Von der Fläche in den Raum

Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert die weltweit größte Frank Stella-Retrospektive seit mehr als 15 Jahren

Von Nicole Büsing und Heiko Klaas


“Für einen Künstler ist es immer schwierig”, sagt Frank Stella, “auf der einen Seite willst du das Publikum vor den Kopf stoßen, aber andererseits willst du auch, dass sie beeindruckt von dir sind.” Diesen schwierigen Balanceakt hat der 1936 in Malden, Massachusetts in ein Elternhaus mit italienischen Wurzeln geborene Maler und Bildhauer in den nunmehr über 50 Jahren seiner künstlerischen Karriere eigentlich immer sehr gut hinbekommen. Stella, dem das Kunstmuseum Wolfsburg jetzt, ein Jahr nach seinem 75. Geburtstag, die seit 15 Jahren weltweit größte Retrospektive ausrichtet, gehört zu den letzten noch lebenden großen US-amerikanischen Künstlern, deren Werk in der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Ausgangspunkt nahm.

Sein Name wird in einem Atemzug mit längst verstorbenen Weggefährten und Zeitgenossen wie Jasper Johns, Ellsworth Kelly oder Barnett Newman genannt. Und, das zeigen die vielen ganz aktuellen Werke in dieser sehenswerten Schau, er gehört auch zu den wichtigsten internationalen Künstlern des 21. Jahrhunderts. Seine steile Karriere begann Frank Stella im Alter von nur 23 Jahren. 1958 war er nach New York gezogen. Seine erste Gruppenausstellung im Museum of Modern Art hatte er 1959. Stella war mit gleich vier Bildern vertreten. Nur ein Jahr später erfolgte die erste Einzelausstellung in der renommierten Leo Castelli Gallery, dem Showroom der jungen New Yorker Avantgarde. Der Durchbruch war geschafft.


Die Wolfsburger Ausstellung, die in enger Kooperation mit dem Künstler entwickelt wurde, versammelt 63 großformatige Werke sowie 82 Arbeiten auf Papier, die profunde Einblicke in den Werkprozess Stellas ermöglichen. Auf eine chronologische Hängung wurde zwar weitgehend zugunsten einer eher assoziativen und publikumsfreundlichen Präsentation verzichtet. Den Beginn der Schau markieren aber dennoch Stellas frühe “Black Paintings”, mit denen er als 23-Jähriger reüssierte. “What you see is what you see” (Man sieht nur, was man sieht): Mit diesem programmatischen Satz hatte er 1964 praktisch das ästhetische Dogma des Minimalismus auf den Punkt gebracht. Frank Stella hätte zu einem der Hauptprotagonisten der Minimal Art werden können. Doch ihm kam es zeitlebens darauf an, sich immer wieder neu zu erfinden. Neue abstrakte Formen und Farben, die Verwendung immer wieder neuer Werkstoffe und Verarbeitungstechniken treiben ihn und seine Kunst bis heute an.

Schon früh verlässt Stella die zweidimensionale Begrenztheit der Leinwand. Seine 2Shaped Canvases” und die Arbeiten aus der “Irregular Canvas Series” brechen bereits in den 60er Jahren mit der Konvention, ein Bild habe rechteckig zu sein, indem sie als Kreis- und Bogenformen, spitze Winkel und unregelmäßige Polygone daherkommen. Anfang der 70er Jahre erfolgt dann der endgültige Aufbruch in den Realraum des Betrachters. Ob er seine raumgreifenden Reliefs, die ineinander verschlungenen Metallbänder und die weit aus dem Bildraum auskragenden, abstrakt und bunt bemalten Wellen, Kurvengebilde und Gitterstrukturen als dreidimensional bezeichnen würde, wird er auf der Pressekonferenz in Wolfsburg gefragt. “2,7-dimensional”, antwortet Stella scherzend, darauf könne man sich einigen.

Der Italiener Lucio Fontana ist als derjenige in die Kunstgeschichte eingegangen, der durch beherzte Schnitte in die Leinwand nicht nur den banalen Raum dahinter sichtbar gemacht, sondern auch das bürgerlich-repräsentative Konstrukt einer illusionistischen Bildauffassung radikal erschüttert hat. Der Italoamerikaner Frank Stella aber hat der neueren Kunstgeschichte eine weitere zentrale Pointe hinzugefügt, nämlich die, dass das Bild seine Oberfläche und Begrenztheit einfach auflösen und sich explosionsartig in den Raum hineinkatapultieren kann. In Wolfsburg gefragt, ob er sich nach einem so experimentierfreudigen und ereignisreichen Leben demnächst zur Ruhe setzen möchte, gibt sich der vom Minimalisten zum Maximalisten gewandelte Frank Stella überaus tatendurstig: “Ich bin längst noch nicht am Ende der Straße angekommen”, sagt der begeisterte Motorsportfan.

Info

  • Ausstellung: “Frank Stella – Die Retrospektive. Werke 1958-2012”
  • Ort: Kunstmuseum Wolfsburg
  • Zeit: 8. September 2012 – 20. Januar 2013
  • Katalog: Hatje Cantz Verlag, 312 S., 321 Abb. 42 Euro (Museum), 49,80 Euro (Buchhandel)
  • Webseite

Fotos von oben nach unten:
Frank Stella, “Paradoxe sur le comediene”, 1974. Kunstharzfarbe auf Leinwand.

Blick in die Ausstellung.

Frank Stella, “La vecchia dell´orto, Cones and Pillars”, 1986.

Frank Stella.
(Fotos: Klaas)

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Mit “Glück” in Buenos Aires

Interview mit dem Stargast des 12. Deutschen Kinofestivals von Buenos Aires, Vinzenz Kiefer

Von Nina Obeloer

NO: Wie ist dein erster Eindruck von Buenos Aires?
VK: Super! Es gefällt mir hier gut, soweit ich das bisher überblicken kann. Nee, wirklich toll. Dieser Friedhof (in Recoleta, Anm. d. Red.) hat mich sehr fasziniert. Das war sehr beeindruckend. Und ein Steak habe ich gegessen, gestern Abend gleich. Das war etwas, das wollte ich gleich mal erledigen. Das hat phantastisch geschmeckt!

NO: Wie fühlt sich das an, den Film jetzt hier in Südamerika vorzustellen?
VK: Das war eine sehr große Überraschung und ich fühle mich geehrt. Das ist sehr schön. Ich mache Filme nie mit Blick darauf, was danach damit passieren könnte, wie Festivals oder Filmpreise. Es gibt ja Leute, die sagen “Oh mach das, dafür kannst du ‘nen Preis gewinnen”. Also wenn’s passiert, ist das natürlich schön.

NO: In “Glück” spielst du die Rolle des Punks Kalle, der den Freier seiner Freundin Irina mit einem Küchenmesser zerstückelt, weil er damit sein Glück verteidigen will. Wie weit würdest du gehen, um dein persönliches Glück zu verteidigen?
VK: Das kann ich jetzt nicht sagen, das kommt darauf an, was das Leben von mir verlangt. Aber sehr weit. Ich würde fast sagen, da gibt es keine Grenzen. Wenn jemand meine Lieben bedroht, dann gehe ich dagegen an mit allem, was in meiner Macht steht.

NO: In welchen Punkten seid Kalle und du euch noch ähnlich?
VK: Ich fand seine Frisur super! Wenn ich mit den Fingern schnipsen könnte und ich hätte sie, dann würde ich sie wahrscheinlich eine Weile tragen. Das war eine tolle Perücke. Und er hat einen tollen Hund, der Kalle. Der hat mich sehr an den Hund, den ich früher mal hatte, erinnert. Aber eine richtige Gemeinsamkeit – bis auf die, dass er eben bereit ist, für seine Liebe zu kämpfen -, gibt es nicht.

NO: Im Film sagst du als Kalle zu Irina, als sie auf einer Schaukel sitzt: “Glück ist der Moment, wo du ganz oben bist, alles stehenbleibt, und alles ist gut”.
VK: Ja, der “Wuppdich”.

NO: Genau, der “Wuppdich”. Wann hast du denn privat das letzte Mal geschaukelt?
VK: Das ist noch gar nicht so lange her, ich glaube, erst zwei Wochen. Den “Wuppdich” kenne ich erst seit dem Film, vorher kannte ich das Wort nicht. Den Moment kannte ich schon. Er hatte für mich nicht die Glücksbedeutung, aber ich mag das. Das ist auch im Flugzeug so, wenn es Turbulenzen gibt, und es macht kurz “Huu”. Ich mag diese Sachen, finde ich super.

NO: Laut deiner Biographie wolltest du erst gar kein Schauspieler werden. Warum macht der Beruf dir jetzt doch Spaß?
VK: Ich habe nie geplant, Schauspieler zu werden. Und ich habe es nie abgelehnt, einer zu sein. Als man mich das erste Mal gefragt hat, ob ich das machen möchte, wäre das damals damit verbunden gewesen, die Schule abzubrechen und nach Köln zu ziehen und dort auf eine neue Schule zu gehen, also mein Umfeld zu verlassen. Und das wollte ich damals nicht. Da habe ich es dann gelassen. Erst später, als ich fertig war, habe ich das versucht. Aber es ging nicht darum, dass ich den Beruf abgelehnt habe. Das hatte nur mit der Lebenssituation zu tun.

NO: Im Film geht es um Irina und Kalle, die beide sehr einsam in der Großstadt Berlin leben. Du bist eher ländlich aufgewachsen, hättest du dir damals vorstellen können, diese Rolle zu spielen?
VK: Ich habe wie gesagt nie darüber nachgedacht, Filmschauspieler zu werden. Als ich mich für mein erstes Casting vorbereitet habe, habe ich noch bei meinen Eltern gewohnt. Aber in meiner Anfangsphase als Schauspieler habe ich mir das schon vorstellen können. Ich habe lange davon geträumt, so eine Rolle spielen zu dürfen – wenn man genau will 15 Jahre, also von Beginn an. Diese Rolle war ein richtiger Glücksfall.

NO: Was hat dich besonders daran gereizt?
VK: Ich mag das, wenn man komplett etwas spielt, was mit einem selbst überhaupt nichts zu tun hat und das dann auch noch etwas ist, was cool ist, was Spaß macht. In diesem Falle machte es Spaß, diese Verkleidung anzulegen und so richtig in diese Rolle reinzugehen. Wie Kalle würde ich mich niemals kleiden oder optisch geben wollen: Die Frisur ist eine Sache, aber mit den Piercings… Das war auf jeden Fall ein Reiz daran.

Ich habe (in dem Film) auch Bettelszenen – die haben wir mit versteckter Kamera gedreht. Ich bin in die Fußgängerzone gegangen und habe geschnorrt. Dass das funktioniert hat, ist ein Beweis dafür, dass ich das gut verkörpern konnte und auch ein Kompliment an die Maske und ans Kostüm. Ich habe übrigens dort gewohnt, wo wir gedreht haben. Manchmal kam einer vorbei, der mich kannte, und fragte “Was machst du denn da?” Und ich sagte: “Geh weg, wir drehen hier ‘nen Film!” (lacht). Dass die Leute mir das abgenommen haben, das ist echt interessant – und ich habe teilweise in einer halben Stunde 15 Euro eingenommen und für den Hund mehrere Würste und was die Leute dann da anschleppen! Diese Rolle war ein großer Reiz.

NO: Der Film “Der Baader Meinhof Komplex” aus dem Jahr 2008 gilt als dein Durchbruch. Wie würdest du selbst “Glück” nun für dich sehen?
VK: Ich bewerte meine Filme nicht so: Das war der Durchbruch und das ist der Moment, wo ich den Knoten festziehe. Der Durchbruch ist für mich nicht spürbar. Also es ist nicht der Fall, dass ich auf der Straße nicht mehr laufen kann, weil mich die ganze Welt erkennt, oder dass ich nicht mehr weiß, wohin mit meinem Geld. Damals ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen: Ich war ein sehr großer Bewunderer und Fan von (dem Filmproduzenten) Bernd Eichinger. Und ich habe diesen Film mit ihm drehen können. Das war für mich das Tolle daran. Der Film hat mir viele Türen geöffnet, “Glück” hat das jetzt auf jeden Fall noch mal bekräftigt.

NO: In was für Rollen werden wir dich in Zukunft sehen?
VK: Ich habe gerade einen Film gedreht, in dem es um eine Neuauflage von Robin Hood geht, wo sich jemand in der Zukunft mit den Banken anlegt und die Position eines Robin Hoods übernimmt. Das wird demnächst kommen. Ansonsten hoffe ich, viele tolle Filme, die mir Spaß machen, zu drehen, die hinterher auch ihr Publikum finden und den Leuten wiederum Spaß machen. Vielleicht komme ich mal wieder, würde mich jedenfalls freuen (lacht).

NO: Vielen Dank für das Gespräch.
VK: Danke dir!

Bafici-Nachlese: Jessica Krummachers “Totem”

Die Darstellung spießbürgerlichen Horrors der deutschen Nachwuchsregisseurin lief auf dem 14. Festival des Unabhängigen Films in Buenos Aires

Von Mirka Borchardt

Nach dem Film ist der Saal einige Sekunden totenstill, nur zögerlich setzt der Applaus ein. Bei der Vorführung in Wien, auf der Viennale, gab es einige Lacher im Publikum, hier beim Bafici in Buenos Aires nicht. Die Zuschauer wirken eher ein bisschen erschlagen, und zugegeben: Der Film ist keine leichte Kost.

Die Rede ist von “Totem”, dem Erstlingswerk der deutschen Nachwuchsregisseurin Jessica Krummacher. Darin geht es um ein junges Mädchen, die als Hausmädchen zu einer Familie aus dem Ruhrgebiet kommt und, so sagt es die Pressemappe, “dessen Alltag mit dem Erscheinen eines fremden Menschen aus den Fugen gerät”. “Der Name ‘Totem'”, sagt Krummacher im Telefoninterview, “hat etwas mit Schutzgeistern zu tun. Und auch, dass das deutsche Wort ‘tot’ darin enthalten ist, gefiel mir daran.”

Bei der Biennale in Venedig wurde der Streifen als Horrorfilm vorgestellt. Eine nicht greifbare Bedrohung begleitet den gesamten Film, keine Szene, die Erleichterung schaffen würde. Der Horror einer ganz normalen, kleinbürgerlichen Familie aus dem Ruhrpott, im Einfamilienhaus mit Kaninchen im Garten, einem Hund aus Plastik und zwei täuschend echt ausschauenden Babypuppen, die sowohl Mutter Claudia als auch Fiona, das Hausmädchen, behandeln, als seien sie echt. Ohne dass der Zuschauer entschlüsseln könnte, warum – der Film bietet keine simplen psychologischen Erklärungsmuster. Insofern ist er kafkaesk, die Motive der Handelnden bleiben unerklärt und unerklärlich. Warum behauptet Fiona, sie habe keine Eltern mehr, und erzählt ihrer Mutter später am Telefon, es gehe ihr gut? Wieso bricht Claudia von einem Moment auf den anderen in Tränen aus? Welche Rolle spielt die merkwürdige Nachbarin, die an den seltsamsten Orten auftaucht?

Man kann den Film aber auch anders lesen, politisch, wenn man so will: Als Film über Herrschaftsverhältnisse. “Wo bekommt man sowas?”, werden die Eltern an Fionas erstem Tag in der neuen Familie gefragt. “Aus dem Internet”, so die lakonische Antwort. Fiona wird mehr und mehr zum Blitzableiter für all die aufgestauten Aggressionen innerhalb der Familie: die Mutter schlägt sie aus Wut über die Zurückweisung durch ihren Ehemann, der wiederum vergewaltigt sie fast. Und dann wieder gibt es Momente, in denen Nähe geteilt wird, in denen Fiona gebraucht wird, so scheint es, wie ein Kuscheltier – oder eine dritte Puppe.

“Es geht auf jeden Fall auch um Herrschaftsverhältnisse”, sagt Jessica Krummacher, “aber ich finde es wichtig, dass jeder den Film für sich liest. Herrschaftsverhältnisse, ja, aber in Fiona habe ich andererseits eine Figur ausgewählt, die sich von den Herrschaftsstrukturen nicht so sehr beeindrucken lässt.”

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Bafici-Nachlese: Andreas Dresen über seinen Film “Halt auf freier Strecke”

Kurz bevor er mit seinem Krebsdrama die wichtigsten deutschen Filmpreise 2012 abräumte, sprach Erfolgsregisseur Dresen im Rahmen des Bafici in Buenos Aires über das Filmemachen

Von Mirka Borchardt

Einen seiner ersten Preise gewann Andreas Dresen in Argentinien. 1985 wurde sein Kurzfilm “Der kleine Clown” beim Filmfestival in Mar de Plata ausgezeichnet, doch damals durfte er den Preis nicht persönlich entgegennehmen: die Mauer stand noch. Erst 21 Jahre und eine ganze Filmkarriere später kam er her: 2006 war er mit seinem Erfolgsfilm “Sommer vorm Balkon” beim Bafici (Festival des Unabhängigen Films Buenos Aires) dabei. Dieses Jahr ist er zum zweiten Mal da, eingeladen zum Nachwuchsförderungsprogramm Talent Campus, das – unterstützt vom Goethe-Institut – von der Berlinale organisiert wird und mittlerweile in fünf weiteren Städten der Welt Ableger hat. Aus ganz Lateinamerika wurden junge Nachwuchstalente aus der Filmbranche nach Buenos Aires eingeladen, um vier Tage lang zu diskutieren, zu “networken” und erfahrene Filmemacher kennenzulernen. Zum Beispiel Andreas Dresen.

2006, erzählt der, sei er tagelang durch die Stadt gelaufen. Dieses Mal dauerte es keine zehn Minuten, da war er ausgeraubt: der alte Trick mit der Flüssigkeit auf der Schulter und dem hilfsbereiten Dieb. Es sei komplizierter geworden, die Kontraste insbesondere in Buenos Aires seien härter geworden, meint er; es gebe mehr Kriminalität, “und das ist ja immer ein Zeichen dafür, dass es Menschen sehr schlecht geht”.

Offensichtlich hat sich der Regisseur gut erholt von dem Zwischenfall, er ist guter Dinge, während er im Café der Filmhochschule der “Universidad del Cine” in San Telmo sitzt und über den Einfluss des Herkunftslandes auf das eigene Schaffen redet. Das Café im überdachten Patio des schönen alten Gebäudes ist seltsam ruhig, die Talent Campus-Teilnehmer schauen sich gerade nebenan im Vorführungsraum “Halt auf freier Strecke” an, Dresens neuestes Werk. “Was mich am argentinischen Kino interessiert, ist die Aufarbeitung der Militärdiktatur, das hat sicher auch mit meiner DDR-Herkunft zu tun”, sagt er. “Gerade Zeiten, in denen der Verrat so nahe liegt, sind interessant für das Kino.”

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Malerei als Versuchsanordnung

Gerhard Richters große Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin

Von Nicole Büsing und Heiko Klaas


Titan, Olympionik, Ausnahmekünstler, Picasso des 21. Jahrhunderts, Malergenie, wichtigster deutscher Künstler der Gegenwart. Die nationale und internationale Presse überschlagen sich in diesen Tagen mit immer neuen Etiketten und Lobpreisungen für den Kölner Maler Gerhard Richter, der am 9. Februar seinen 80. Geburtstag feierte und noch bis zum 13. Mai mit einer großen Retrospektive in der Berliner Neuen Nationalgalerie geehrt wird. Die Ausstellung “Panorama” versammelt 130 Gemälde und fünf Skulpturen aus fünf Jahrzehnten seines Schaffens. Darunter berühmte Bilder wie das auf der letzten Documenta gezeigte Porträt seiner Tochter “Betty” und sein wohl populärstes Werk, die 1988 entstandene “Kerze”.

Richter selbst kann mit all den Ehrungen und Attributen eigentlich nur wenig anfangen. Und auch die astronomischen Preise, für die seine Bilder heute verkauft und versteigert werden, empfindet er längst als “absurd”. Worum es ihm eigentlich geht, das hat er in den wenigen längeren Interviews, auf die er sich überhaupt eingelassen hat, immer wieder betont. Zum Beispiel im Frühjahr 2011 gegenüber Sir Nicholas Serota, dem Direktor der Londoner Tate Gallery: “Das Malen ist mein Beruf, weil ich die meiste Lust dazu hatte und habe.” Und weiter: “Der Versuch, der Unfähigkeit und dem Elend eine Form zu geben, also ein Bild davon zu machen.” Richter, das wurde auch auf der Pressekonferenz zu seiner Berliner Ausstellung deutlich, liebt einfache, klare Sätze wie diese. Mögen andere in seine Bilder hineininterpretieren, was sie wollen, für ihn sind sie “ein Mittel von vielen, diese Welt zu überstehen, genau wie Brot und Liebe”. Anders als öffentlichkeitsaffine Malerfürsten wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz oder der verstorbene Jörg Immendorff hat Richter sein Tun immer wieder kritisch reflektiert und in Frage gestellt. Für ihn, den zurückgezogen arbeitenden Zweifler, ist sein künstlerisches Handeln der “Versuch, die Möglichkeit zu erproben, was Malerei überhaupt noch kann und darf”.

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In memoriam Marcelo Mayorga

Einer der besten Zeichner Argentiniens ist am 8. März in Buenos Aires verstorben

Von Susanne Franz

Der Künstler Marcelo Mayorga bediente sich zweier Techniken der Zeichenkunst – der Tusch- und (seit 1987) der Bleistiftzeichnung. Seine Arbeitsweise glich der von Paul Klee beschriebenen “Reise ins Land der besseren Erkenntnis”, wobei nach Anlegen des “topographischen Planes” für sein Werk durch das Hinzukommen genial erzielter Licht- und Schattenwirkung in seiner Schwarz-Weiß-Welt und die persönliche Thematik ein Mayorga entstand. Denn die Reise der wahren Künstler ähnelt sich, doch die Ankunft ist so verschieden wie der individuelle Punkt des Aufbruchs.

Marcelo Mayorgas Thematik lebte von den ihn umgebenden Eindrücken. Er zeichnete oftmals ein idyllisches Buenos Aires seiner Kindheitserinnerungen: Das Wiederfinden “verlorener Momente” der Kindheit macht den Menschen erst komplett. Seine Serie “Guerra Lejana” befasste sich mit dem Malwinenkrieg von 1982 oder vielmehr mit dem Gefühl, das dieser “weit entfernte” und doch unmittelbar bedrohende Krieg bei der bonaerenser Bevölkerung auslöste. Die Metamorphose der Flotte in einem grauen Meer, das vom Land kaum zu unterscheiden ist, symbolisiert auch den Schritt Argentiniens von der Kindheit zur Jugend – der Demokratie.

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Überschreiter unsichtbarer Grenzen

Ulrich Ludat, ein Saarbrücker Künstler, weilt zur Künstlerresidenz in Buenos Aires

Von Sebastian Loschert


Seit Mitte Januar streift der in Saarbrücken lebende Künstler Ulrich Ludat durch Buenos Aires. Möglich, dass der ein oder andere Leser schon auf ihn aufmerksam geworden ist. Auf ihn und seine “urbane Umherirrerei”, wie er seine künstlerische Praxis manchmal nennt, beim Fotografieren in der Straße, bei Audioaufnahmen in einer Zugstation, beim Horchen und Beobachten im Zentrum oder in den Barrios der Stadt. Rund 300 Kilometer Asphalt dürfte er in den vergangenen Wochen schon hinter sich gebracht haben, schätzt Ludat – größtenteils zu Fuß.

An dem Schnellimbiss-Tisch vor dem Bahnhof San Martín hasten die Passanten vorbei, Touristen drücken ihre Taschen enger an den Körper. Außer Ludat sitzen an diesem stark frequentierten Platz keine Europäer – nur einen Steinwurf von der Armensiedlung Villa 31 entfernt ist das den meisten zu riskant. Begeistert erzählt Ludat an dem weißen Plastiktisch, Buenos Aires biete ihm die idealen Bedingungen für seine künstlerische Arbeit, für sein urbanes Explorationsprojekt “orte.lieux.places.lugares”. Sicherlich wegen des bekanntermaßen großen Kulturangebots in dieser Stadt? Oder wegen der Unterstützung durch die Künstlerresidenz, zu der er eingeladen wurde? Weit gefehlt: “Ideal ist, dass ich die Stadt überhaupt nicht kannte und keinerlei Zeit hatte, mich auf den Aufenthalt vorzubereiten.” Ohne Vorkenntnisse will Ludat die Stadt erspüren, physisch in sich aufnehmen, sie “inkorporieren”. Nur mit Kamera und Aufnahmegerät ausgerüstet, zu Fuß oder in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Der Polizist im Polizeicontainer am Eingang der Villa 31 blickt ungläubig. Sichtlich irritiert fragt er mehrmals nach: Ob man unbedingt da rein müsse, ob man dort denn jemanden kenne, ob man nicht besser mit dem Bus die Villa Miseria umfahren wolle. Er reiht sich damit in einen warnenden Chor ein, der aus der Millionenstadt aufsteigt und zu verstehen gibt: “Für Fremde kein Zutritt. No-go-Area.” Trotzdem ist und bleibt das Ziel von Ulrich Ludat die Kapelle des 1974 ermordeten Padre Mugica am anderen Ende des über 20.000 Einwohner zählenden Elendsviertels. Wir gehen die staubige, schmale Hauptstraße entlang, an deren Rändern sich buntbemalte und unverputzte Häuschen aneinanderreihen. “Außerhalb der Villa 31 weiß kaum einer, wo die Kapelle mit dem Grab Mugicas liegt, hier drinnen jeder. Offiziell gibt es keine Straßennamen, hier drinnen sehr wohl. Es sind zwei getrennte Welten”, bemerkt Ludat. “Genau deswegen bin ich hier: Um solche unsichtbaren, aber spürbaren Grenzen in der Stadt zu erfühlen.” Angesichts der “Überlebenskunst” der Villa-Bewohner bewundert er: “Bei allen Problemen gibt es hier jede Menge Ästhetik und starke Schönheit. Mit einem Schandfleck hat das jedenfalls nichts zu tun.”

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Die Starre vor der Auflösung

Die zwischen 1977 und 1990 entstandenen Aufnahmen der ostdeutschen Fotografin Gundula Schulze Eldowy zeigen die DDR als Land der verhärteten Emotionen

Von Nicole Büsing und Heiko Klaas


Manchmal gehört viel Mut dazu, unbekannte Türen aufzustoßen und sich auf die Menschen dahinter einzulassen. Die 1954 in Erfurt geborene ostdeutsche Fotografin Gundula Schulze Eldowy hat diesen Mut immer wieder aufgebracht. 13 Jahre lang, zwischen 1972 und 1985, lebte sie in der historischen Mitte Berlins im Schatten der Volksbühne und streifte mit ihrer Kamera durch das angrenzende Scheunenviertel. Dort, wo sich nach der Wende Cafés, Bars, Restaurants, Galerien, Hotels und Boutiquen angesiedelt haben, da wo heute Bauträger und Makler die Immobilienpreise ins Astronomische treiben, befand sich damals das Berlin der kleinen Leute.

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Vom Kriegerischen über das Poetische zum Schönen

Die Ausstellung “Bellico” des argentinischen Künstlers Martín Bonadeo

Von Maike Pricelius

Über den Stufen zum Eingangsbereich des “Espacio Fundación Telefónica”, passend zum Ort, hängt ein “Langohr”. So jedenfalls könnte man den Titel “Largaoídos” der Intervention von Martín Bonadeo ins Deutsche übersetzen. Ein 3,20 m langes, metallenes Horn ist unter der Decke angebracht, an dessen Ende ein Kopfhörer baumelt, den der Besucher aufsetzt, noch bevor er die Ausstellung wirklich betreten hat. Das offene Ende ist auf den gegenüberliegenden Park gerichtet und verstärkt die Geräusche, die aus dem öffentlichen Raum in den Zwischenbereich des Eingangs fallen. Die Parkbesucher, Spaziergänger mit Hunden, alle ziehen sonst meist ungehört vorbei. Der Apparat aber, der für das Hören von Flugzeugen entwickelt wurde, überträgt die Stimmen und Geräusche bis auf die andere Straßenseite, bis zur Ausstellung “Bellico”. So eingestimmt, nach angestrengtem Hören ganz Ohr, betritt der Besucher den Ausstellungsraum.

Der Titel “Bellico” setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die die zwei Achsen, welche die Ausstellung durchziehen, widerspiegeln. Alexander Graham Bell meldete 1876 das Patent für das Telefon an. Sein Name steht damit für die Möglichkeit der Kommunikation in Echtzeit über große Distanzen hinweg. Der zweite Teil des Titels steht für “bélico”, kriegerisch. Aber ist die Kommunikation nicht die Antithese zum Krieg? In den Installationen und Interventionen im “Espacio Fundación Telefónica” kommen diese beiden auf den ersten Blick disparaten Konzepte zusammen. Verschiedene Konnotationen des Begriffes “Krieg” werden in den Kunstwerken beleuchtet, von der Entwicklung der ersten Kommunikationsapparate, wie Walkie Talkies, für die Kriegsindustrie, bis hin zum alltäglichen Kampf mit sich selbst, welcher die Anforderung, jederzeit und überall erreichbar zu sein, auslöst. Die Wissenschaft, das System, die Welt zu erklären, und die Entwicklung der Technik, sowie ihre Effekte auf unser Leben, bilden den Ausgangspunkt für die Überlegungen des Künstlers.

Eine Sinfonie der Telefone begegnet dem Besucher (Telemonólogos), sobald er die Eingangstür durchschritten hat. 150 Telefonhörer hängen an ihren Kabeln von der Decke und laden dazu ein, sich unter sie zu mischen und ihrem Sound zu lauschen. Unterschiedliche Aufnahmen, von Anrufen auf Faxgeräte, Besetztzeichen, bis zu Falsch-Verbunden-Ansagen lassen sich immer wieder neu kombinieren, je nachdem, wo man sich gerade aufhält und nach welchen Hörern man greift und sich an die beiden Ohren hält.

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Wo die Farbe passiert

Das Malba feiert sein 10-jähriges Jubiläum mit der ersten Retrospektive des venezolanischen Künstlers Carlos Cruz-Diez (*1923) auf dem lateinamerikanischen Kontinent

Von Maike Pricelius

“Ich wünsche mir, dass meine Arbeit das gleiche Wohlgefallen auslöst,
welches die Malerei bisher produziert hat, allerdings ohne Malerei zu sein.”
(Carlos Cruz-Diez)

Das zentrale Thema der Ausstellung ist die Farbe. Keine bestimmte Farbe, wie das Grau bei Gerhard Richter oder das Blau von Yves Klein, sondern die Farbe an sich als eine autonome, lebendige Erfahrung, die der Besucher bei seinem Gang durch die Ausstellung macht, losgelöst vom herkömmlichen Bildträger.

Licht fällt durch die Glaswand des Museums im zweiten Stock des Malba, in dem die Ausstellung beginnt. Vor den Fenstern hängen bunte Plexiglasscheiben übereinander, hintereinander, im rechten Winkel zueinander, sich gegenseitig überlagernd. Gleich als erstes, wenn man die Rolltreppe verlässt, wird der Blick von diesem frühen Environment “Transcromía ambiental”, 1965-2010 von Cruz-Diez angezogen. Fast jeder bleibt stehen, geht zurück, blickt zwischen die Plexiglasscheiben. Welche Farben haben diese nun? Das hängt, wie so oft, vom Standpunkt des Betrachters ab. Gelb, Rot, Grün, Blau, Organe, Pink, Lila. An den Stellen, an denen das Licht durch verschiedene der transparenten Plexiglasscheiben fällt, entstehen neue Farben, die sich durch die eigene Bewegung im Raum ständig verändern. Die Farbe wird nicht als feststehend erfahren, sondern als lebendige, relative Einheit, abhängig vom jeweiligen Betrachter, dem Licht und dem Raum.

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Porträt einer Wahrnehmung

Der Schweizer Regisseur Ramòn Giger zu seinem Film “Eine ruhige Jacke”, der im Rahmen von DocBuenosAires lief

Von Laura Wagener

Wie beziehungsfähig ist ein Mensch, wie nimmt ein Mensch emotional Anteil, der seinem Krankheitsbild entsprechend durch das Fehlen des kommunikativen Mediums Sprache und der Fähigkeit zur Reizselektion in seiner eigenen, nach außen weitgehend isolierten Welt lebt? Der Schweizer Regisseur und Kameramann Ramòn Giger (Foto) führt den Zuschauer mit einem Zitat des österreichischen Psychoanalytikers Leo Kanner, der sich als erster Wissenschaftler mit Autismus auseinandersetzte, in das Kernthema seines ersten Dokumentarfilms “Eine ruhige Jacke” ein: “Wir müssen also annehmen, dass diese Kinder mit einer angeborenen Unfähigkeit zur Welt gekommen sind, normale und biologisch vorgesehene affektive Kontakte mit anderen Menschen herzustellen.”

Die Idee zu dem Film kam dem 28-jährigen Giger während des Ableistens seines Zivildienstes in einer Betreuungsstelle für Menschen mit Behinderungen, wo er die beiden zukünftigen Protagonisten, den autistischen Roman und dessen Betreuer Xaver kennenlernte.

Ein halbes Jahr begleitete er Roman in seinem Alltag und in der Interaktion mit seinem Betreuer. Der junge Mann wird jedoch nicht nur passiv gefilmt, sondern die besondere Intimität des Films entsteht vor allem durch die von dem Autisten selbst mit einer Handkamera gefilmten Sequenzen. Diese Einblicke in die Wahrnehmung Romans sind besonders kostbar, da er nicht spricht. Obwohl er sich mit Hilfe einer Kommunikationstafel in überraschender Komplexität ausdrücken kann, belaufen sich seine direkten Äußerungen auf brummende Laute, Schreie oder diffuse Töne.

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