftliches Wachstum umweltverträglich zu gestalten, ergebe sich eine “Win-Win-Situation”, von der alle profitierten.

Voraussetzung, um die Welt entsprechend zu ändern, seien politischer Mut und Pioniergeist in der Forschung, so Piccard. Tugenden, die offenbar nicht überall vorhanden sind: So befinden sich unter den Sponsoren des “Solar-Impulse”-Projektes keine traditionellen Luftfahrtunternehmen. “Die Experten haben gesagt, dass es unmöglich sei, mit einem Flugzeug, das die Größe eines Jumbos und das Gewicht eines Kleinwagens habe, Tag und Nacht ohne Treibstoff zu fliegen”, berichtet der Schweizer. Doch die Geisteshaltung, das Ungewisse abzulehnen und im Alten zu verharren, führe zu Stagnation.

Piccard erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass man sich zu Zeiten von Flugpionieren wie den Gebrüdern Wright auch nicht habe vorstellen können, dass es einmal möglich sein könnte, mit Flugzeugen zu reisen, die Platz für mehrere Hundert Passagiere böten. Ob die Solarflugzeuge tatsächlich einmal die Luftfahrt revolutionieren werden, will Piccard allerdings nicht versprechen: “Es ist wie mit Samen. Wenn man welche sät, weiß man vorher auch nicht genau, wohin man kommt. Manche werden groß, andere nicht.”

Es komme aber darauf an, sich auf das Ungewisse einzulassen. Etwas, was Piccard seit seiner Kindheit fasziniert und in seiner Familie Tradition hat. Sein Großvater Auguste Piccard fuhr 1932 mit einem Ballon bis auf 16.940 Meter in die Stratosphäre, sein Vater Jacques Piccard brach mit dem Tiefsee-U-Boot “Trieste” im Marianengraben mit 10.916 Metern den Weltrekord im Tiefseetauchen.

Piccard nahm während seines Aufenthaltes in Argentinien an Podiumsgesprächen in der Katholischen Universität von Buenos Aires sowie in den Universitäten von La Plata und San Juan teil, bei denen es im Rahmen von „ECO Suiza“ um erneuerbare Energien ging. Seit 2011 organisiert die eidgenössische Auslandsvertretung in Argentinien jedes Jahr Veranstaltungen, die die Nachhaltigkeit fördern sollen. Zum Auftakt ging es um Tunnelbau. In den vergangenen Jahren standen die Themen “Architektur” und “Wasser” im Mittelpunkt. Insgesamt ist “ECO Suiza” auf zehn Jahre angelegt.

Foto:
Bertrand Piccard (l.) mit dem Schweizer Botschafter Johannes Matyassy.
(Foto: Marcus Christoph)